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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zur Vernunft kommen

Wir doku­men­tie­ren hier die Eröff­nungs­re­de der Ossietzky-(Mit-)Herausgeberin Danie­la Dahn auf dem ersten Par­tei­tag des Bünd­nis­ses Sahra Wagen­knecht am 27. Janu­ar. Die neue Par­tei wird in den näch­sten Mona­ten bewei­sen müs­sen, ob sie die in der Rede dia­gno­sti­zier­te »Reprä­sen­ta­ti­ons­lücke«, in die bis­lang fast aus­schließ­lich die Rech­ten sto­ßen, zu schlie­ßen imstan­de sein und die poli­ti­sche Land­schaft berei­chern wird. 

 

Lie­be Mit­strei­ter und Weggefährtinnen

Die­ser Par­tei­tag ist in vie­ler­lei Hin­sicht außer­or­dent­lich und zugleich ordent­lich. Schon sein Datum ist nicht zufäl­lig. Und das ist wohl auch der Grund, wes­halb ich die Ehre habe, hier als erste zu spre­chen: Heu­te vor 79 Jah­ren hat die Rote Armee das Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz-Bir­ken­au befreit. Der 27. Janu­ar ist von der UNO zum Inter­na­tio­na­len Tag des Geden­kens an die Opfer des Holo­caust erklärt wor­den. Sahra bat mich, ein paar Wor­te zu die­sem Anlass zu sagen.

Denn von die­sem Par­tei­tag geht das unmiss­ver­ständ­li­che Enga­ge­ment für Anti­ras­sis­mus und Anti­fa­schis­mus aus. Der nach­drück­li­che Wunsch, alle Deut­schen hät­ten für immer aus der Geschich­te gelernt, hat sich nicht erfüllt. Der Schoß ist frucht­bar, immer noch. Ange­sichts des­sen, was Rechts­extre­mi­sten in Vor­der- und Hin­ter­stu­ben an faschi­sto­iden Plä­nen aus­hecken, geht es um die kol­lek­ti­ve Zustän­dig­keit von uns Nach­ge­bo­re­nen. Der Kapi­ta­lis­mus mit sei­nen ver­hee­ren­den mili­tä­ri­schen Geo­stra­te­gien, mit sei­nen sozia­len Ver­wer­fun­gen und der dar­aus fol­gen­den Ablei­tung von Wut auf Sün­den­böcke – bringt er aber­mals all das her­vor, was schon ein­mal ins Ver­der­ben geführt hat?

Ich muss in die­sen Tagen an Fania Féne­lon den­ken, die Ausch­witz nur über­stan­den hat­te, weil sie zu des­sen wahn­wit­zi­gem Mäd­chen­or­che­ster gehör­te, wie Esther Béja­ra­no und Ani­ta Las­ker-Wall­fisch. Ich lern­te die fran­zö­si­sche Chan­son-Sän­ge­rin spä­ter in der DDR ken­nen, wo sie eini­ge Jah­re gelebt, unter­rich­tet und Kon­zer­te gege­ben hat.

Ein­ge­prägt hat sich mir die Schil­de­rung in ihrem Buch, wie der Reichs­füh­rer SS Hein­rich Himm­ler, der gei­sti­ge Vater aller KZ, zu »Besuch« kam. Über sei­nen letz­ten davor von 1942 hat­te sich her­um­ge­spro­chen, dass er der Ver­nich­tung eines eben ein­ge­trof­fe­nen Juden­trans­por­tes bei­gewohnt hat­te, Befeh­le erteil­te, die Selek­ti­on müs­se noch weni­ger »Abfall« hin­ter­las­sen. Töten sei wirt­schaft­li­cher als Ernäh­ren. Und dies­mal woll­te er also ein Kon­zert des Mäd­chen­or­che­sters besu­chen. Es hieß, sie müss­ten sich extrem anstren­gen, denn er ver­stün­de etwas von Musik. »Hor­ror, Hass, ohn­mäch­ti­ger Auf­ruhr packen mich«, schrieb Fania. »Der Orga­ni­sa­tor unse­res eige­nen Todes wird hier­her kom­men. Der Hen­ker wird kom­men und sich sei­ner Opfer freu­en.« Er kam, hör­te gelang­weilt eini­ge Minu­ten zu und ging. Er hat­te Wich­ti­ge­res zu tun. Sein Des­in­ter­es­se ver­brei­te­te Panik im Orche­ster. War es das Todesurteil?

