Nach Jahrhunderten diffuser Kriege war das Gewaltmonopol verstaatlicht worden, mit dem Recht auf Kriegsführung zwischen konkurrierenden Nationalstaaten Europas. Neuen imperialistischen Ambitionen folgend, rüsteten diese auf wie nie zuvor. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts war als Ausgang der sogenannten Gründerkrise der 1870er Jahre ein großer Krieg in Europa absehbar: »Und endlich ist kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit«, schrieb Friedrich Engels 1887. Nicht von ungefähr entwickelte man schon damals vielfältige pazifistische Gedanken, moralisch, ethisch, auch wissenschaftlich fundiert. Deren überwiegend bürgerliche Vertreter (Bertha von Suttner, Ludwig Quidde, Alfred H. Fried, Hellmut v. Gerlach u. a.) hielten nationale Verteidigungskriege für legitim, ohne die aufziehenden Gefahren des neuen Imperialismus zu erkennen. Sie trafen sich auf Friedenskonferenzen, meinten es zweifellos gut, erreichten aber nicht viel und waren schon 1914 verstummt. Bereits damals wurden Pazifisten überschrien von einer rhetorischen Kriegsmobilisierung der Willigen. Es gab dann ja auch – außer Karl Liebknecht – keinen Abgeordneten, der im Reichstag gegen die Bewilligung der Kriegskredite stimmte.
Nach den furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege und weiterer hundert lokaler Kriege seit 1945 ist von vielen noch immer selbst denkenden Menschen weltweit alles, aber auch wirklich alles Erforderliche zum Thema Friedenssicherung gedacht, gesagt und geschrieben worden – ohne dass das alles auch nur einen einzigen Krieg verhindert hätte. Angesichts nun neuer naher Kriege sei nochmals an die Weitsicht des Friedenskämpfers Kurt Tucholsky erinnert. Er war kein Hellseher, aber imstande, Phänomene früh als Symptome zu erkennen.
- »Im Grünen fings an und endete blutigrot«, so brachte Ignaz Wrobel »die zurückgelegte Wegstrecke vom Frieden zum Krieg, 1913-1918« auf den Punkt. Das war 1919. Nicht vorhersehen konnte er, dass achtzig Jahre später es sich ausgerechnet die Grünen nicht nehmen ließen, in Jugoslawien Auslandseinsätze deutscher Militärs zu rechtfertigen – erstmals nach 1945. Bis heute rufen grüne Politiker verstärkt nach Waffen, die wiederum blutigrot enden.
Tucholsky wusste, dass es immer ökonomische Machtstrukturen und geopolitische Interessen der jeweiligen »nationalen Bourgeoisien« sind, die eine Kriegspolitik bestimmen. Darin sah er die Hauptursache künftiger Konflikte: »Die große Gefahr, die Deutschland durch den immanenten Explosivstoff, den es in sich birgt, heute noch ist, liegt nicht im Stahlhelm, nicht in einer Karnevalgesellschaft von vorgestern, nicht allein bei der Reichswehr. Die wirkliche Gefahr in Deutschland ist der interfraktionelle Stresemann-Typus, den man von den Deutschnationalen bis zur Demokratischen Partei in allen Schattierungen vorfindet.«
Und Tucholsky resümierte, nachdem er in Potsdam im Mai 1927 den Vorbeimarsch einer Stahlhelm-Kolonne gesehen hatte: »Ich gehöre seit 1913 zu denen, die den deutschen Geist für fast unwandelbar vergiftet halten (…), die die verfassungsmäßige Demokratie für eine Fassade und für eine Lüge halten, und die auch heute noch, entgegen allen Zusicherungen und optimistischen Anwandlungen, einen hohlen Stahlhelm für lange nicht so gefährlich halten wie einen seidigen Zylinder.«
Heute tragen die Spitzen unserer nationalen Bourgeoisie selbst in Bayreuth keine seidigen Zylinder mehr, und man müsste präziser von transnationalen Kapital-Vertretern sprechen. Die können etwa die Verteidigungs-Kriegshandlungen der Ukraine unterstützen, obwohl diese Frontstellung und der Wirtschaftskrieg gegen Russland keineswegs im nationalen Interesse der deutschen Wirtschaft liegen. Sanktionsspiralen verursachen mehrseitige Wirtschaftskrisen, so wie Rüstungsspiralen mehr gegenseitige Unsicherheit schaffen. All das zeigt, wie es um eine deutsche Souveränität wirklich bestellt ist. Im Kampf gegen das in der Ferne absehbare Ende der amerikanischen Vorherrschaft