Es ist bemerkenswert, mit welcher Intensität sich Erich Fried mit der Bundesrepublik Deutschland befasst hat. Fried, geboren am 6. Mai 1921, ist gebürtiger Österreicher. Als Jude muss er sein Land mit siebzehn Jahren verlassen. Er geht ins britische Exil. In London erwirbt er die britische Staatsangehörigkeit und lebt dort bis zu seinem Tode im Jahr 1988. Aber nicht Großbritannien und Österreich spielen in seiner politischen Lyrik eine besondere Rolle, sondern die Situation der BRD. Das hat sicherlich mehrere Gründe: Deutsch bleibt auch im Exil seine Muttersprache, Deutschland war das Land, das ihn 1938 zur Flucht aus seiner Wiener Heimat zwang, und die Bundesrepublik Deutschland entwickelt sich nach dem Zweiten Weltkrieg verhältnismäßig schnell wieder zu einer einflussreichen Macht. Trotz aller Verstörungen fühlt er sich Deutschland biografisch, sprachlich und politisch verbunden, spricht zuweilen von »unserem« Land.
In seinem Vorwort zu dem Gedichtband So kam ich unter die Deutschen, den Fried 1977, im Jahr des »Deutschen Herbst«, in die politisch hoch emotionalisierte Diskussion einbrachte, schreibt er: »Ich kann nie aufhören, an die Menschen zu denken, die in diesen letzten zwei Jahrzehnten an der deutschen Demokratie verzweifelten und die unter Polizistenkugeln oder hinter Kerkermauern an den deutschen Verhältnissen gestorben sind oder jetzt langsam sterben. Ich kann nie aufhören, an die Menschen in Deutschland und in aller Welt zu denken, die jetzt anfangen, die Entwicklung dieses Staates, in dem man sagt ›Wir sind wieder wer‹ mit wachsender Angst zu sehen, Angst um Leben und Freiheit der Menschen in Deutschland, aber auch Angst vor dem, was dieser Staat vielleicht eines Tages Menschen in anderen Ländern antun könnte.«
Fried analysiert in seiner Lyrik das vorherrschende reaktionäre Bewusstsein. Die NS-Zeit wird nicht aufgearbeitet, sondern verdrängt. Im Jahr 1964 erscheint das Gedicht Die Händler, in dem er an den verbreiteten Zweifel an der Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden anknüpft und sarkastisch mit dem Vers endet: »Nur fünf Millionen / – man tut uns millionenfach Unrecht / nur fünf Millionen – / Wer bietet weniger?« In Zur Erinnerung an eine graue Briefmarke bringt Fried den Verdrängungsmechanismus zur Sprache, der Deutschland als Opfer sieht: »Eine Gedenkmarke / zwanzig Jahre nach Hitler / weiß auf grau / Männer Frauen Kinder // Nicht zur Erinnerung / an das Ende des dritten Reiches / an das Ende des Krieges / an die Rettung der Lagerinsassen // Nur zur Erinnerung / an zwanzig Jahre Vertreibung / von Deutschen aus den Gebieten / des Dranges nach Osten.«
Unter dem Sarkasmus Frieds liegt verborgen, zuweilen auch direkt geäußert, ein tiefes Gefühl der Enttäuschung über die Entwicklung der BRD. Seine Hoffnung, dass man aus den Jahren des Hitlerfaschismus »Menschlichkeit lernen« und »wenigstens eine gute bürgerlich Demokratie werden« würde, hat sich nicht erfüllt. Ja, in Wir sind wieder wer heißt es: »Deutschland könnte eine wirkliche Demokratie sein (…), wenn Hitler bei uns den Krieg nicht gewonnen hätte.«
