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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zweierlei Zeitenwende

Ein paar Mona­te vor sei­nem Tod schrieb Johann Wolf­gang Goe­the einen Brief an Wil­helm von Hum­boldt (17. März 1832). Dar­in stell­te er fest: »Ver­wir­ren­de Leh­re zu ver­wirr­tem Han­del wal­tet über die Welt.« Wie wahr, könn­te man dazu heu­te aus­ru­fen. Denn, »was ihr den Geist der Zei­ten heißt, das ist im Grund der Her­ren eig­ner Geist, In dem die Zei­ten sich bespie­geln« (Faust).

Kei­ne neun Mona­te nach der Kuba-Kri­se im Okto­ber 1962 und kei­ne sechs Mona­te vor sei­ner Ermor­dung im Novem­ber 1963 hielt der US-Prä­si­dent John F. Ken­ne­dy am 10. Juni 1963 an der Uni­ver­si­tät von Washing­ton D.C. eine berühm­te Rede. Dar­in for­der­te er unter ande­rem: »Vor allem müs­sen Atom­mäch­te, bei ste­ter Ver­tei­di­gung der eige­nen Lebens­in­ter­es­sen, sol­che Kon­fron­ta­tio­nen ver­mei­den, die einem Geg­ner nur die Wahl eines demü­ti­gen­den Rück­zugs oder eines Atom­krie­ges lassen.«

Gegen die­se simp­le Erkennt­nis wird im Moment offen­bar von Sei­ten der Regie­run­gen in Washing­ton, Lon­don, Paris und Ber­lin in gefähr­li­cher Wei­se ver­sto­ßen, wenn allen Ern­stes der für Russ­land min­de­stens »demü­ti­gen­de Rück­zug« aus dem mehr­heit­lich pro-rus­si­schen Don­bass und der tra­di­tio­nell rus­si­schen Krim gefor­dert, geplant und vor­an­ge­trie­ben wird. Statt auch nur die gering­sten Vor­schlä­ge für Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen ein­zu­brin­gen, ver­langt die deut­sche Außen­mi­ni­ste­rin, den rus­si­schen Prä­si­den­ten vor Gericht zu stel­len; der US-Prä­si­dent for­dert offen einen Regime-Chan­ge, und so man­ches Bou­le­vard­blatt erei­fert sich in Mord- und Anschlags­fan­ta­sien gegen den Staats-Chef der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on (BILD.de, 6.12.2022: https://www.bild.de/bild-plus/politik/ausland/politik-ausland/kreml-diktator-besucht-krim-bruecke-haette-die-ukraine-putin-hier-toeten-koennen-82160836.bild.html).

Wo bzw. wann hört das auf? Wol­len die media­len, poli­ti­schen und wis­sen­schaft­li­chen Prot­ago­ni­sten ernst­haft aus­te­sten, was pas­siert, wenn man einen Geg­ner vor die »Wahl eines demü­ti­gen­den Rück­zugs oder eines Atom­krie­ges« stellt? Sind sie sich ihrer Ver­ant­wor­tung für das Leben von Mil­lio­nen von Men­schen bewusst?

