Der Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 löste in Deutschland einen elementaren Schock aus. Wohl die meisten Menschen im Lande waren komplett überrascht und entsetzt. Sie hielten es nicht für möglich, dass es in der Mitte Europas noch einmal zu einem zwischenstaatlichen Landkrieg kommen könnte. Sie glaubten, die traditionsreiche Friedensparole »Nie wieder Krieg!« sei längst europäische Realität geworden. Gerade die jüngeren Deutschen kannten »Krieg« allenfalls aus den Erzählungen ihrer Groß- oder Urgroßeltern.
Geboren wurde die Parole »Nie wieder Krieg!« nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Wahrscheinlich kreierte ihn der kleine »Friedensbund der Kriegsteilnehmer« im Jahre 1919. Er wollte, wie schon der Name sagt, diejenigen Deutschen sammeln, die aus dem Ersten Weltkrieg als Pazifisten heimgekehrt waren und die mit dem preußisch-deutschen Militarismus endgültig brechen wollten. Später wurde die Losung »Nie wieder Krieg!« von allen pazifistischen Organisationen übernommen, die sich 1921 im »Deutschen Friedenskartell« zusammenschlossen. In den Jahren 1919 bis 1926 fanden in Deutschland große Massendemonstrationen gegen den Krieg statt, zu denen zeitweise auch die Gewerkschaften und die Parteien der »Weimarer Koalition« aufriefen, also SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei. Zu den Prominenten unter den Teilnehmern gehörten der Atomphysiker Albert Einstein und der bekannte Journalist Carl von Ossietzky. Diese machtvollen Antikriegsdemonstrationen konnten den Eindruck erwecken, das Land habe mit seinen militaristischen Traditionen gebrochen.
Die politische Rechte fühlte sich provoziert und in ihren tiefsten Überzeugungen angegriffen. Ein »Nie wieder!« versperrte aus ihrer Sicht die Zukunft. Sie pflegte eine heroische Erinnerung an den Krieg 1914-1918, verdrängte die militärische Niederlage Deutschlands, protestierte gegen den Versailler Diktatfrieden und die willfährigen demokratischen Politiker. Im Untergrund bereiteten Reichswehr und starke nationalistische Verbände materiell und mental die Wiederaufnahme einer kriegerischen Aggressionspolitik vor. Sie organisierten die gewaltsame Wiederherstellung einer deutschen Großmachtposition, nicht erst seit 1933, sondern schon Jahre zuvor. Unter Hitler wurden Aktivisten der »Nie wieder Krieg!«-Bewegung verfolgt, in »Schutzhaft« genommen und in Konzentrationslager verschleppt.
Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 erlebte die Parole »Nie wieder Krieg!« eine Renaissance. Diesmal, so schien es, war die große Mehrheit der Deutschen zu einer grundlegenden Umkehr bereit. Der Anstoß kam gleichwohl nicht von den vormaligen Trägern des Nazi-Staates, sondern von den Gegnern des Nationalsozialismus. Im befreiten Konzentrationslager Buchenwald formulierten die politischen Häftlinge: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« Daraus wurde später die schlagkräftigere Parole geformt: »Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!«
In den zehn Jahren ohne Armee (1945-1955) rangen sich auch konservative Wortführer zur Distanzierung vom Militarismus durch. Womöglich gab es in den ersten Nachkriegsjahren eine Mehrheit der Deutschen, die bereit war, ihr Denken und Handeln an der Devise »Nie wieder Krieg!« auszurichten. Das Grundgesetz von 1949 gab mit seinem Friedensgebot in der Präambel und mehreren Artikeln eine neue Grundorientierung für alles staatliche und gesellschaftliche Handeln in unserem Land. Das Grundgesetz war das Antiprogramm zu dem extrem gewalttätigen Zeitalter der Weltkriege, für das Deutschland eine wesentliche Mitverantwortung trug.
Aber schon in den frühen 1950er Jahren brachen die alten Konfliktlinien wieder auf. Die Konservativen folgten der von Kanzler Konrad Adenauer vorgegebenen Linie der Wiederbewaffnung und Westintegration. Die Opposition stellte sich gegen die »Remilitarisierung« und skandierte erneut die Parole »Nie wieder Krieg!«. Sie fand damit großen Zuspruch in der Gesellschaft der westdeutschen Bundesrepublik, was dazu führte, dass die Regierung ihre Politik gegen den Willen dieser Mehrheit durchsetzen musste. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich unter der stets präsenten Drohung eines möglichen Nuklearkrieges schrittweise eine Friedenskultur, die insbesondere in einem kriegsgegnerischen Mentalitätswandel zum Ausdruck kam. Im Innenbereich des politischen Verbundes der Europäischen Union wurde eine Friedensstruktur aufgebaut. Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass mehrere Generationen ein Leben ohne Krieg führen konnten. Frieden auf dem Kontinent – verstanden als Abwesenheit von Krieg – hielten sie für selbstverständlich.