Am Mor­gen des 27. Janu­ar 1945 stieß die Rote Armee zunächst auf das Zwangs­ar­beits­la­ger Mono­witz. Hier feu­er­ten Ange­hö­ri­ge der Waf­fen-SS und der Wehr­macht noch besin­nungs­los um sich, etwa 230 sowje­ti­sche Sol­da­ten lie­ßen allein hier ihr Leben. Im Lau­fe des Tages stieß ihre 322. Infan­te­rie­di­vi­si­on bis zum Haupt­la­ger vor. Nicht die Alli­ier­ten, wie Ursu­la von der Ley­en fälsch­lich behaup­te­te. Die sowje­ti­schen Kame­ra­män­ner, die sofort zu doku­men­tie­ren began­nen, schil­der­ten: »Unse­ren Augen bot sich ein schreck­li­ches Bild: eine rie­si­ge Anzahl von Baracken – auf den Prit­schen lagen Men­schen, Ske­let­te schon, mit Haut über­zo­gen und abwe­sen­dem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen.«

Alle Geknech­te­ten und Geblen­de­ten vom NS-Regime zu befrei­en, dafür haben allein 13 Mil­lio­nen Sol­da­ten der Roten Armee ihr Leben gelas­sen. Dafür sind wir auf ewig zu Dank ver­pflich­tet, wie immer sich die Welt­la­ge inzwi­schen ver­än­dert hat.

War­um dar­an erin­nern? Das größ­te Ver­bre­chen der Mensch­heits­ge­schich­te ist von Deut­schen began­gen wor­den. Es war alles ande­re als ein Vogel­schiss! Und ich fin­de es wich­tig zu beto­nen, dass sich gera­de am heu­ti­gen Datum eine Par­tei kon­sti­tu­iert, der es am Her­zen liegt, das Gedächt­nis dafür wach­zu­hal­ten und Fol­ge­run­gen dar­aus zu ziehen.

Denn es geht auch dar­um, miss­bräuch­li­ches Erin­nern nicht zu dul­den. Welch Schind­lu­der hat ein Außen­mi­ni­ster der Grü­nen mit der ein­zig rich­ti­gen Schluss­fol­ge­rung: »Nie wie­der Ausch­witz« getrie­ben, als er damit den völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg der Nato gegen Jugo­sla­wi­en rechtfertigte!

Ausch­witz, die gan­ze Shoa, war nur im Schat­ten des Welt­krie­ges mög­lich. Nichts führt so direkt zu Ent­hu­ma­ni­sie­rung wie Krieg. Des­halb ist es so unver­zicht­bar, wenig­stens eine kon­se­quen­te Frie­dens­par­tei im Par­la­ment zu haben.

Zwei­fel­los wäre es auch mir lie­ber gewe­sen, die LINKE hät­te ihre Kraft zu Ver­ei­ni­gung, wie sie sie etwa mit PDS und WASG bewie­sen hat, bei­be­hal­ten. Auch in ihrer Frie­dens­po­li­tik hat­te sie lan­ge nicht nur mei­ne Sym­pa­thie. Doch spä­te­stens als die LIN­KEN-Par­tei­füh­rung es aus faden­schei­ni­gen Grün­den abge­lehnt hat, die groß­ar­ti­ge Demon­stra­ti­on »Auf­stand für den Frie­den« von Ali­ce Schwar­zer und Sahra Wagen­knecht zu unter­stüt­zen, war der Bruch zwi­schen bei­den Flü­geln end­gül­tig. Längst hat­te die LINKE ihre Auf­ga­be als unüber­hör­ba­re Oppo­si­ti­on zum Regie­rungs­kurs ein­ge­büßt. Eine Ent­wick­lung, die die Grü­nen lan­ge hin­ter sich hatten.

Fol­ge­rich­tig gibt es in der der­zei­ti­gen Par­tei­en­land­schaft eine Reprä­sen­ta­ti­ons­lücke. Etwa die Hälf­te der Bür­ger fin­den im gegen­wär­ti­gen Par­la­ment kei­ne Par­tei, mit der sie sich iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Wer der Zei­ten­wen­de hin zur Kriegs­tüch­tig­keit kon­se­quent wider­spre­chen will, dem Irr­glau­ben an »Sieg durch Waf­fen«, die­sen wahn­sin­ni­gen »Werk­zeu­gen des Todes«, wie Papst Fran­zis­kus sie nennt, der könn­te sich genö­tigt sehen, die AfD zu wäh­len; obwohl er sie in allen übri­gen Punk­ten von Her­zen ablehnt. Das ist ein unhalt­ba­rer Zustand, denn der Frie­den muss allen nicht vom Krieg pro­fi­tie­ren­den Men­schen das Aller­wert­voll­ste sein. Nur ein Leben in Frie­den ist lebenswert.

