In diesem in jeder Hinsicht trüben Winter verging kaum ein Tag, an welchem die Agenturen nicht das Ende eines bekannten Menschen meldeten. Die Gewöhnung und die Nähe zu dieser oder jener Persönlichkeit bestimmten das Maß der Betroffenheit oder gar der Bestürzung, welche über kurzzeitiges Innehalten hinausreichte. Ende Januar erreichte mich telefonisch die Nachricht, dass Werner Großmann verstorben sei und ich als sein Verleger das Nötige veranlassen sollte, ich hätte darin ja Übung. (Die Mortalitätsrate der Autoren der edition ost ist leider keineswegs niedrig, weshalb der Anrufer nicht irrte.)
Der ehemalige Generaloberst Werner Großmann war in der Nachfolge von Markus Wolf Chef der Auslandsaufklärung, der letzte der DDR, und in dieser Funktion auch Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit. In wenigen Wochen hätte er in einem Berliner Seniorenheim seinen 93. Geburtstag begangen, nein, nicht gefeiert, das hätte sein Gesundheitszustand gewiss nicht erlaubt. Seinen Neunzigsten hingegen hatten wir in großer Runde gefeiert. In das Hotel unweit des Tierparks waren viele Freunde, Gefährten und auch einstige »Top-Spione« aus dem Westen gekommen, Frauen und Männer, die seinerzeit, als der Frieden wie heute auf der Kippe stand, durch ihre geheimdienstliche Tätigkeit für die Parität der Militärblöcke gesorgt hatten. Mit den – maßgeblich auch von der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) und seinem Chef Großmann besorgten – Informationen aus dem Nato-Raum verhinderten sie militärische Kurzschlüsse auf der einen Seite, wie eben die Agenten auf der anderen Seite zumindest partiell für eine realistische Lageeinschätzung ihrer Regierungen sorgten. So wusste man hüben wie drüben verlässlich: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Das klang zwar zynisch, war aber weit weniger propagandistisch verlogen als die heute übliche Kriegsrhetorik. Nicht zu reden von Hohn und Häme, wenn dabei die von uns benutzte Bezeichnung »Kundschafter des Friedens« ironisch zerkaut wird.
Die meisten Gäste wären gewiss nicht zu Großmanns Geburtstag erschienen, wenn der Jubilar zu jener Dämonen- und Gangster-Mannschaft gehört hätte, zu der das MfS im jahrzehntelangen Dauerfeuer gemacht worden ist. Der Generaloberst wurde, unschwer an Gesten und Worten zu erkennen, noch immer geachtet, respektiert, verehrt. Ein aufrechter, anständiger Charakter, dem man nicht minder offen zugeneigt war. Großmann wanderte von Tisch zu Tisch, lieh fast jedem sein Ohr und hatte freundliche, unterhaltsame Erinnerungen parat. Erst sehr viel später wurde allen bewusst, dass man in dieser Stunde heiter voneinander Abschied genommen hatte.
Werner Großmann stammte aus einfachsten Verhältnissen und war noch Kriegsbeute geworden: Am Stadtrand von Pirna musste er im Frühjahr ’45 mit Gleichaltrigen Gräben ausheben, um »den Russen« aufzuhalten. Eine Granate riss dem Freund neben ihm die Beine ab und damit aus dem Leben. Das war ein Schlüsselerlebnis für den Sechzehnjährigen – Monate später schloss er sich der KPD an, weil die am lautesten und am konsequentesten forderte: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!