Mit dem Gedichtband und Vietnam und von 1966 tritt Fried ins Zentrum der bundesrepublikanischen Protestbewegung. Unter dem Titel Vordruck schildert er den damals verbreiteten Hass: »Links ist Platz geblieben / auf den man schreiben kann / rechts steht … sind unser Unglück / Wie fing die Zeile an: / Die Juden ist kaum mehr zu lesen / ausradiert und verblasst: / Schreibt Chinesen schreibt Nordvietnamesen / schreibt alle hin die ihr hasst / Schreibt einfach Die Bolschewisten… / Die Ostermarschierer Die Roten / Die Polacken Die Gastarbeiter /…/ nur immer weiter.«
Einen Schwerpunkt in Frieds Lyrik bildet die »Rote-Armee-Fraktion« unter besonderer Berücksichtigung von Ulrike Meinhof, die in mindestens zehn Gedichten namentlich genannt wird. Fried hat nach seinen eigenen Worten, so in seiner Tübinger Rede 1983, die RAF immer abgelehnt. Trotzdem spricht aus seiner Lyrik Empathie mit deren Personen. In Die Anfrage heißt es: »Mit Verleumdung und Unterdrückung / und Kommunistenverbot / und Todesschüssen in Notwehr / auf unbewaffnete Linke / gelang es den Herrschenden / eine Handvoll empörter Empörer /…/ so weit zu treiben / dass sie den Sinn verloren / für das was in dieser Gesellschaft / verwirklichbar ist.« Dieses Gedicht, 1977 von einer Bremer Lehrerin im Schulunterricht durchgenommen, veranlasste den Bremer CDU-Abgeordneten Bernd Neumann, 28 Jahre später deutscher Kulturstaatsminister, zur aufsehenerregenden Bemerkung: »So etwas würde ich lieber gleich verbrannt sehen.«
Im Gegensatz zur offiziellen Regierungspolitik und den einflussreichen Medien sieht Fried den Grund für die Entwicklung der RAF zum Terror in erster Linie nicht bei deren Mitgliedern, sondern in der repressiven Struktur dieses Staates. In Ein Nachruf (Erstdruck 1985), schreibt er im Blick auf ein 1964 erschienenes Buch: »Es soll nicht vergessen sein / dass in Deutschland vor vielen Jahren / ein Buch mit Gedichten und Prosa / erschienen ist / Gegen den Tod / das warnte vor dem Atomkrieg / und das zusammengestellt war / von zwei Menschen / Bernward Vesper / und Gudrun Ensslin / die beide tot sind.« Ihnen sei ihr Leben genommen worden »vom selben Übel / … gegen das beide / gekämpft haben bis zur Verzweiflung / lange vor irgendeinem / bewaffneten Kampf.« Dieses Übel des repressiven Staats beschreibt Fried im Gedicht Ein neues Lied von der festen Burg, in dem er Rechtsbruch und Gewalt in den Justizvollzugsanstalten Stammheim und Mannheim in der ersten Hälfte der siebziger Jahre anklagt. Der letzte Vers lautet resümierend: »Denn wer die Macht hat, hat das Recht / und soll den Geist regieren. / Und wer das frech beschimpft als schlecht, / den können wir ruinieren. / Die Meinung der Welt, / wie sauer sie sich stellt, / sie kümmert uns nicht, / wir halten streng Gericht«. Fried geht wie viele andere beim Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof in der Haft von Mord aus. In Ulrike Meinhofs Selbstmord heißt es: »Seltsamer / Selbstmord / dessen Spuren / auf anderes deuten // Wundmale / Würgespur / nicht wie beim Tod / durch Erhängen // (…) Aber es darf nicht / das Andere sein / Es muss / Selbstmord gewesen sein // trotz aller Spuren / Nämlich / sonst müsste es / Mord sein …«
