Im Andenken an das theologische Wirken von Heinrich Peuckmann (1949-2023)
Die »rettende Liebe« muss das große Werkzeug der Kirche sein. So hat es Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881) vor ziemlich genau 175 Jahren, also 1848, in einer mittlerweile berühmtgewordenen Stegreifrede anlässlich des Kirchentages von Wittenberg formuliert. Diese Rede wird gemeinhin als Geburtsstunde der institutionell verfassten Diakonie begriffen. Sie hat dem diakonischen Handeln der Kirche einen klaren Auftrag gegeben; ein Auftrag, der immer mal wieder mit einem neuen Leitbild versehen wurde, der sich im Kern aber stets der gelebten Nächstenliebe verpflichtet hat. Dass man diesem hehren Auftrag phasenweise nur höchst unzulänglich nachkam, zeigt aber auch die wechselhafte Geschichte diakonischer Einrichtungen – vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus.
Doch ist die Diakonie – als verfasste Institution und als gelebte Praxis in den Gemeinden vor Ort – ein treffliches Beispiel dafür, dass die Soziale Frage – auch im späteren Sinne einer sozialverträglichen und gerechten Gesellschaft – wesenhaft zur Gestalt und Praxis der Kirche hinzugehört. Das gilt ungebrochen bis heute. Und so verwundert es nicht, dass sich ebenfalls die Theologie als kritisch reflexive Wissenschaft der Grundlagen und Praktiken des religiösen Glaubens mit diesem Thema eingehend beschäftigt hat. Ein besonderer Höhepunkt dieser Beschäftigung fällt mit den gesellschaftlichen Umbruchzeiten der 1968er Jahre und ihren Nachwirkungen zusammen. An den Universitäten wird der Funke einer neuen – herrschaftsfreien (J. Habermas) – Diskurskultur entzündet, der alsbald auf weite Teile der Gesellschaft überspringt. In der Kirche steht der »1000-jährige Muff unter den Talaren« kritisch auf dem Prüfstand, sodass sich sukzessive ein neues Pfarrbild herauskristallisiert. An den theologischen Fakultäten erhält ein neuer Geist Einzug; der Geist der aus Lateinamerika stammenden Befreiungstheologie, die sich selbst als »Stimme der Armen« versteht.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Soziale Frage gerade in dieser Zeit deutlich wahrnehmbar in das Zentrum theologischen Denkens und Wirkens rückt. Und diese Beobachtung gilt für alle Fachbereiche der Theologie; für die Bibelwissenschaft, die Kirchengeschichte, die philosophische und die praktische Theologie.
Eben in diesen Jahren hat mein Vater Heinrich Peuckmann, der sich auch hier in dieser Zeitschrift regelmäßig bis zu seinem Tod im Frühjahr dieses Jahres zu gesellschaftlichen, politischen oder auch literarischen Themen geäußert hat, sein Studium der Evangelischen Theologie in Bochum aufgenommen. Er hat Theologie in einer Zeit studiert, die durchdrungen war von gesellschaftlichen Umbrüchen, sozialpolitischen Neuausrichtungen und einer befreiungstheologischen Aufbruchsstimmung. All dies hat Ausdruck darin gefunden, dass auch er die Soziale Frage – die Frage nach dem sozialverträglichen und gerechten Miteinander – in seiner eigenen Theologie und seinem theologischen Wirken resolut ins Zentrum gestellt hat.
In der Öffentlichkeit ist Heinrich Peuckmann vor allem mit literarischen Texten und seinem kulturpolitischen Wirken hervorgetreten. Dass er sich auch als Theologe vereinzelt zu Wort gemeldet hat, geht in der Fülle seiner Arbeit fast unter; vielleicht liegt es auch daran, dass diese theologischen Texte größtenteils in die Anfangszeit seines schriftstellerischen Schaffens fallen. Einer dieser theologischen Texte wurde 1991 beim Assoverlag unter dem Titel »Leise Worte, fremdes Land« veröffentlicht. Darin findet sich ein Essay, der sehr deutlich in der Tradition einer politischen Theologie steht, die sich fordernd aber auch perspektivenweitend der Sozialen Frage verpflichtet. Der Essay ist mit einem Bibelwort aus dem Deuteronomium – dem 5. Buch Mose – überschrieben: Es wird bei Dir keine Armen geben.