Die neue Ordnung ermöglichte ihm ein Hochschulstudium in Dresden, er wollte Bauingenieur, wenn nicht gar Architekt werden. Dann kam die FDJ und wünschte, dass er für zwei Semester pausierte und hauptamtlicher Jugendfunktionär in der Hochschulleitung würde. Alsbald aber klopfte auch das Ministerium für Staatssicherheit an und holte ihn Anfang 1952 zur Ausbildung nach Berlin. Seit dem 1. Oktober 1953 gehörte Großmann zum Außenpolitischen Nachrichtendienst (APN), der damals vielleicht vierzig Mitarbeiter zählte, alle zwischen 20 und 30 Jahre alt wie er. Der Chef war bereits dreißig, also uralt, und hieß Markus Wolf. Aus dem APN wurde die HV A, und »Mischa« Wolf blieb deren Chef, bis er sich 1986 aus dem Dienst ins Schriftstellerleben verabschiedete und sein Stellvertreter Großmann diese Funktion übernahm. Der HV A-Chef konnte zwar auch nicht den Untergang der DDR verhindern, wohl aber viele Kundschafter warnen, und manche wurden bis heute nicht entdeckt. Ihn selbst verhaftete man noch am ersten Tag der »Einheit«, am 3. Oktober 1990. Großmann wurde nach Karlsruhe mit dem Hubschrauber expediert, wo man im Bundesgerichtshof die Absicht vortrug, ihm wegen Landesverrat und Agententätigkeit den Prozess machen zu wollen. Nach fünf Jahren musste der Generalbundesanwalt die Ermittlungen ergebnislos einstellen und die Klage fallen lassen. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte zutreffend festgestellt: »Die Angehörigen der Geheimdienste der DDR haben – wie die Geheimdienste aller Staaten der Welt – eine nach dem Recht ihres Staates erlaubte und von ihm sogar verlangte Tätigkeit ausgeübt.«
Das galt eigentlich für alle inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS, über die man allenfalls zu Gericht hätte sitzen können, wenn sie nachweislich gegen die Gesetze ihres Staates – der DDR – verstoßen hätten. Im Rachefeldzug brach die bundesdeutsche Justiz jedoch ungeniert den Verfassungsgrundsatz, dass eine Tat nur nach dem zum Zeitpunkt der Tat an diesem Ort geltenden Gesetz verfolgt werden darf. Doch trotz gebrochenem Rückübertragungsverbot war es nicht möglich, den führenden Köpfen des Klassenfeindes einen Strick zu drehen. Wolfgang Schwanitz beispielsweise, der im November ’89, zuvor Stellvertreter von Minister Mielke, als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit in die Modrow-Regierung berufen worden war, sollte wegen angeblicher Korruption belangt werden. Allerdings konnte er beweisen, dass das Boot, um das es ging, von ihm bis zum letzten Pfennig aus eigener Tasche bezahlt worden war. Auch dieser Versuch billiger Kriminalisierung von Exponenten des vermeintlichen Unrechtsregimes misslang.
Wolfgang Schwanitz, gebürtiger Berliner, war Anfang der fünfziger Jahre zum MfS gestoßen, hatte schon bald Kreisdienststellen geleitet und war schließlich in der Welthauptstadt der Agenten – die beiden Teile der Stadt waren noch nicht durch eine Mauer geteilt – mit 28 Jahren zum Leiter der Spionageabwehr in der Verwaltung von Groß-Berlin berufen worden. Nach Jura-Fernstudium an der Humboldt-Universität und Promotion wurde er Chef der Bezirksverwaltung des MfS in der DDR-Hauptstadt, was er zwölf Jahre lang blieb. 1986 ernannte man ihn zu einem der Stellvertreter Mielkes.
Der Generalleutnant war schon lange a. D., als ich ihn kennenlernte und er mein Autor wurde. Als »Geschichtsrevisionist« (so der Antikommunist Karl Wilhelm Fricke, der vorzugsweise von Wikipedia und anderen bürgerlichen Medien zitiert wird, wenn Autoren der edition ost charakterisiert, also denunziert werden müssen) war Schwanitz schon in den neunziger Jahren unterwegs, um in öffentlichen Gesprächskreisen und in Publikationen sich an der sogenannten Aufarbeitung zu beteiligen. Er widerlegte Verleumdungen und böswillige Unterstellungen mit Fakten wie er auch Glorifizierungen widersprach. Wahrhaftigkeit hieß für ihn auch, selbstkritisch zu Fehlern und Irrtümern zu stehen. Das nahm ihm mancher übel, worauf er zu entgegnen pflegte: »Warum gingen wir dann so jämmerlich unter, wenn wir so toll gewesen sind, wie du meinst?«
Schwanitz ist fünf Tage nach Werner Großmann in seiner Wohnung in der Leipziger Straße in Berlin mit 91 Jahren verstorben. Nicht unerwartet, denn auch er war geraume Zeit schon nicht sonderlich gesund. Und dennoch. Erlösung löst bei den Zurückbleibenden selten ein Gefühl der Genugtuung aus. Es bleibt immer Trauer. Bei den Angehörigen wie bei den Weggefährten. Großmann und Schwanitz waren die beiden letzten Spitzen der Aufklärung und der Abwehr unter dem Dach eines legitimen und legalen Dienstes. Mit ihnen sind weitere wichtige Zeitzeugen von uns gegangen, zwei ehrbare, anständige Männer, die ohne die DDR nicht geworden wären, was sie waren. Und die ihren Teil leisteten, dass die DDR 41 Jahre existierte und in Europa ein halbes Jahrhundert Frieden herrschte.