Veränderungen kündigten sich ausgerechnet nach dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1989/90 an. Jetzt wurden die Deutschen von ihrer Regierung sowie von der militärischen Führung der Bundeswehr mit dem camouflierenden Propaganda-Schlagwort »Neue Normalität« überschwemmt. Gemeint waren damit der Abschied von einer Außenpolitik der Zurückhaltung und die Gewöhnung an weltweite Militäreinsätze der Bundeswehr. Man wollte agieren können wie die Sieger von 1945, nämlich als eine staatliche Macht, die sich souverän des Krieges als Mittel der Politik bedienen konnte. Wie die damaligen Meinungsumfragen zeigen, gelang es der Regierung jedoch wiederum nicht, in der Bevölkerung eine mehrheitliche Zustimmung zur Verabschiedung von der pazifistischen Parole »Nie wieder Krieg!« zu gewinnen. Vier Fünftel blieben bei ihrer Ablehnung der sogenannten »Out-of-area«-Politik.
Ausgerechnet die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer schickte dann im Jahre 1999 die Bundeswehr in ihren ersten Krieg seit ihrem Bestehen, in den sogenannten Kosovo-Krieg gegen Rest-Jugoslawien. Bundesaußenminister Joschka Fischer sagte im Deutschen Bundestag, er habe nicht nur »Nie wieder Krieg!« gelernt, sondern auch »Nie wieder Auschwitz!« Mit dieser falschen Analogie versuchte er, den Krieg gegen eine vermeintlich völkermörderische Regierung Serbiens zu legitimieren. Ein von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping präsentierter »Hufeisenplan«, der die Absicht der Umzingelung und Vernichtung flüchtender Kosovaren durch die Serben beweisen sollte, stellte jedoch eine Kriegslüge dar. Die Bundes-Luftwaffe trug mit ihren Waffensystemen und Kampfpiloten zu den Tausenden von Luftangriffen der Nato-Verbündeten auf die Volksrepublik Jugoslawien bei, obwohl Deutschland dazu nicht durch ein Mandat der Vereinten Nationen legitimiert war. Deutschland beteiligte sich an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
Für die prinzipiell kriegsgegnerisch eingestellten Teile der deutschen Bevölkerung stellte die deutsche Beteiligung am sogenannten Kosovo-Krieg eine existenzielle Enttäuschung dar. Sie löste tiefe Depressionen und Orientierungslosigkeit aus. Hatten doch die führenden sozialdemokratischen und grünen Politiker die grundlegende Orientierung »Nie wieder Krieg!« preisgegeben und sich nach Jahrzehnten der Zurückhaltung wieder in die kriegerische Weltordnung eingereiht. Die Mehrheit der Deutschen gab auch jetzt ihre Friedensmentalität nicht preis und lehnte die Auslandseinsätze der Bundeswehr mit großer Mehrheit ab.
Das war die mentale Lage der Deutschen auch noch zur Zeit des Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar. Sie erklärt den Schock, der in Deutschland besonders ausgeprägt gewesen zu sein scheint. Jetzt wurde hierzulande auch die Frage gestellt, wer 1919 und 1945 eigentlich der Adressat der Forderung »Nie wieder Krieg!« gewesen war. Vielleicht glaubte man damals – und später – in Deutschland, mit dem Untergang des preußisch-deutschen Militarismus 1945 sei die Gefahr einer kriegerischen Aggression vom europäischen Kontinent verschwunden. Übersehen wurde, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges keinen vergleichbaren Schwur abgelegt hatten. Sie hielten den kriegerischen Konfliktaustrag weiterhin für eine normale Angelegenheit. Putins Krieg brachte uns die ungebrochene Tradition der kriegerischen Politik nicht nur Russlands, sondern auch der anderen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ins Bewusstsein zurück. In dieser Lage ist es entscheidend, dass sich die politischen und gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes auf das Friedensgebot des Grundgesetzes besinnen und ihr Handeln konsequent danach ausrichten. In der aktuellen Situation bedeutet das: Volles Engagement für eine schleunige diplomatische Beendigung des Ukraine-Krieges.