Waf­fen und der sie beglei­ten­de Wirt­schafts­krieg ver­nich­ten Leben und den Rest von intak­ter Natur. Der eben­falls toben­de Infor­ma­ti­ons­krieg soll uns Bür­ger um den Ver­stand brin­gen, den wir brau­chen, um mün­dig zu blei­ben. Es muss ver­dammt noch mal mög­lich sein, Waf­fen­lie­fe­run­gen und die Gering­schät­zung von Ver­hand­lun­gen und Diplo­ma­tie abzu­wäh­len, ohne sich damit das faschi­sto­ide und unso­zia­le Gedan­ken­gut der AfD einzuhandeln!

Sahra Wagen­knecht hat bewie­sen, dass gemein­nüt­zi­ger Wider­spruch noch mög­lich ist. Sowohl gegen die um sich grei­fen­de Kriegs­be­reit­schaft wie auch in ihrem Enga­ge­ment für die sozi­al Benach­tei­lig­ten. Oder in der Kri­tik tota­li­tä­rer Ten­den­zen im Umgang mit der Pan­de­mie. Sie eröff­net Denk­räu­me, indem sie neo­li­be­ra­le Mythen ent­larvt. Sahra reflek­tiert die Vor- und Nach­tei­le ver­schie­de­ner Eigen­tums­for­men. Denn von wel­chen Besitz­ver­hält­nis­sen wir abhän­gig sind, das ent­schei­det über Selbst­be­stim­mung und Iden­ti­tät wohl mehr als alles ande­re. All das ver­dient Unterstützung.

Gemes­sen dar­an, sind die offe­nen oder auch umstrit­te­nen Fra­gen nach­ran­gig. Nicht zweit­ran­gig. Ich gehe davon aus, dass die Ant­wor­ten im demo­kra­ti­schen inner- und außer­par­tei­li­chen Dia­log prä­zi­siert wer­den. Etwa die Gret­chen­fra­ge: Nun sag, wie hast du´s mit der Migra­ti­on?

Als Inter­na­tio­na­li­stin bin ich auch gespannt, was hier für ein Euro­pa-Wahl­pro­gramm ver­ab­schie­det wird. Die­se EU als trans­at­lan­ti­sche Filia­le der USA und der Nato ist wahr­lich vom Kopf auf die Füße zu stel­len. Aber dabei rech­ne ich auch mit der anhal­ten­den Gül­tig­keit der revo­lu­tio­nä­ren For­de­rung: Pre­ka­ri­er aller Län­der, ver­ei­nigt euch!

Bei­de auf ihre Art lin­ken Par­tei­en wer­den nun wie alle ande­ren in Kon­kur­renz ste­hen. Ich hof­fe aber, ähn­lich wie Gesi­ne Lötzsch, dass sie sich nicht als poli­ti­sche Haupt­geg­ner anse­hen, son­dern da, wo sich Gemein­sam­kei­ten erhal­ten haben, auch kooperieren.

Gestat­ten Sie mir noch eine per­sön­li­che Bemer­kung. Ich bin seit über 30 Jah­ren par­tei­los. Und habe auch nicht die Absicht, dar­an etwas zu ändern, weil sich mei­ne Erfah­rung bestä­tigt hat, dass der Platz von mei­nes­glei­chen zwi­schen den Stüh­len ist. Es gibt aller­dings Momen­te, in denen man sich für einen Stuhl ent­schei­den soll­te. Ich habe auch noch nie auf einem Par­tei­tag gespro­chen. Aber es ist ja nie zu spät, Neu­es aus­zu­pro­bie­ren. Etwa um dem Bünd­nis Sahra Wagen­knecht mei­nen Respekt zu bekun­den – für den Mut und die Kühn­heit, der zuneh­mend mili­tan­ten und restau­ra­ti­ven Par­tei­en­land­schaft die Stirn zu bie­ten. Möge die­ses Bemü­hen erfolg­reich sein!

Mehr als wün­schens­wert wäre es, wenn wir alle einen drin­gend nöti­gen, wenn auch sicher beschei­de­nen Bei­trag dazu lei­sten könn­ten, dass unser Land, und ja, auch unser Euro­pa, zum 80. Jah­res­tag der Befrei­ung von Ausch­witz im näch­sten Jahr, zur Ver­nunft gekom­men sind.