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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zur Aktualität Tucholskys

Nach Jahr­hun­der­ten dif­fu­ser Krie­ge war das Gewalt­mo­no­pol ver­staat­licht wor­den, mit dem Recht auf Kriegs­füh­rung zwi­schen kon­kur­rie­ren­den Natio­nal­staa­ten Euro­pas. Neu­en impe­ria­li­sti­schen Ambi­tio­nen fol­gend, rüste­ten die­se auf wie nie zuvor. Schon gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts war als Aus­gang der soge­nann­ten Grün­der­kri­se der 1870er Jah­re ein gro­ßer Krieg in Euro­pa abseh­bar: »Und end­lich ist kein ande­rer Krieg für Preu­ßen-Deutsch­land mehr mög­lich als ein Welt­krieg, und zwar ein Welt­krieg von einer bis­her nie geahn­ten Aus­deh­nung und Hef­tig­keit«, schrieb Fried­rich Engels 1887. Nicht von unge­fähr ent­wickel­te man schon damals viel­fäl­ti­ge pazi­fi­sti­sche Gedan­ken, mora­lisch, ethisch, auch wis­sen­schaft­lich fun­diert. Deren über­wie­gend bür­ger­li­che Ver­tre­ter (Ber­tha von Sutt­ner, Lud­wig Quid­de, Alfred H. Fried, Hell­mut v. Ger­lach u. a.) hiel­ten natio­na­le Ver­tei­di­gungs­krie­ge für legi­tim, ohne die auf­zie­hen­den Gefah­ren des neu­en Impe­ria­lis­mus zu erken­nen. Sie tra­fen sich auf Frie­dens­kon­fe­ren­zen, mein­ten es zwei­fel­los gut, erreich­ten aber nicht viel und waren schon 1914 ver­stummt. Bereits damals wur­den Pazi­fi­sten über­schrien von einer rhe­to­ri­schen Kriegs­mo­bi­li­sie­rung der Wil­li­gen. Es gab dann ja auch – außer Karl Lieb­knecht – kei­nen Abge­ord­ne­ten, der im Reichs­tag gegen die Bewil­li­gung der Kriegs­kre­di­te stimmte.

Nach den furcht­ba­ren Erfah­run­gen zwei­er Welt­krie­ge und wei­te­rer hun­dert loka­ler Krie­ge seit 1945 ist von vie­len noch immer selbst den­ken­den Men­schen welt­weit alles, aber auch wirk­lich alles Erfor­der­li­che zum The­ma Frie­dens­si­che­rung gedacht, gesagt und geschrie­ben wor­den – ohne dass das alles auch nur einen ein­zi­gen Krieg ver­hin­dert hät­te. Ange­sichts nun neu­er naher Krie­ge sei noch­mals an die Weit­sicht des Frie­dens­kämp­fers Kurt Tuchol­sky erin­nert. Er war kein Hell­se­her, aber imstan­de, Phä­no­me­ne früh als Sym­pto­me zu erkennen.

  1. »Im Grü­nen fings an und ende­te blu­ti­grot«, so brach­te Ignaz Wro­bel »die zurück­ge­leg­te Weg­strecke vom Frie­den zum Krieg, 1913-1918« auf den Punkt. Das war 1919. Nicht vor­her­se­hen konn­te er, dass acht­zig Jah­re spä­ter es sich aus­ge­rech­net die Grü­nen nicht neh­men lie­ßen, in Jugo­sla­wi­en Aus­lands­ein­sät­ze deut­scher Mili­tärs zu recht­fer­ti­gen – erst­mals nach 1945. Bis heu­te rufen grü­ne Poli­ti­ker ver­stärkt nach Waf­fen, die wie­der­um blu­ti­grot enden.

Tuchol­sky wuss­te, dass es immer öko­no­mi­sche Macht­struk­tu­ren und geo­po­li­ti­sche Inter­es­sen der jewei­li­gen »natio­na­len Bour­geoi­si­en« sind, die eine Kriegs­po­li­tik bestim­men. Dar­in sah er die Haupt­ur­sa­che künf­ti­ger Kon­flik­te: »Die gro­ße Gefahr, die Deutsch­land durch den imma­nen­ten Explo­siv­stoff, den es in sich birgt, heu­te noch ist, liegt nicht im Stahl­helm, nicht in einer Kar­ne­val­ge­sell­schaft von vor­ge­stern, nicht allein bei der Reichs­wehr. Die wirk­li­che Gefahr in Deutsch­land ist der inter­frak­tio­nel­le Stre­se­mann-Typus, den man von den Deutsch­na­tio­na­len bis zur Demo­kra­ti­schen Par­tei in allen Schat­tie­run­gen vorfindet.«

