Wir leben heute in einer globalen Transformation und erleben gleichzeitig Erschütterungen unseres Weltbildes. Der Krieg in der Ukraine und der ökonomische Aufschwung Chinas bringen unsere lange gehegte Überzeugung ins Wanken, dass der westliche Lebensstil sich über kurz oder lang über die gesamte Welt verbreiten wird. Gibt es wissenschaftliche Nachweise, die die Überlegenheit demokratischer Systeme belegen? Was sind die tieferen Gründe der Energiekrise? Woher kommt der Aufschwung extremistischer Positionen? Sind Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung gefährdet?
In den letzten Jahrzehnten hat sich in den Neurowissenschaften die Vorstellung des Determinismus etabliert, wonach sich alles im Gehirn aufgrund unumstößlicher Gesetzmäßigkeiten vollzieht. So untersuchte Gerhard Roth die mentalen Dispositionen von Verbrechern bis hin zu Vertretern des Nazi-Regimes. Er konnte zeigen, dass es sich um keine genetischen Defekte handelt, sondern der Einfluss der gemachten (insbesondere frühkindlicher) Erfahrungen von entscheidender Bedeutung ist. Allerdings versagt die deterministische Neurowissenschaft bei der Vorhersage bedeutungserzeugenden zukünftigen Handelns, wie es sich in Gemeinschaften ausprägt (nie hätten wir in den 80er Jahren an den plötzlichen Fall der Mauer geglaubt).
Philosophen wie Habermas oder Bieri verteidigen deshalb die menschliche Vernunft gegen ein determiniertes Denken, bieten jedoch auch keine naturwissenschaftlich konsistente Perspektive für unsere erlebbare Freiheit. So ist unsere Lebenswelt von Kontrollmechanismen geprägt, und Tech-Giganten wie Google, Amazon und Facebook setzen in breiter Front auf die Steuerbarkeit des menschlichen »Verhaltens«. Aber: Ist denn unser Handeln wirklich voraussagbar und damit determiniert? Der Physiker Erwin Schrödinger – er hatte u.a. das Konzept der Selbstorganisation für die Biologie fruchtbar gemacht – hat vor Jahren dazu einen Schlüssel für eine Tür geliefert. Während unser Selbst heutzutage als begrenztes und beherrschbares Etwas verstanden wird, zeigte Schrödinger, dass dieses Selbst durch unsere Sprache mit dem kompletten Universum verbunden und damit auf ungeahnte Weise »frei« sei. Viel größere Kräfte werden demnach entstehen, wenn wir uns daran machen, über unser eigenes Selbst hinauszuwachsen. Denn dies haben uns unsere Vorfahren in besonderer Weise in die Wiege gelegt.
Woran liegt es, dass sich viele Menschen von Politikern nicht mehr »verstanden« fühlen? Woher kommt unsere Abneigung gegenüber einer übergreifenden Gesetzgebung? Diese Fragen berühren einen Erfahrungsbereich, der in der Neurowissenschaft bisher wenig untersucht wurde: unsere Werte. Werte sind keine »Vorstellungen«, sondern bedeutungsproduzierende, übergeordnete mentale Strukturen, die unsere Handlungen und Wahrnehmungen prägen – und die uns durch unser eigenes Tun über uns hinauswachsen lassen! Aber was genau bedeutet »übergeordnete mentale Strukturen«? Woher haben solche Werte die Information, dass sie »gut« sind? Wir haben dazu die Betrachtung der auch durch Gerald Hüther erforschten Plastizität des Gehirns grundlegend weiterentwickelt.
Daraus folgt im Kern, dass jeder Mensch durch sein bewusstes Handeln immer ein mehr an Freiheit, Autonomie, aber gleichzeitig auch an Verbundenheit »aufspürt«. Nicht ein Determinismus (oder Gesetzgebung) bestimmt den Menschen, sondern umgekehrt. Das liegt auch der Demokratie zugrunde, wo ja alle gemeinsam und gleichberechtigt einen Weg für die Gemeinschaft suchen.
Wie ist das genauer zu verstehen? Der amerikanische Neurowissenschaftler Benjamin Libet führte in den 1980er Jahren Experimente zur Erforschung einer möglichen Vorausbestimmtheit menschlichen Handelns durch. Probanden sollten spontan ihre Hand heben. Das Ergebnis erstaunte die Fachwelt: Die Forscher konnten in allen Fällen ein vom Gehirn produziertes »Bereitschaftspotential« nachweisen, dessen Aktivität immer zum Heben der Hand führte und das sich bereits bis zu einer Sekunde vor der bewusst erlebten Entscheidung messen ließ – dass also menschliche Handeln tatsächlich von den Neuronen und deren Gesetzmäßigkeiten vorausbestimmt und damit determiniert sei. Das widerspricht allerdings unserem alltäglichen Erleben, in dem unsere Handlungen ja immer in Sinnzusammenhänge eingebettet sind; beispielsweise: soll ich dieser Person beim Überqueren der Straße helfen und ihr meine Hand geben? Unsere Neuinterpretation des neuronalen Geschehens legt demgegenüber nahe, dass sich in jeder menschlichen Gemeinschaft »Werte« herausbilden, die nun gerade nicht genetisch vorausbestimmt sind.