in der Welt ist auch Europa keine eigenständige Rolle zugedacht, sondern wird nun den Wechsel einlösen müssen, den ihm die USA nach 1945 ausgestellt hatten – als Eintrittskarte in ihre sogenannte »freie Welt«. Deren Wohlstandsversprechen für alle endete in Klima- und Umweltkrisen, neue Verteilungs-Konflikte stellen die Lebensbedingungen für den größten Teil der Menschheit in Frage. Und dass der Kapitalismus seinen wiederholten großen Wirtschaftskrisen vor allem mit Kriegen und Kapitalzerstörung begegnet, zeigt die Geschichte. Tucholsky schrieb 1922: »Dem geschulten Arbeiter ist heute klar, was dieser Krieg gewesen ist. Er war nicht etwa eine Naturnotwendigkeit, nicht das Aufeinanderprallen zweier Geistesrichtungen, nicht das ›Stahlbad‹ für die Seele eines Volkes. Es war etwas anderes. Dieser Krieg war die natürliche Folge des kapitalistischen Weltsystems.«
Schon früh begriff Tucholsky, dass es in der Weimarer Realität keine Abkehr vom Autoritarismus und Militarismus geben würde. Seine der eigenen Kriegserfahrung entstammenden, aufrüttelnden Militaria-Aufsätze in der Weltbühne, die gewissermaßen die Gräuel des 2. Weltkriegs schon vorwegnahmen, zeigten keinerlei Wirkung.
- Die Losung »Krieg dem Kriege« besagt auch: gegen diejenigen kämpfen, die Kriege inszenieren und dann von all den Kriegen profitieren, die sie von anderen führen lassen, immer von anderen.
»Soldaten sind Mörder!« urteilte Tucholsky. Darf man das heute laut sagen? Unsere Medienwelt tickt ganz anders, sie lässt nur noch die in jedem Krieg auf allen Seiten übliche Propaganda zu, wobei wir heute de jure noch gar nicht direkt Krieg führen, sondern ihn nur aus dem Hinterhalt befeuern. Tucholsky kannte die Bedeutung der Massenmanipulation auch in einer sogenannten Friedenszeit und wiederholte: »Immer mehr zeigt sich, was wahre Kriegsursache ist: Die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen.« Und: »Der moderne Krieg hat wirtschaftliche Ursachen. Die Möglichkeit, ihn vorzubereiten und auf ein Signal Ackergräben mit Schlachtopfern zu füllen, ist nur gegeben, wenn diese Tätigkeit des Mordens vorher durch beharrliche Bearbeitung der Massen als etwas Sittliches hingestellt wird. Der Krieg ist aber unter allen Umständen zutiefst unsittlich.«
Tucholsky sah in der Weimarer Republik eine Zwischenkriegszeit. Bereits 1919 hatte er ja exakt vorausgesagt: »und in abermals 20 Jahren kommen neue Kanonen gefahren«. Er erkannte früh, dass der 1.Weltkrieg fortgeführt würde, wenn seinen Prämissen nicht Einhalt geboten würde: »Diesen latenten Kriegszustand bekämpft man (…), indem man die Verursacher und die Ursachen dieser Wirtschaftsordnung beseitigt. Sie kann keinen Frieden halten, weil sie den Krieg zum Leben braucht.« Mit solch knappen Worten benannte er die Prämissen aller modernen Kriege und misstraute folglich sowohl der Stresemann’schen Außenpolitik als auch dem sogenannten »Geist von Locarno«, der Mitte der 20er Jahre den künftigen Frieden in Europa garantieren sollte: »Wir gehen nicht den Weg des Friedens. Es ist nicht wahr, dass freundliche Gespräche am Genfer See den Urgrund künftiger Kriege aus dem Weg räumen werden: die freie Wirtschaft, die Zollgrenzen und die absolute Souveränität des Staates. (…) Wir stehen da, wo wir im Jahr 1900 gestanden haben. Zwischen zwei Kriegen.«
Tucholsky teilte auch nicht den schon damals propagierten Glauben an die Segnungen des neuen Rechtes auf Selbstbestimmung der Völker, mit dem ja US-Präsident Wilson die Gründung neuer Staaten nach Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie befördert hatte. Er hielt dieses Recht für nur scheindemokratisch, ja, sogar für gefährlich, insofern es nämlich von den realen Machtkonstellationen in Europa absah, bzw. von ihnen ablenkte. Man denke nur an die tödlichen Implikationen der ethnischen Aufladung jenes Prinzips noch bei der späteren Zerschlagung Jugoslawiens – ganz zu schweigen von weiteren zerstörerischen Folgen nach der Auflösung der Sowjetunion, vor denen wir heute stehen!
