Ein paar Monate vor seinem Tod schrieb Johann Wolfgang Goethe einen Brief an Wilhelm von Humboldt (17. März 1832). Darin stellte er fest: »Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt.« Wie wahr, könnte man dazu heute ausrufen. Denn, »was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln« (Faust).
Keine neun Monate nach der Kuba-Krise im Oktober 1962 und keine sechs Monate vor seiner Ermordung im November 1963 hielt der US-Präsident John F. Kennedy am 10. Juni 1963 an der Universität von Washington D.C. eine berühmte Rede. Darin forderte er unter anderem: »Vor allem müssen Atommächte, bei steter Verteidigung der eigenen Lebensinteressen, solche Konfrontationen vermeiden, die einem Gegner nur die Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkrieges lassen.«
Gegen diese simple Erkenntnis wird im Moment offenbar von Seiten der Regierungen in Washington, London, Paris und Berlin in gefährlicher Weise verstoßen, wenn allen Ernstes der für Russland mindestens »demütigende Rückzug« aus dem mehrheitlich pro-russischen Donbass und der traditionell russischen Krim gefordert, geplant und vorangetrieben wird. Statt auch nur die geringsten Vorschläge für Waffenstillstand und Verhandlungen einzubringen, verlangt die deutsche Außenministerin, den russischen Präsidenten vor Gericht zu stellen; der US-Präsident fordert offen einen Regime-Change, und so manches Boulevardblatt ereifert sich in Mord- und Anschlagsfantasien gegen den Staats-Chef der Russischen Föderation (BILD.de, 6.12.2022: https://www.bild.de/bild-plus/politik/ausland/politik-ausland/kreml-diktator-besucht-krim-bruecke-haette-die-ukraine-putin-hier-toeten-koennen-82160836.bild.html).
Wo bzw. wann hört das auf? Wollen die medialen, politischen und wissenschaftlichen Protagonisten ernsthaft austesten, was passiert, wenn man einen Gegner vor die »Wahl eines demütigenden Rückzugs oder eines Atomkrieges« stellt? Sind sie sich ihrer Verantwortung für das Leben von Millionen von Menschen bewusst?
Da die Bundesregierung beschlossen hat, dass es nach dem zweiten Weltkrieg 1945 bis zur »Zeitenwende« am 24. Februar 2022 keine völkerrechtswidrigen Angriffskriege gegeben hat, seitdem jedoch »russischen Imperialismus« in Hülle und Fülle, greifen sich von Brasilien über Südafrika bis Indien Milliarden Menschen im sog. globalen Süden an den Kopf. Sie wollen einfach nicht verstehen, dass deutsche Bücklinge in Katar oder Schleimspuren in Saudi-Arabien und Aserbaidschan Höhepunkte »wertebasierter«, ja »feministischer Außenpolitik« darstellen. Selbst die offensichtlich verblendete deutsche Bevölkerung neigt immer noch mehrheitlich dazu, den saudi-arabischen Vernichtungskrieg im Jemen mit an die 400.000 Toten (davon ca. 80.000 Kinder) als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu betrachten. Durch diesen Irrtum glauben manche gar, dass Waffenlieferungen an die Mörder der jemenitischen Zivilbevölkerung als Beihilfe und Komplizenschaft gewertet werden könnten. Das ist natürlich alles Quatsch: Richtig dagegen ist im »Zeitenwende«-Zeitalter, dass deutsch-europäische Rüstungsprojekte für Saudi-Arabien gar keine direkten Waffenlieferungen implizieren und dass alte Verträge eingehalten werden müssen. Und außerdem schützen genau diese Maßnahmen vor Sozialabbau und Kinderarmut. Eine solche Argumentation, welche die Beihilfe zum Krieg mittels Waffenlieferungen mit der Bekämpfung von Kinderarmut verbindet, ist eine bemerkenswerte Leistung der Bundesaußenministerin.