Mit Schrödinger und neueren Erkenntnissen der Physik wird klar, dass menschliche Werte sich in »Berührungen« zeigen, die die bereits herrschenden deterministischen oder determinierenden Gesetze grundlegend überschreiten. Eine solche »Überschreitung« führt zu einem sich-neu-orientierenden-Wachstum. Die moderne Physik erkennt, dass deterministische »Naturgesetze« immer nur für vergangene Ereignisse streng gelten, während die Zukunft – im Einklang mit der Quantenphysik – aus der Lebensweise und den evolvierenden Orientierungspunkten der Gemeinschaft folgt. Das steht im Einklang mit der niedrigen Entropie zu Beginn des Universums; denn diese Entropie hat sich durch Abkühlung und die Bildung neuer Elemente kontinuierlich zu bisher nicht dagewesenen, nun im physikalischen Sinne »Orientierung« gebenden Mustern entwickelt (Physiker nennen dieses Phänomen »Emergenz«).
Menschen bilden einfach – wenn sie einen Verlust echter Freiheit verspüren – von sich auch neue Wertegemeinschaften (die Bitcoin-Bewegung zählt heute genauso dazu wie das frühe Christentum oder die alten Griechen). Völlig unterschätzt ist dabei, welche tatsächlichen »determinierenden« Kräfte entstehen, wenn sich erst einmal solche neuen Werte herausgebildet haben. Für alles Zukünftige sind wir demnach in ungeahnter Weise offen, wobei wir, wenn wir einmal neue Werte herausgebildet haben, diesen mit bisher unerkannter Energie folgen.
Das alles entscheidende Wissen und entsprechendes Handeln entsteht also weder durch Belehrung noch durch Gesetzgebung. Es entsteht dadurch, indem wir Menschen – getragen von einer Berührung – uns selbst in Bewegung versetzen und uns damit als Gestalter eines einsetzenden, neuen Geschehens begreifen. Nehmen wir beispielsweise das bisher ungelöste Problem des sogenannten »grünen Wachstums«, bei dem die Güterproduktion weiterwachsen soll, ohne das Klima zu schädigen. Wachstumskritiker halten dies ökologisch für unmöglich. Ein stagnierendes Wachstum würde das Wirtschaftssystem zusammenbrechen lassen, da es auf beständigem Wachstum basiert. Die Erschließung neuer Energiequellen ist für das Wachstum erforderlich. Historiker wie Ian Morris argumentieren, dass ein kontinuierlich wachsender Energieverbrauch ein grundlegender Wert der Menschheit sei. Wir können jedoch jetzt verstehen, dass eine solche Sichtweise ein deterministisches Menschenbild voraussetzt, in dem alle Mitmenschen primär als manipulierbare Objekte aufgefasst werden. Das hat sich mit der entstehenden, hierarchisch-patriarchalischen Agrarkultur weitgehend durchgesetzt. Aber noch deren Vorfahren hatten ja ein egalitäres Menschenbild und damit die Sprache erschaffen – und damit ungeheure Energien eingespart!
Denn das Sprachmedium dient zur Überwindung von Ungereimtheiten und erzeugt bisher nie dagewesene gedankliche Fluchtpunkte. Dabei entspannt bzw. »relaxiert« das neuronale Substrat und bringt uns auch physisch in eine weniger aufgeladene Situation: so etwa wie bei der Gute-Nacht-Geschichte, die wir unseren Kindern erzählen. Unsere Vorfahren fühlten sich durch Geschichten am Lagerfeuer »aufgehoben«. In diesen gedanklichen Fluchtpunkten entstanden unsere Werte: wachsende Verbundenheit bei gleichzeitiger Autonomie. Diese Sicht auf unsere Entwicklung ist uns aber heute verloren gegangen.
Jeder Mensch erlangt seine Würde, indem er eigene Ziele und Lebensentwürfe entwickeln kann und dadurch widerstandsfähiger gegenüber Manipulationsversuchen wird. Die Demokratie hat nicht erst in Griechenland begonnen, sondern war von Anfang an prägend für die Menschwerdung. Sie folgt einer Logik der bisher nicht richtig erkannten »Berührbarkeit«. Leider wird der wahre Kern der Demokratie heute oft missverstanden. Sie beruht nicht auf »westlichen Werten«, sondern auf wachsender Autonomie bei gleichzeitiger Verbundenheit aller Menschen.