Da die Bun­des­re­gie­rung beschlos­sen hat, dass es nach dem zwei­ten Welt­krieg 1945 bis zur »Zei­ten­wen­de« am 24. Febru­ar 2022 kei­ne völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krie­ge gege­ben hat, seit­dem jedoch »rus­si­schen Impe­ria­lis­mus« in Hül­le und Fül­le, grei­fen sich von Bra­si­li­en über Süd­afri­ka bis Indi­en Mil­li­ar­den Men­schen im sog. glo­ba­len Süden an den Kopf. Sie wol­len ein­fach nicht ver­ste­hen, dass deut­sche Bück­lin­ge in Katar oder Schleim­spu­ren in Sau­di-Ara­bi­en und Aser­bai­dschan Höhe­punk­te »wer­te­ba­sier­ter«, ja »femi­ni­sti­scher Außen­po­li­tik« dar­stel­len. Selbst die offen­sicht­lich ver­blen­de­te deut­sche Bevöl­ke­rung neigt immer noch mehr­heit­lich dazu, den sau­di-ara­bi­schen Ver­nich­tungs­krieg im Jemen mit an die 400.000 Toten (davon ca. 80.000 Kin­der) als einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg zu betrach­ten. Durch die­sen Irr­tum glau­ben man­che gar, dass Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Mör­der der jeme­ni­ti­schen Zivil­be­völ­ke­rung als Bei­hil­fe und Kom­pli­zen­schaft gewer­tet wer­den könn­ten. Das ist natür­lich alles Quatsch: Rich­tig dage­gen ist im »Zeitenwende«-Zeitalter, dass deutsch-euro­päi­sche Rüstungs­pro­jek­te für Sau­di-Ara­bi­en gar kei­ne direk­ten Waf­fen­lie­fe­run­gen impli­zie­ren und dass alte Ver­trä­ge ein­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Und außer­dem schüt­zen genau die­se Maß­nah­men vor Sozi­al­ab­bau und Kin­der­ar­mut. Eine sol­che Argu­men­ta­ti­on, wel­che die Bei­hil­fe zum Krieg mit­tels Waf­fen­lie­fe­run­gen mit der Bekämp­fung von Kin­der­ar­mut ver­bin­det, ist eine bemer­kens­wer­te Lei­stung der Bundesaußenministerin.

Wie der Wunsch Vater des Gedan­kens wer­den kann, zeigt auch die fol­gen­de Zeit-Dia­gno­se: »Wir wer­den gera­de Zeu­gen der Des­in­te­gra­ti­on des rus­si­schen Impe­ri­ums, des post­so­wje­ti­schen Raums. Die­ser Pro­zess hat nicht 1991 statt­ge­fun­den, son­dern erfolgt jetzt.« Der das im Inter­view mit dem SPIEGEL vom 31. Dezem­ber 2022 von sich gibt, ist Ste­fan Mei­ster. Er war bis 2021 noch für die Grü­nen-nahe Hein­rich-Böll-Stif­tung in Geor­gi­en und ist nun Lei­ter des Pro­gramms »Inter­na­tio­na­le Ord­nung und Demo­kra­tie« der Deut­schen Gesell­schaft für Aus­wär­ti­ge Poli­tik (DGAP) in Ber­lin. Mei­sters Ziel ist die rest­lo­se Ver­ab­schie­dung der ehe­ma­li­gen Ost­po­li­tik. Er dia­gno­sti­ziert: »Vor unse­ren Augen voll­zieht sich der Zer­fall des rus­si­schen Impe­ri­ums. Mos­kau kann kei­ne Sta­bi­li­tät mehr schaf­fen, nicht in Zen­tral­asi­en, nicht im Süd­kau­ka­sus. Und wir haben kei­ne Ahnung, wie wir als Deutsch­land und EU dar­auf mit­tel- bis lang­fri­stig reagie­ren wol­len.« Unter der SPIEGEL-Über­schrift »Regime-Chan­ge (in Mos­kau!, M.K.) muss Ziel deut­scher Poli­tik sein«, fasst er sei­ne Vor­stel­lun­gen schließ­lich zusam­men. Ob er und die­je­ni­gen, deren Inter­es­sen er ver­tritt, sich damit nicht ein wenig über­neh­men dürf­ten, wird sich zeigen.

