Der chinesische Außenminister ermahnte Deutschland, die Menschenrechte einzuhalten. Kinder, Familien und alte Menschen würden durch staatliche Maßnahmen systematisch in Armut gedrängt und benachteiligt. Damit beschränke man sie ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die für ihre Würde und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit unentbehrlich sind, zitierte der Minister den Artikel 22 der Menschenrechte. Gleichzeitig kündigte er Wirtschaftssanktionen gegen die EU an: Durch ein militarisiertes Grenzregime gegen Flüchtlinge aus armen, kriegszerstörten Ländern habe sie das Völkerrecht verletzt und gegen den Artikel 14 der Menschenrechte verstoßen; die Maßnahmen hätten bereits zehntausende Menschenleben gekostet.
Die Meldung ist natürlich Fake – mit einer kritischen Spitze: Ungerechte soziale Verhältnisse gelten hierzulande nicht als Verletzung der Grund- und Menschenrechte. Und Ermahnungen, Sanktionen und militärische Interventionen stehen nur uns, den Guten, mit unserer moralischen Überlegenheit zu.
Deutsche Politik hat erfolgreich darauf hingearbeitet, die Klassengesellschaft als etwas Normales und Selbstverständliches erscheinen zu lassen: Die Menschen gewöhnen sich allmählich daran, dass wachsende Armut und Ungleichheit die Verhältnisse vergiften. Der soziale Ort der Geburt bestimmt weitgehend über den Lebensweg – ein Ausdruck feudaler Verhältnisse. Die Bundesregierungen aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen haben die soziale Kluft nicht einmal als änderungsbedürftig behandelt – im Gegenteil. Die Armut von Familien, Kindern und alten Menschen wurde politisch geschaffen, während zahlreiche Minister, Wissenschaftler, Medien und Lobbyorganisationen der Öffentlichkeit und den Betroffenen einredeten, diese seien selbst schuld an ihrem Schicksal. Die Demokratie wurde in eine marktkonforme Veranstaltung zur Legitimation und Aufrechterhaltung undemokratischer Macht- und Besitzverhältnisse verwandelt. Große Teile der Medien verhalfen der Bevölkerung dazu, diese Zustände als alternativlos und unabänderlich hinzunehmen.
Die Fakten sind bekannt. Wir wissen, dass eine seit Jahrzehnten wachsende Kinderarmut dafür sorgt, dass etwa ein Viertel der jungen Generation ihrer Grund- und Menschenrechte beraubt wird, denn für sie gelten viele dieser für andere selbstverständlichen Rechte nur auf dem Papier. Wir wissen, dass Gesetze dafür gemacht werden, dass ein wachsendes Heer von Familien und Alleinerziehenden in der Angst lebt, sich nicht einmal lebensnotwendige Güter leisten zu können. Die betroffenen Menschen spüren die Verachtung: Sie werden nicht als gleichwertig behandelt. Gesetze sorgen für Reichtum und Macht bei wenigen, für Armut und Ohnmacht bei vielen.
Die Hartz-Gesetze haben die Armut sprunghaft ansteigen lassen. Arbeitsmarktgesetze sorgen dafür, dass Niedriglöhne nicht zum Überleben reichen, schon gar nicht im Alter. Mehrmals hat das zuständige Ministerium Anfragen der Linkspartei in dem Sinn beantwortet, dass jemand, der oder die 45 Jahre lang voll arbeitet, knapp 13 Euro pro Stunde verdienen muss, um auf die Grundsicherung im Alter zu kommen. Der Mindestlohn beträgt aber 9,60 Euro. (Und auch die angekündigte schrittweise Erhöhung auf 10,45 Euro ab dem 1. Juli 2022 ist weit von den 13 Euro entfernt.) Verwunderlich ist also nicht die wachsende Altersarmut, sondern die geheuchelte Bestürzung über diese Entwicklung. Aber arme Alte sterben ohnehin acht bis zehn Jahre früher als die Wohlhabenden; die Rentenphase erleben sie nur kurz. Auch eine den Bedürfnissen entsprechende bezahlbare Wohnung ist für immer weniger Menschen selbstverständlich, vielmehr ein seltener Glücksfall. Eine Daseinsvorsorge, die menschlichen Grundbedürfnissen gerecht wird? Alle wissen, dass die Regierungspolitik entgegengesetzte Prioritäten setzt: Sie verschenkt die Grundversorgung zur Profitmaximierung an potente Investoren. Hunderttausende Wohnungen im Besitz von Spekulanten, die Gesundheit eine Ware, Altenheime in der Hand von börsennotierten Unternehmen; eine Steuerpolitik, die den Reichen riesige Milliardenbeträge zuschanzt; Banken, denen Gesetze vollkommen egal sind. Die Machtelite behandelt Demokratie und Gesetze als lästiges Übel.
Armut und Reichtum werden zwar regierungsamtlich bilanziert, wenn auch entschärft und beschönigt. Seit Jahrzehnten verfolgen Interessierte die Statistiken zur Kinderarmut, einschließlich daraus erwachsender Ungerechtigkeiten und Schäden. Alle kennen die Not von Flüchtlingen und von Arbeiterinnen und Arbeitern in Fleischkonzernen oder auf den Spargelfeldern. Aber die wenigen Medien und Parteien, die die Ursachen von Armut und Ungleichheit, Naturzerstörung und kriegsfördernder Militarisierung analysieren und benennen, werden gern vom Verfassungsschutz beobachtet. Denn ihr Tun gefährde angeblich das Staatswohl. Wenn überhaupt, bekommt ein Armutsforscher wie Christoph Butterwegge oder ein Verbandsvorsitzender wie Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband ab und zu einen Platz in einer der staatstragenden Talkshows.