Heinrich Peuckmann geht in seinem Gedankengang der scharfzüngigen und unnachgiebigen Sozialkritik des Propheten Amos nach. Der Essay knüpft damit an eine biblische Figur an, die von der universitären Theologie in den 1970er und 1980er Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren hat, was eben auch damit zusammenhängt, dass Amos als eine Art personifiziertes Symbol der Sozialen Frage aufgefasst wurde. Dieser Spur folgt der Essay, der sich sodann der Frage zuwendet, warum die Sozialkritik des Amos derart radikale Auswüchse annimmt. Heinrich Peuckmann wählt für die Beantwortung dieser Frage den Weg über das innerbiblische Gespräch. »Amos ist (…) auf dem Hintergrund der altisraelitischen Sozialordnung zu sehen.« Damit ist der Brückenschlag von diesem Prophetenbuch zum Pentateuch – den fünf Büchern Mose; auch Tora genannt – gewagt. Die altisraelitische Sozialordnung, über deren faktische Existenz in der theologischen Wissenschaft kontrovers debattiert wird, zeichnet ein Modell, das den Privatbesitz als etwas temporär Anvertrautes begreift. Und in dieser zeitlichen Begrenzung ist auch die Begrenzung eines wirtschaftlichen Wachstums eines Einzelnen eingewoben. Irgendwann wird alles wieder auf null gesetzt, alles wird wieder neu, gleich und gerecht verteilt, und alle Schulden, die sich bis dahin aufgetürmt haben, werden erlassen. Peuckmann hält dieser biblischen Utopie das Spiegelbild der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor: Temporär anvertrauter Privatbesitz und Kapitalismus, erlassene Schulden und Verbindlichkeiten des globalen Südens, Natur als Selbstwert und als wirtschaftliche Ressource.
Der skizzenhaft vorgestellte Essay ist mehr als drei Jahrzehnte alt; seine Beobachtungen sind nach wie vor aktuell. Diese Aktualität hängt wohl damit zusammen, dass die Soziale Frage ungebrochen aktuell ist. Mich hat dieser Befund bei der Lektüre des Textes zu der Frage geführt, wie die wissenschaftliche Theologie heute mit diesem Thema und den damit einhergehenden Herausforderungen umgeht.
Eine derartige Zentralstellung, wie sie noch in den 1970er Jahren teilweise zu beobachten war, nimmt diese Frage heute zweifelsohne nicht mehr im theologischen Denken ein. Und doch hat sie in meiner Wahrnehmung kaum an Strahlkraft und Relevanz eingebüßt. Der Diskurs ist zwar leiser geworden und hat zugleich in gewisser Weise an Schärfe verloren. Dies hängt auch mit einem gewandelten Verständnis von politischer Theologie, die sich ganz bewusst nicht als politikbetreibende Theologie verstehen möchte, zusammen. Unpolitisch ist die heutige Theologie aber keineswegs. Sie nimmt die Soziale Frage nicht mehr durch die Brille eines prophetischen Wächteramtes (M. Luther) wahr; sie sucht vielmehr tastend den Weg in einen pluriformen Diskurs, der nicht selten ergebnisoffen die schwer zu fassenden Phänomene der Gesamtthematik umreißt. Dies führt gleichzeitig dazu, dass sich der innertheologische Diskurs weiter auffächert. So ist die Soziale Frage heute fest verwurzelt in den Debatten zu Rassismuskritik, postkolonialer Theologie, ökologischer Nachhaltigkeit, feministischer Theologie, Sozialethik, Friedensforschung, Inklusion, partizipativer Kirche und vielem mehr.
In all diesen wichtigen und gleichsam herausfordernden Bereichen und Themen spielt die Soziale Frage in abstrahierter und aktualisierter Form nach wie vor eine tragende Rolle. Im Blick steht der Auftrag einer gelebten Nächstenliebe, die den Weg in eine gerechtere, freiere, friedvollere und nachhaltigere Welt ebnen soll. Dieser Fokus ist auch in der akademischen Theologie als der kritisch reflexiven Wissenschaft der Grundlagen und Praktiken des religiösen Glaubens beheimatet. Zum Scharfstellen eben dieses Fokus ist der Blick zurück in die Theologiegeschichte mit ihrer phasenweise stark politischen Akzentuierung immer hilfreich. Nichts Anderes haben auch jene Abhandlungen und Essays gemacht, wenn sie sich vom utopischen und nicht selten hoffnungsvollen Potenzial biblischer Bilder inspirieren ließen. Auch sie haben den Blick zurück dazu genutzt, den Fokus der eigenen Gedankengänge scharfzustellen; mitunter auch den Fokus der Zeit, in die sie hineingesprochen haben. Dass diese Worte über jenen zeitlichen Horizont auch hinausreichen, verdeutlicht, welch großes Potenzial den biblischen Texten innewohnt. Ihre Utopien sind zeitlos, sodass sie in jeder Zeit immer wieder aufs Neue Denkanstöße geben und eine Perspektivweitung ermöglichen. Und so bleiben diese biblischen Visionen nach wie vor Gesprächspartner für unsere Zeit; Gesprächspartner, an die immer wieder erinnert werden darf: Nur freilich, es wird bei Dir keine Armen geben (5. Mose 15,4).
Zum Nachlesen: Heinrich Peuckmann, Es wird bei Dir keine Armen geben, in: Ders., Leise Worte, fremdes Land, Münster 1991 Oberhausen, S. 9-17.
Niklas Peuckmann, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religion und Gesellschaft an der Ruhr-Universität Bochum und Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Kamen.