Und Tuchol­sky resü­mier­te, nach­dem er in Pots­dam im Mai 1927 den Vor­bei­marsch einer Stahl­helm-Kolon­ne gese­hen hat­te: »Ich gehö­re seit 1913 zu denen, die den deut­schen Geist für fast unwan­del­bar ver­gif­tet hal­ten (…), die die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Demo­kra­tie für eine Fas­sa­de und für eine Lüge hal­ten, und die auch heu­te noch, ent­ge­gen allen Zusi­che­run­gen und opti­mi­sti­schen Anwand­lun­gen, einen hoh­len Stahl­helm für lan­ge nicht so gefähr­lich hal­ten wie einen sei­di­gen Zylinder.«

Heu­te tra­gen die Spit­zen unse­rer natio­na­len Bour­geoi­sie selbst in Bay­reuth kei­ne sei­di­gen Zylin­der mehr, und man müss­te prä­zi­ser von trans­na­tio­na­len Kapi­tal-Ver­tre­tern spre­chen. Die kön­nen etwa die Ver­tei­di­gungs-Kriegs­hand­lun­gen der Ukrai­ne unter­stüt­zen, obwohl die­se Front­stel­lung und der Wirt­schafts­krieg gegen Russ­land kei­nes­wegs im natio­na­len Inter­es­se der deut­schen Wirt­schaft lie­gen. Sank­ti­ons­spi­ra­len ver­ur­sa­chen mehr­sei­ti­ge Wirt­schafts­kri­sen, so wie Rüstungs­spi­ra­len mehr gegen­sei­ti­ge Unsi­cher­heit schaf­fen. All das zeigt, wie es um eine deut­sche Sou­ve­rä­ni­tät wirk­lich bestellt ist. Im Kampf gegen das in der Fer­ne abseh­ba­re Ende der ame­ri­ka­ni­schen Vor­herr­schaft in der Welt ist auch Euro­pa kei­ne eigen­stän­di­ge Rol­le zuge­dacht, son­dern wird nun den Wech­sel ein­lö­sen müs­sen, den ihm die USA nach 1945 aus­ge­stellt hat­ten – als Ein­tritts­kar­te in ihre soge­nann­te »freie Welt«. Deren Wohl­stands­ver­spre­chen für alle ende­te in Kli­ma- und Umwelt­kri­sen, neue Ver­tei­lungs-Kon­flik­te stel­len die Lebens­be­din­gun­gen für den größ­ten Teil der Mensch­heit in Fra­ge. Und dass der Kapi­ta­lis­mus sei­nen wie­der­hol­ten gro­ßen Wirt­schafts­kri­sen vor allem mit Krie­gen und Kapi­tal­zer­stö­rung begeg­net, zeigt die Geschich­te. Tuchol­sky schrieb 1922: »Dem geschul­ten Arbei­ter ist heu­te klar, was die­ser Krieg gewe­sen ist. Er war nicht etwa eine Natur­not­wen­dig­keit, nicht das Auf­ein­an­der­pral­len zwei­er Gei­stes­rich­tun­gen, nicht das ›Stahl­bad‹ für die See­le eines Vol­kes. Es war etwas ande­res. Die­ser Krieg war die natür­li­che Fol­ge des kapi­ta­li­sti­schen Weltsystems.«

Schon früh begriff Tuchol­sky, dass es in der Wei­ma­rer Rea­li­tät kei­ne Abkehr vom Auto­ri­ta­ris­mus und Mili­ta­ris­mus geben wür­de. Sei­ne der eige­nen Kriegs­er­fah­rung ent­stam­men­den, auf­rüt­teln­den Mili­ta­ria-Auf­sät­ze in der Weltbühne, die gewis­ser­ma­ßen die Gräu­el des 2. Welt­kriegs schon vor­weg­nah­men, zeig­ten kei­ner­lei Wirkung.

  1. Die Losung »Krieg dem Krie­ge« besagt auch: gegen die­je­ni­gen kämp­fen, die Krie­ge insze­nie­ren und dann von all den Krie­gen pro­fi­tie­ren, die sie von ande­ren füh­ren las­sen, immer von anderen.