Aber Fried beschreibt die restaurative Politik in den siebziger Jahren nicht nur anhand der Ereignisse um die RAF. In Fast zum Lachen heißt es: »SPDchen und CDUchen / schlossen ein Wettchen: / Wer kann das Staatchen besser / vor linken Feindchen errettchen.« Mehrmals erwähnt er die Berufsverbote gegen Linke. Besonders kritisch beschreibt er Polizei und Justiz, speziell die vom Staat gerechtfertigte Gewalt von Polizisten. Die Todesschüsse der Polizei kommen in Frieds Lyrik wiederholt vor. In Jemand anderer heißt es: »Elisabeth van Dyck ist erschossen worden / von zwei Polizisten / … // Der Todesschütze gibt an / in Notwehr geschossen zu haben / denn sie wollte zur Waffe greifen / Der Schuss traf die Frau in den Rücken // Wie kann ein Mann / auf eine Frau die ihn / gerade erschießen will / in Notwehr so schießen / dass er die Angreiferin / in den Rücken trifft?« In Sieg der kämpferischen Demokratie oder Kulturelle Kontinuität geht Fried auf einen Vorfall im Deutschen Schauspielhaus Hamburg 1981 ein: »… als bei der Premiere / in der Pause / ein Häuflein Demonstranten / (unbedarft und gewaltlos) / auf die Bühne geschlüpft war / um ihnen etwas zu sagen / über Gefangene, da rief dieses Publikum / nicht nur Nein und nicht nur nach Polizei / sondern rief auch Totschießen, Aufhängen und Vergasen // Als die Demonstranten verschüchtert gegangen waren, erklärte der frühere Bürgermeister von Hamburg /…/ das Verhalten des Publikums sei ein erfreulicher Sieg / der kämpferischen Demokratie über den Terror.«
Zu all diesen Erscheinungen, die die Mehrheit der Bevölkerung für normal hält, stellt Fried in Zur Kenntlichkeit in fünf Zeilen die Frage nach wirklicher Demokratie: »Ist eine Demokratie / in der man nicht sagen darf / dass sie keine / wirkliche Demokratie ist / wirklich eine / wirkliche Demokratie?«
In seiner kritischen Wahrnehmung der BRD nimmt Fried Militarisierung und Kriegsvorbereitung als beängstigend wahr, besonders in den achtziger Jahren. So entlarvt er in Sprachregelung, den »Verteidigungsfall« als »tückischen Angriff«. Er schreibt: »Der Verteidigungsfall / ist der Fall / in dem nichts / zu verteidigen / bleibt.« In Nein danke? richtet Fried sich aber auch kritisch an die Anti-Atomkraftbewegung, die die Atomwaffen außeracht lässt. Im knappen, aber prägnanten Gedicht zur Rüstung Status quo heißt es: »zur Zeit des Wettrüstens // Wer will / dass die Welt / so bleibt / wie sie ist / der will nicht / dass sie bleibt.«
Aber Fried hebt in seinem lyrischen Werk auch die Bewegung gegen die autoritären Verhältnisse hervor und nennt namentlich entsprechende Personen oder widmet ihnen Gedichte. Seinem Kollegen Peter-Paul Zahl setzt er mehrmals ein Denkmal. Zu den von ihm herausgehobenen Personen gehören auch Fritz Bauer, Brigitte Heinrich, Paul-Gerhard Hübsch, Benno Ohnesorg, Georg von Rauch oder Karl-Heinz Roth. Besonders bekannt ist Frieds längeres Gedicht Für Rudi Dutschke. Mit ihm war er nicht nur befreundet, er verehrte ihn. Dutschke erscheint als jemand, dessen Freiheitsbewusstsein sich mit »Güte und Liebe« verband. »Denn der Kampf, der dein Gesicht und dein Herz hatte / ist auch ein Kampf / um die Liebe zu vielen ohne Abgrenzungen und Grenzen / Sonst wäre er für dich und das Denken an dich zu klein. / Der Kampf geht weiter.«
Es ist erstaunlich, mit welchem Scharfsinn Fried in seiner Lyrik Entwicklung und Verhältnisse der Bundesrepublik erfasst hat. Und der Kampf geht tatsächlich weiter, muss weitergehen. Denn vieles, was Fried kritisiert hat, ist auch über drei Jahrzehnte nach seinem Tod noch zu beklagen – man denke nur daran, dass dieser Staat heute mit seinen Rüstungsausgaben weltweit auf Rang sieben liegt.