III. Das Problem der Schaffung eines dauerhaften Friedens beschäftigte damals viele Menschen. In einem Briefwechsel mit Sigmund Freud hatte Albert Einstein 1932 festgestellt, dass »die Minderheit der jeweils Herrschenden vor allem die Schule, die Presse und meistens auch die religiösen Organisationen in ihrer Hand (hat). Durch diese Mittel beherrscht und leitet sie die Gefühle der großen Masse und macht diese zu ihrem willenlosen Werkzeug.«
Gegen solche Manipulierung heutzutage anzukämpfen, die von inzwischen weltweit operierenden Medienkartellen mittels »Verbreitung der Dummheit mit den Mitteln der Technik« (wie es Tucholsky weitsichtig schon 1927 formulierte) die veröffentlichte Meinung gerade in unseren sogenannten Postdemokratien dominiert, stellt uns Nachgeborene vor ein schwieriges Problem. War schon damals die Funktion der Massenmedien, wie Tucholsky in Weimar feststellte, eine »Verschleierung der Wahrheit und Ablenkung vom Wesentlichen«, so müssen wir prüfen, ob und wenn ja, mit welchen Mitteln heute überhaupt noch eine aufklärerische Zielsetzung von Gegeninformation mit Aussicht auf »Wirkung« möglich ist und aufrechterhalten werden kann.
Tucholsky sah auch in den nie erfolgreichen Revolutionen, in den immer erfolgten Klassenkompromissen zugunsten der Herrschenden, einen Grund für die deutsche Misere: »Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen, dass man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können. Wenn wir Andern, die wir hinter die Dinge gesehen haben, die wir glauben, dass die Welt, so wie sie ist, nicht das letzte Ziel für Menschen sein kann, keinen Exekutor unserer geistigen Gesinnung haben, so sind wir verdammt, ewig und auch fürderhin unter Fleischergesellen zu leben, und uns bleiben die Bücher und die Tinte und das Papier, worauf wir uns ergehen dürfen. Das ist so unendlich unfruchtbar, zu glauben, man könne die negative Tätigkeit des Niederreißens entbehren, wenn man aufbauen will.«
Schon im Frühjahr 1920 hatte er seinen widersprüchlichen Empfindungen Ausdruck gegeben: »Wohin führt das alles? Wir wissen es nicht. Töricht, sich dagegen zu sträuben. Töricht, die Zerfallssymptome zu leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstellungen fest und wollt euch einreden, sie seien so nötig und natürlich wie die Sonne, (…) als sei das gute Alte noch nicht tot und werde eines Tages wiederkommen. Es kommt nie wieder (…). Eine Welle flutet über die Erde. Sie ist nicht rein ökonomischer Natur. (…) Es handelt sich nicht nur um die Frage, wie man die wirtschaftlichen Güter der Welt verteilen wird, wer arbeiten und wer ausnutzen soll. Es geht um mehr, um alles. (…) Es dämmert. Und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.« Ich fürchte, heute wissen wir, was es ist. Vor uns steht eine weltweite Militarisierung ungezählter Konflikte als bisher einzige Antwort auf die andauernde Krise des Kapitals – mit flankierenden Propagandaoffensiven.