»Sol­da­ten sind Mör­der!« urteil­te Tuchol­sky. Darf man das heu­te laut sagen? Unse­re Medi­en­welt tickt ganz anders, sie lässt nur noch die in jedem Krieg auf allen Sei­ten übli­che Pro­pa­gan­da zu, wobei wir heu­te de jure noch gar nicht direkt Krieg füh­ren, son­dern ihn nur aus dem Hin­ter­halt befeu­ern. Tuchol­sky kann­te die Bedeu­tung der Mas­sen­ma­ni­pu­la­ti­on auch in einer soge­nann­ten Frie­dens­zeit und wie­der­hol­te: »Immer mehr zeigt sich, was wah­re Kriegs­ur­sa­che ist: Die Wirt­schaft und der dump­fe Gei­stes­zu­stand unauf­ge­klär­ter und auf­ge­hetz­ter Mas­sen.« Und: »Der moder­ne Krieg hat wirt­schaft­li­che Ursa­chen. Die Mög­lich­keit, ihn vor­zu­be­rei­ten und auf ein Signal Acker­grä­ben mit Schlacht­op­fern zu fül­len, ist nur gege­ben, wenn die­se Tätig­keit des Mor­dens vor­her durch beharr­li­che Bear­bei­tung der Mas­sen als etwas Sitt­li­ches hin­ge­stellt wird. Der Krieg ist aber unter allen Umstän­den zutiefst unsittlich.«

Tuchol­sky sah in der Wei­ma­rer Repu­blik eine Zwi­schen­kriegs­zeit. Bereits 1919 hat­te er ja exakt vor­aus­ge­sagt: »und in aber­mals 20 Jah­ren kom­men neue Kano­nen gefah­ren«. Er erkann­te früh, dass der 1.Weltkrieg fort­ge­führt wür­de, wenn sei­nen Prä­mis­sen nicht Ein­halt gebo­ten wür­de: »Die­sen laten­ten Kriegs­zu­stand bekämpft man (…), indem man die Ver­ur­sa­cher und die Ursa­chen die­ser Wirt­schafts­ord­nung besei­tigt. Sie kann kei­nen Frie­den hal­ten, weil sie den Krieg zum Leben braucht.« Mit solch knap­pen Wor­ten benann­te er die Prä­mis­sen aller moder­nen Krie­ge und miss­trau­te folg­lich sowohl der Stresemann’schen Außen­po­li­tik als auch dem soge­nann­ten »Geist von Locar­no«, der Mit­te der 20er Jah­re den künf­ti­gen Frie­den in Euro­pa garan­tie­ren soll­te: »Wir gehen nicht den Weg des Frie­dens. Es ist nicht wahr, dass freund­li­che Gesprä­che am Gen­fer See den Urgrund künf­ti­ger Krie­ge aus dem Weg räu­men wer­den: die freie Wirt­schaft, die Zoll­gren­zen und die abso­lu­te Sou­ve­rä­ni­tät des Staa­tes. (…) Wir ste­hen da, wo wir im Jahr 1900 gestan­den haben. Zwi­schen zwei Kriegen.«

Tuchol­sky teil­te auch nicht den schon damals pro­pa­gier­ten Glau­ben an die Seg­nun­gen des neu­en Rech­tes auf Selbst­be­stim­mung der Völ­ker, mit dem ja US-Prä­si­dent Wil­son die Grün­dung neu­er Staa­ten nach Auf­lö­sung der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Mon­ar­chie beför­dert hat­te. Er hielt die­ses Recht für nur schein­de­mo­kra­tisch, ja, sogar für gefähr­lich, inso­fern es näm­lich von den rea­len Macht­kon­stel­la­tio­nen in Euro­pa absah, bzw. von ihnen ablenk­te. Man den­ke nur an die töd­li­chen Impli­ka­tio­nen der eth­ni­schen Auf­la­dung jenes Prin­zips noch bei der spä­te­ren Zer­schla­gung Jugo­sla­wi­ens – ganz zu schwei­gen von wei­te­ren zer­stö­re­ri­schen Fol­gen nach der Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on, vor denen wir heu­te stehen!