Natürlich kennt die Bundesregierung die zentralen Forderungen für soziale Gerechtigkeit – Stichworte: Vermögensteuer, Erbschaftssteuer, existenzsichernder Lohn, Abschaffung der Hartz-Gesetze, Bekämpfung der asozialen Steuerflucht und -vermeidung, Stärkung der staatlichen Rente. Nichts davon konnte in jahrzehntelangen Kämpfen durchgesetzt werden oder nur in homöopathischen Dosen, um Revolten wie in Frankreich oder hilflosen Protesten an der Wahlurne vorzubeugen. Statt Sozialstaat erleben wir eine Politik, die die Gesellschaft zerreißt; die Zahl der Menschen, die sich abgehängt, ausgegrenzt und verachtet fühlen, wird immer größer.
Wer darauf vertraut hatte, das Bundesverfassungsgericht würde die Regierung dazu anhalten, den sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen, also für angemessenen sozialen Ausgleich und für die faktische Geltung der Grundrechte für alle zu sorgen, der schaue sich das Grundsatzurteil zu Hartz IV von 2010 an. Für die Betroffenen brachte es keinerlei Verbesserungen. Als der Autor sich mit der Frage an einen Professor der Bundeswehruniversität wandte, wie man den sozialen Rechtsstaat einklagen könnte, kam die ernüchternde Antwort: »Glauben Sie denn wirklich, dass ein globaler Kapitalismus sich von der Normativität einer nationalen Verfassung auch nur irritieren lassen würde? (…) Nein, gegen diesen Gegner wird Ihnen eine Verfassung keine besonders hilfreiche Bundesgenossin sein können.« Die Wut über all die Abzocke der Machtelite korrespondiert mit der Ohnmacht der Menschen, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern.
Der Bundesregierung sind Kinder- und Altersarmut allenfalls lästig, weil sie ihr Image als Vertretung der Interessen der Bevölkerung ankratzt. Der Staat sorgt real als »ideeller Gesamtkapitalist« für die Seinen – und das sind nun mal nicht die prekär Beschäftigten – und versucht die Frage zu unterdrücken: Für wen sollte er eigentlich da sein? Das »Naturgesetz« des Kapitalismus zeichnet sich deutlich ab: Die herrschende Klasse häuft Macht und Reichtum ohne Rücksicht auf Verluste an, wird dabei aber blind für gefährliche Folgen für das System, also die selbst verursachten Krisen, Katastrophen und Kriege. Unter denen hat immer die Klasse der Besitzlosen zu leiden.
Fazit: Die systematische Benachteiligung und die Ungerechtigkeit belasten die Menschen, zerreißen die Gesellschaft und fördern Entwicklungen zu Verrohung und autoritärem Nationalradikalismus. Hoffnung kommt vor allem von jenen, die ihre Wut nicht in Resignation oder rechte Ressentiments umwandeln, sondern aktiv werden für ihre Menschenrechte, wonach das »Ideal vom freien Menschen, der frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenso wie seine bürgerlichen und politischen Rechte genießen kann«, wie es in der Präambel der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte heißt. Sie vertrauen nicht darauf, dass der »Staat des Kapitals« (Johannes Agnoli) sich durch Argumente überzeugen lässt und Politik für die breite Bevölkerung macht.
Armut und Ungleichheit lassen sich nicht karitativ, sondern nur politisch lösen. Warum nicht konkrete Ergebnisse verlangen und Fristen festlegen? Etwa so:
Das Maß für Ungleichheit, der Gini-Koeffizient, ist bis zum Jahr 2030 auf die Hälfte zu senken!
Der Prozentsatz armer Kinder ist in der nächsten Legislaturperiode zu halbieren, ebenso die Quote der Altersarmut.
Eine regierungsunabhängige Kommission sorgt dafür, dass der Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention umgesetzt wird: Alle Gesetze und Verordnungen müssen danach das Wohl der Kinder vorrangig berücksichtigen (dann fallen die Hartz-Gesetze automatisch).
Sozialverbände bekommen ein Klagerecht, um die reale Geltung der Grundrechte für alle Menschen durchzusetzen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
Unabhängige Gutachter entscheiden über Entschädigungen für die Generationen von Kindern, die auf Grund ihrer sozialen Herkunft systematisch benachteiligt wurden und ihre Grundrechte auf Gesundheit, Bildung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit nicht realisieren konnten.
Das ist unrealistisch? Konzernen wird doch das Recht zugebilligt, Staaten auf entgangene Gewinne zu verklagen – auf Kosten der Bevölkerung! Also: System Change, not Symptom Change.
Träum weiter, werden viele sagen. Ja, träumen wir weiter von der Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte und der UN-Kinderrechtskonvention, nicht nur in anderen Weltgegenden, in denen sie Deutschland heuchlerisch propagiert – und tun wir was dafür. Poor Lives Matter!