Es bedurfte zweier Weltkriege, um die Menschenwürde klar zu formulieren, die allen Menschen zusteht. Doch stehen wir nun an einem Scheidepunkt, da das vorherrschende deterministische Weltbild dieses Grundkonzept nicht versteht. Es ist keine Ironie, dass die Fortschritte des letzten Jahrhunderts ein Weltbild verbreiten, das der Grundidee der Berührbarkeit – der Fähigkeit zur Bildung neuer Perspektiven – widerspricht. Dies geschieht, wenn wir die Fähigkeit zum Perspektivwechsel verlieren. Es entstehen Konflikte wie Ost gegen West, Arm gegen Reich, Schwarz gegen Weiß, Besitzlose gegen Eigentümer. Der Wahlspruch der Aufklärer: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, wird zunehmend von dem Glauben ersetzt, dass »Daten der Schlüssel zur Beherrschung der Weltgeschehnisse« sind, vorangetrieben durch die Eigeninteressen großer IT-Firmen.
Ein weiteres Beispiel. Derzeit wird ja das Gebäudeenergiegesetz diskutiert. Eine liebe Freundin kämpfte sich durch den bereits vorhandenen Vorschriftendschungel und stellte mit ihren Mietern ihr Haus auf regenerative Energien um. Dieses eigeninitiative Projekt stärkte die Autonomie der Hausgemeinschaft und führte zu Einsparungen beim Energieverbrauch (weniger Verluste, bewusstere Wärmenutzung). So zeichnen sich für die Zukunft zwei Szenarien ab: Im pessimistischen Szenario werden solche Projekte in den kommenden Jahren von wahrscheinlich nicht ausreichend vielen Gruppe umgesetzt (das lässt sich leicht statistisch untermauern). Die ambitionierten Klimaziele werden in diesem Fall nicht erreicht. Ein grundlegendes Beispiel für die Nutzung der Eigeninitiative der Menschen ist die Bildungsförderung – das sogenannte BAföG (Bundesausbildungsförderungsgesetz). Dieses Gesetz setzt dem Bürger keine Vorschriften vor, sondern fördert die Bildung und damit die Autonomie der Mitglieder der Gemeinschaft.
Wir wollen die Erkenntnis festigen, dass wahres Menschsein jenseits von »Gesetzen« liegt, sondern auf geistigem Wachstum bei gleichzeitiger Vermehrung von Freiheit und Verbundenheit beruht. Unsere vorbehaltlose Fähigkeit, tiefe persönliche Verbindungen einzugehen, bildet einen Grundwert aller Menschen – unabhängig von Ländergrenzen. Ein solches Wachstum ist nicht nur wünschenswert, sondern essentiell für die Entstehung der Menschheit – und steht im Einklang mit dem physikalischen Prozess der kontinuierlichen Entstehung von Struktur. (Die Autoren engagieren sich in verschiedenen Aktivitäten wie dem Projekt »Schule im Aufbruch«, https://schule-im-aufbruch.de/).
Wir können uns vor einem »datengetriebenen Weltbild« schützen, indem wir uns wieder auf unsere Autonomie und die Freude am Wissen besinnen. Die zukünftige Entwicklung der KI wird sich in dieses Szenario einordnen. Wir werden verstehen, dass KI keine intrinsische Fähigkeit zur »Berührbarkeit« besitzt, aber wertvolle Unterstützung für gut vorbereitete Aufgaben bieten kann (z. B. gesicherter Einsatz von KI-Systemen in der ärztlichen Diagnostik durch wohlverstandene Qualitätsstandards).
Schließlich können wir auch die Energiekrise bewältigen, wenn wir erkennen, dass eine weltweite Situation der Entspannung uns alle »bewegen« würde. Statt Zerstörung in Gesellschaft und Natur könnten wir mit demselben Impuls gigantische Dimensionen von Autonomie und Verbundenheit erschaffen. Im politischen Geschäft dreht sich vieles um (vermeintliche) Fakten oder um profane Stimmungen. Man hat dabei aber vergessen – weil Menschen in einem objektivistischen Weltbild ja »Objekte« sind –, was es heißt, ein »Menschenfreund« zu sein.
Wir haben die Chance dazu, wenn wir nur selbst tief in uns hineinschauen und mit unseren eigenen Augen in Berührung treten. Dies wäre das optimistische Szenario. Alles, was es braucht, um uns »aufgehoben« zu fühlen.