»Nachdenken über Ossietzky« so hieß ein Band, 1989 erschienen und seit 1987 angedacht, vom damals noch stellvertretenden Chefredakteur der Weltbühne herausgegeben, der den langjährigen Chefredakteur Peter Theek zum Jahreswechsel planmäßig, wie es in der DDR hieß, ablösen sollte. Planmäßig auch war der Sammelband noch vor dem 100. Geburtstag Ossietzkys erschienen. Das schuf ein gewisses Problem, denn kaum war der Band erschienen, änderte sich zunächst die kleine Welt der DDR und dann die große Welt zwischen Prag und Tbilissi, Moskau und Tallinn, Wladiwostok und Jerewan. Im Prinzip änderte sich die Welt, zunächst aber blieb sie noch Monate, gar Jahre lang gleich, also in gleichförmiger korrupter Unordnung.
In dem Band hatten viele honorige Autoren – damals waren weibliche Personen in der männlichen Form eingeschlossen – ihre Meinung zu Ossietzky kundgetan, meist hatten sie Ossietzky in seine Zeit gestellt: Manfred Kossok und Heinz Kamnitzer, Ruth Greuner, Kurt Pätzold, Jürgen Kuczynski und selbstverständlich die wichtigste Weltbühnen-Archäologin der DDR, Ursula Madrasch-Groschopp, die aus eigener Erinnerung die Wiedererweckung der Weltbühne nach dem Zweiten Weltkrieg schildern konnte.
Der Herausgeber wollte auch jüngere Autoren einbeziehen. Ich schrieb seit zehn Jahren für das Blättchen, war noch unter vierzig, hatte sogar einen sogenannten Vertrag für Freifeste (400 Mark monatlich). Also wurde auch ich angefragt. Ich dachte nach und schickte die Frucht dessen dem Herausgeber auf Papier.
Ich habe wegen mangelhafter Papierlagerung meinen Beitrag nicht mehr. Ich weiß aber noch, was mir der Herausgeber, der mich vor seinen Schreibtisch zitierte, mitteilte: »Du glaubst doch nicht, dass wir Deinen Beitrag drucken können? Ossietzky war ein standhafter, aufrechter Journalist, der auf der Seite der kämpfenden Völker stand. Und Du benutzt ihn, um Deine eigenen Probleme auszubreiten? Du regst Dich über eine angebliche Zensur hierzulande auf. Meinst Du, solches hätte Ossietzky gutgeheißen? Seine Ideen, die bei uns immer besser zur Verwirklichung kommen, werden durch Deine kleinmütige, kleinbürgerliche Kritikasterei ad absurdum geführt …«
Ich kannte derlei Zurechtweisungen und teilte mit, dass ich aber nur meiner eigenen Meinung verpflichtet sei. Was Ossietzky dazu gesagt hätte, könne ich nicht mal ahnen. An ihm, dem Herausgeber sei es, meinen Text aufzunehmen. Oder aber, wie in der Oper »Die Verurteilung des Lukullus«, auszurufen: »Ins Nichts mit ihm!«
»Da kannste aber Gift drauf nehmen!« sprach der Herausgeber, und ich trollte mich.
Ein paar Wochen später war der Wind dabei, sich zu drehen. Der Herausgeber veröffentlichte am 14. November 1989 – die Zeitschrift hatte damals etwa zehn Tage Vorlauf – unter der Überschrift »Ossietzky verpflichtet«:
»Als wir Anfang Oktober Carl von Ossietzky zu seinem 100. Geburtstag ehrten, war uns nach Feiern nicht zumute. Mit jedem Wort, das – garantiert nicht zufällig – die wirklich edle Gesinnung und mutige Tat dieses außerordentlichen Publizisten in Erinnerung rief, wurde uns schmerzhaft bewußt, wie viel wir dem ehrlich gemeinten Anspruch, die Weltbühne in seinem Namen und seinem Geist weiterzuführen, bisher schuldig bleiben mußten.«
Weitere vier Wochen später, der Wind blies unterdessen heftig von atlantischen Ufern her, war der Herausgeber inzwischen Chefredakteur geworden – und auch Herausgeber des Blättchens. Unter den Worten »WAS WIR WOLLEN« schrieben viele bisherige und ein paar neue Autoren am 12. Dezember 1989 zum Beispiel dies: »Wir wollen Ossietzkys Rat an alle Schwachmütigen folgen, nicht mit Trauer in die Vergangenheit zu blicken und einem Zustand schmerzlich nachzuwinken, der zuletzt nichts war, als gleißende und geschminkte Lüge.« So nämlich formulierte der jetzige Chefredakteur.
Auch ich durfte in diesem Heft etwas drucken lassen.
»Ich will eine Zensur!
Es wird in diesen undifferenzierten vernebelten Dezembertagen das ganze gute Früher nicht mehr dialektisch andersherum gesehen.
In den angeblich schweren Zeiten der sog. Zensur war es wunderbar und leicht. Denn natürlich gab es nie sog. Zensur – das kann man jederzeit freimütig nachlesen – aber es gab helfende Hinweise, kluge Ratschläge nach vorn, mal ein nett gemeintes Kopfnüßchen, damit man einen Schritt in die richtige Richtung schnell loslief. Aber ich habe nicht einmal in meiner Laufbahn als ständig bedacht werdender Mensch erlebt, daß mir etwa ein dummer Witz verboten wurde.
Es wurde helfend hingewiesen, daß man dumme Witze nicht reißen sollte. […] [Damals] setzte sich meine Aufsichtsbehörde kameradschaftlich mit mir hin, streichelte mit einem weichen Bleistift meine kantigen Texte und erläuterte nebenbei die scharf-existentielle Situation wie ein Arzt am Krankenbett des Fortschritts: Wir sind doch gewiß auch der Meinung, daß Deine Texte bei dieser wirklich einmaligen Weltwetterlage von staatsbürgerlicher Unrelevanz sind.«
Wer noch genauer wissen will, wie sich die Winde in dieser Epoche der Deutschen Demokratischen Bundesrepublik wendeten, schaue ins Buch von 1991 »Die Weltbühne im Wirbel der Wende«, erschienen im Verlag der Weltbühne, Berlin. Die ausgewählten Beiträge setzen mit dem Oktober 1989 ein und enden im Dezember 1991. Herausgegeben wurde es vom damals gerade gegründeten Freundeskreis der Weltbühne e. V. Leider finden wir darin nicht die kameradschaftlichen helfenden Hinweise, die nett gemeinten Kopfnüsschen, die angeprangerte kleinmütige, kleinbürgerliche Kritikasterei. Aber es gibt viele Hinweise auf Carl von Ossietzky und darauf, wie man über ihn nachdenken sollte.