Eine etwas selbst­kri­ti­sche­re Epo­chen­be­stim­mung lässt sich bei den Klas­si­kern fin­den: »Von hier und heu­te geht eine neue Epo­che der Welt­ge­schich­te aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewe­sen« – schrieb Johann Wolf­gang Goe­the über die soge­nann­te Kano­na­de von Val­my im Jah­re 1792, in der das revo­lu­tio­nä­re Frank­reich das preu­ßisch-öster­rei­chi­sche Inva­si­ons­heer zurück­schlug. Goe­thes Dia­gno­se galt wohl­ge­merkt dem bevor­ste­hen­den Unter­gang der eige­nen, bis­he­ri­gen Ord­nung – näm­lich der Feu­dal­ord­nung gegen eine bür­ger­li­che Volks­ar­mee. Der bis­wei­len unter Amne­sie lei­den­de Bun­des­kanz­ler hat womög­lich eine wirk­li­che »Zei­ten­wen­de« erspürt, jedoch äußerst ver­zerrt wahr­ge­nom­men und interpretiert.

Der­weil kön­nen der World Risk Report 2023 des Welt­wirt­schafts­fo­rums in Davos (WEF) und der Munich Secu­ri­ty Report 2023 der Mün­che­ner Nato-»Sicherheitskonferenz« als Aus­druck der Kri­sen­wahr­neh­mun­gen durch die poli­ti­schen, öko­no­mi­schen und mili­tä­ri­schen Eli­ten des Westens ange­se­hen wer­den. In ihnen wird – manch­mal sogar expli­zit und oft impli­zit – sicht­bar, dass die Hege­mo­nie der west­li­chen Welt­ord­nung schlicht nicht mehr gege­ben ist. Egal, wel­ches öko­no­mi­sche, poli­ti­sche oder mili­tä­ri­sche Kon­flikt­feld her­an­ge­zo­gen wird (Ukrai­ne-Krieg, Russ­land-Bezie­hun­gen, OPEC-Öl-Poli­tik, Dol­lar-Dog­ma, Frei­han­del und Pro­tek­tio­nis­mus etc.): »Der Westen« spricht nicht (mehr?) für die Mehr­heit der Staa­ten­welt und schon lan­ge nicht (mehr?) für die Mehr­heit der Mensch­heit. Und er bekommt sie auch nicht mehr alle unter sei­nen Hut. Selbst inner­halb des Nato-Westens gibt es gro­ße Spal­tungs­li­ni­en (s. US-Pro­tek­tio­nis­mus auf Kosten Euro­pas). Zwar sind die Hybris und die Arro­ganz der Macht wei­ter­hin vor­han­den, doch die Welt-Herr­schen­den (bzw. ihre poli­ti­schen Ver­wal­ter) kön­nen irgend­wie nicht mehr so, wie sie wol­len, und die Mehr­heit der Beherrsch­ten v.a. im glo­ba­len Süden will nicht mehr so, wie sie sollen.

Viel­leicht hat das Jahr 2022 also mit der Eska­la­ti­on des (Stellvertreter-)Kriegs in der Ukrai­ne und dem Welt-Wirt­schafts­krieg gegen Russ­land tat­säch­lich eine »Zei­ten­wen­de« ein­ge­läu­tet. Ent­ge­gen den Vor­stel­lun­gen von Mei­ster und Scholz könn­te es in die Welt­ge­schich­te ein­ge­hen als sicht­bar­ster Aus­druck des Beginns der Ver­west­li­chungs-Kri­se, der »De-Wester­ni­sa­ti­on«, der De-Dol­la­ri­sie­rung des Welt­han­dels und der Ent-Ame­ri­ka­ni­sie­rung des Welt-Kapi­ta­lis­mus, kurz: der begin­nen­den Durch­set­zung von Plu­ri­po­la­ri­tät der Welt. Da Herr­schafts­ord­nun­gen – geschwei­ge denn Atom­mäch­te – nur sehr sel­ten frei­wil­lig und gewalt­frei abzu­tre­ten geden­ken, dürf­te die­ser Pro­zess ziem­lich blu­tig ablau­fen. Sei­ne Zeitgenoss(inn)en sind – je näher am Schlacht­feld, desto schlim­mer – nicht zu beneiden.