Wie der Wunsch Vater des Gedankens werden kann, zeigt auch die folgende Zeit-Diagnose: »Wir werden gerade Zeugen der Desintegration des russischen Imperiums, des postsowjetischen Raums. Dieser Prozess hat nicht 1991 stattgefunden, sondern erfolgt jetzt.« Der das im Interview mit dem SPIEGEL vom 31. Dezember 2022 von sich gibt, ist Stefan Meister. Er war bis 2021 noch für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung in Georgien und ist nun Leiter des Programms »Internationale Ordnung und Demokratie« der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Meisters Ziel ist die restlose Verabschiedung der ehemaligen Ostpolitik. Er diagnostiziert: »Vor unseren Augen vollzieht sich der Zerfall des russischen Imperiums. Moskau kann keine Stabilität mehr schaffen, nicht in Zentralasien, nicht im Südkaukasus. Und wir haben keine Ahnung, wie wir als Deutschland und EU darauf mittel- bis langfristig reagieren wollen.« Unter der SPIEGEL-Überschrift »Regime-Change (in Moskau!, M.K.) muss Ziel deutscher Politik sein«, fasst er seine Vorstellungen schließlich zusammen. Ob er und diejenigen, deren Interessen er vertritt, sich damit nicht ein wenig übernehmen dürften, wird sich zeigen.
Eine etwas selbstkritischere Epochenbestimmung lässt sich bei den Klassikern finden: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen« – schrieb Johann Wolfgang Goethe über die sogenannte Kanonade von Valmy im Jahre 1792, in der das revolutionäre Frankreich das preußisch-österreichische Invasionsheer zurückschlug. Goethes Diagnose galt wohlgemerkt dem bevorstehenden Untergang der eigenen, bisherigen Ordnung – nämlich der Feudalordnung gegen eine bürgerliche Volksarmee. Der bisweilen unter Amnesie leidende Bundeskanzler hat womöglich eine wirkliche »Zeitenwende« erspürt, jedoch äußerst verzerrt wahrgenommen und interpretiert.
Derweil können der World Risk Report 2023 des Weltwirtschaftsforums in Davos (WEF) und der Munich Security Report 2023 der Münchener Nato-»Sicherheitskonferenz« als Ausdruck der Krisenwahrnehmungen durch die politischen, ökonomischen und militärischen Eliten des Westens angesehen werden. In ihnen wird – manchmal sogar explizit und oft implizit – sichtbar, dass die Hegemonie der westlichen Weltordnung schlicht nicht mehr gegeben ist. Egal, welches ökonomische, politische oder militärische Konfliktfeld herangezogen wird (Ukraine-Krieg, Russland-Beziehungen, OPEC-Öl-Politik, Dollar-Dogma, Freihandel und Protektionismus etc.): »Der Westen« spricht nicht (mehr?) für die Mehrheit der Staatenwelt und schon lange nicht (mehr?) für die Mehrheit der Menschheit. Und er bekommt sie auch nicht mehr alle unter seinen Hut. Selbst innerhalb des Nato-Westens gibt es große Spaltungslinien (s. US-Protektionismus auf Kosten Europas). Zwar sind die Hybris und die Arroganz der Macht weiterhin vorhanden, doch die Welt-Herrschenden (bzw. ihre politischen Verwalter) können irgendwie nicht mehr so, wie sie wollen, und die Mehrheit der Beherrschten v.a. im globalen Süden will nicht mehr so, wie sie sollen.
Vielleicht hat das Jahr 2022 also mit der Eskalation des (Stellvertreter-)Kriegs in der Ukraine und dem Welt-Wirtschaftskrieg gegen Russland tatsächlich eine »Zeitenwende« eingeläutet. Entgegen den Vorstellungen von Meister und Scholz könnte es in die Weltgeschichte eingehen als sichtbarster Ausdruck des Beginns der Verwestlichungs-Krise, der »De-Westernisation«, der De-Dollarisierung des Welthandels und der Ent-Amerikanisierung des Welt-Kapitalismus, kurz: der beginnenden Durchsetzung von Pluripolarität der Welt. Da Herrschaftsordnungen – geschweige denn Atommächte – nur sehr selten freiwillig und gewaltfrei abzutreten gedenken, dürfte dieser Prozess ziemlich blutig ablaufen. Seine Zeitgenoss(inn)en sind – je näher am Schlachtfeld, desto schlimmer – nicht zu beneiden.