III. Das Pro­blem der Schaf­fung eines dau­er­haf­ten Frie­dens beschäf­tig­te damals vie­le Men­schen. In einem Brief­wech­sel mit Sig­mund Freud hat­te Albert Ein­stein 1932 fest­ge­stellt, dass »die Min­der­heit der jeweils Herr­schen­den vor allem die Schu­le, die Pres­se und mei­stens auch die reli­giö­sen Orga­ni­sa­tio­nen in ihrer Hand (hat). Durch die­se Mit­tel beherrscht und lei­tet sie die Gefüh­le der gro­ßen Mas­se und macht die­se zu ihrem wil­len­lo­sen Werkzeug.«

Gegen sol­che Mani­pu­lie­rung heut­zu­ta­ge anzu­kämp­fen, die von inzwi­schen welt­weit ope­rie­ren­den Medi­en­kar­tel­len mit­tels »Ver­brei­tung der Dumm­heit mit den Mit­teln der Tech­nik« (wie es Tuchol­sky weit­sich­tig schon 1927 for­mu­lier­te) die ver­öf­fent­lich­te Mei­nung gera­de in unse­ren soge­nann­ten Post­de­mo­kra­tien domi­niert, stellt uns Nach­ge­bo­re­ne vor ein schwie­ri­ges Pro­blem. War schon damals die Funk­ti­on der Mas­sen­me­di­en, wie Tuchol­sky in Wei­mar fest­stell­te, eine »Ver­schleie­rung der Wahr­heit und Ablen­kung vom Wesent­li­chen«, so müs­sen wir prü­fen, ob und wenn ja, mit wel­chen Mit­teln heu­te über­haupt noch eine auf­klä­re­ri­sche Ziel­set­zung von Gegen­in­for­ma­ti­on mit Aus­sicht auf »Wir­kung« mög­lich ist und auf­recht­erhal­ten wer­den kann.

Tuchol­sky sah auch in den nie erfolg­rei­chen Revo­lu­tio­nen, in den immer erfolg­ten Klas­sen­kom­pro­mis­sen zugun­sten der Herr­schen­den, einen Grund für die deut­sche Mise­re: »Das ist seit Jahr­hun­der­ten das gro­ße Elend und der Jam­mer die­ses Lan­des gewe­sen, dass man ver­meint hat, der ein­deu­ti­gen Kraft mit der boh­ren­den Gei­stig­keit bei­kom­men zu kön­nen. Wenn wir Andern, die wir hin­ter die Din­ge gese­hen haben, die wir glau­ben, dass die Welt, so wie sie ist, nicht das letz­te Ziel für Men­schen sein kann, kei­nen Exe­ku­tor unse­rer gei­sti­gen Gesin­nung haben, so sind wir ver­dammt, ewig und auch für­der­hin unter Flei­scher­ge­sel­len zu leben, und uns blei­ben die Bücher und die Tin­te und das Papier, wor­auf wir uns erge­hen dür­fen. Das ist so unend­lich unfrucht­bar, zu glau­ben, man kön­ne die nega­ti­ve Tätig­keit des Nie­der­rei­ßens ent­beh­ren, wenn man auf­bau­en will.«

Schon im Früh­jahr 1920 hat­te er sei­nen wider­sprüch­li­chen Emp­fin­dun­gen Aus­druck gege­ben: »Wohin führt das alles? Wir wis­sen es nicht. Töricht, sich dage­gen zu sträu­ben. Töricht, die Zer­falls­sym­pto­me zu leug­nen. Eine Welt wankt, und ihr hal­tet an den alten Vor­stel­lun­gen fest und wollt euch ein­re­den, sie sei­en so nötig und natür­lich wie die Son­ne, (…) als sei das gute Alte noch nicht tot und wer­de eines Tages wie­der­kom­men. Es kommt nie wie­der (…). Eine Wel­le flu­tet über die Erde. Sie ist nicht rein öko­no­mi­scher Natur. (…) Es han­delt sich nicht nur um die Fra­ge, wie man die wirt­schaft­li­chen Güter der Welt ver­tei­len wird, wer arbei­ten und wer aus­nut­zen soll. Es geht um mehr, um alles. (…) Es däm­mert. Und wir wis­sen nicht, was das ist: eine Abend­däm­me­rung oder eine Mor­gen­däm­me­rung.« Ich fürch­te, heu­te wis­sen wir, was es ist. Vor uns steht eine welt­wei­te Mili­ta­ri­sie­rung unge­zähl­ter Kon­flik­te als bis­her ein­zi­ge Ant­wort auf die andau­ern­de Kri­se des Kapi­tals – mit flan­kie­ren­den Propagandaoffensiven.