Jeder Friedhofsbesuch führt vor Augen, wie unterschiedlich Lebenszeiten bemessen sind. Es gibt Gräber derer, denen ein Leben schon gleich gar nicht zuteil ward, in der »Blüte ihrer Jahre« und »vorzeitig« aus ihm Gerissener, sowie jener, deren Beeinträchtigungen und unbesiegbare Krankheiten ihre Lebensspanne verkürzten. Um all diese – hier ohne Anspruch darauf, sie erfassen zu können – Erwähnten kümmern sich Grundsätze staatlicher Sozialpolitik. Das Folgende beschäftigt sich mit denen, die nach ihrer Geburt zu eigenständiger Bewältigung ihrer Lebensumstände nicht (mehr) in der Lage sind; denen, die einen frühen oder späteren, jedoch auf jeden Fall einen leidensbeschwerten Gang zum Ende hinnehmen müssen.
Es gibt dazu, wie solchem Ergehen Linderung und erleichternde Begleitung zu verschaffen ist, zwei grundsätzliche Vorgehensweisen: einen stationären und einen ambulanten Ansatz. Noch koexistieren beide, aber im ständig weiterreformierten Krankenhausbereich fortschrittlicher Gesundheitspolitik gewinnt der letztere, da wirtschaftlicher organisierbar, über den ersteren zunehmend die Oberhand: All das, was nicht als absolut unumgänglich und möglichst effizient zu Behandelndes definiert ist, kann ausgelagert und – falls wiederum unumgänglich, ambulant assistiert – »Nächsten und Liebsten« zum Sich-Kümmern übergeben, also zu selbst zu verantwortender »Privatsache« gemacht werden. (Ein Schwein, wer Angehörige »einfach« in allgemeine Obhut »abschieben« »will«.)
Dieser Trend scheint auch auf den Umgang mit Eingeschränkten, chronisch Kranken und Alten schleichend, dabei aber immer merklicher, »abzufärben«. Diese praktische Wende, derer sich auch staatliche und karitative Einrichtungen zunehmend befleißigen, wird in öffentlicher Diskussion weniger in ihren spezifischen Auswirkungen auf die Klientel gesellschaftlicher Fürsorge behandelt; das ist die Domäne haushälterischer Gremien. Im Diskurs dominieren ethische Grundsätze, Werte und Rechte und damit ein Abgehobensein von dem, was einem schweren Leben und dessen letztem Abschnitt konkret zuträglich sein könnte.
Das hergebrachte und zunehmend für zumindest überholt erachtete Bewältigungsmodell fasst(e) Beeinträchtigte und Pflegebedürftige an einem Ort zusammen, der infrastrukturell und logistisch so gestaltet ist, dass er deren Betätigung im Rahmen ihrer Voraussetzungen erlaubt und, von zeitweilig bis rundum, Voraussetzungen für Betreuung über eine Skala je nach Einschränkung erforderlicher Betreuungsmaßnahmen bietet.
Demgegenüber wird »zeitgemäßer« die Unterbringung von Unselbständigen und Pflegebedürftigen an kleinen, jeweils für diese geeigneten Standorte favorisiert, deren infrastruktureller Zuschnitt, soweit man davon reden kann, auch »normal« ausfällt. Im Idealfall an Stelle der bisherigen und noch in der Mehrzahl befindlichen Betreuungszentren. Die, die bisher in Klinikums- und ähnlichen Einrichtungen und mit entsprechendem 24/7-Personal, Auslauf und Parks untergebracht sind, könnten/sollten in größtmöglichem und zugleich ihre Situation berücksichtigendem Ausmaß in »sozialverträglichen Standardumgebungen« eine bekömmliche Bleibe finden.
Sicher ist nicht jede Person, die im traditionellen Modell – Senioren-/Pflegeheimen u. ä. – lebt, unfähig, ihren Erfordernissen mit entsprechenden Hilfsmitteln auch »außerhalb« nachzukommen. Aber: Bliebe nicht ein großer und wahrscheinlich stark wachsender Rest derer, die nur dadurch »könnten«, auch wenn sie realiter nicht könnten, dass sie mit Abschmelzen des alten alternativlos auf das moderne Modell verwiesen wären?
Wie gesagt wird gegen den traditionellen Ansatz Weltanschauliches ins Feld geführt.
- Im alten Modell wurden – und das ist unbestreitbarer geschichtlicher, mittlerweile amtlicher und auch von involvierten Trägern anerkannter Fakt, der auch schon vor dem deutschen Faschismus von Staaten allgemein praktiziert wurde – »Lebensuntaugliche und -unwerte« zusammengefasst, segregiert, vernutzt und ermordet.
- Somit (?) ist die Existenz von »Gebieten für spezielle Fälle und Erfordernisse« eine Ghettoisierung, die die dort Lebenden als nicht zugehörige weniger Leistende stigmatisiert.
- Dadurch, dass Einschränkungs- und (hoffnungslose) Pflegefälle in Zentren als Goldfischglas-Kollektiv »nur« ein Leben mit solchen führen, denen es auch schlecht geht, werden sie vom ermutigenden »Leben der Anderen« abgekapselt und gehen der Hilfe verlustig, die letztere ihnen bei Bedarf sicher zukommen lassen.
- Inkludiert steht ihnen zwar kein Park für Behinderte (mehr) zur Verfügung, aber Dabeisein ist schließlich alles. Man muss sich halt einfach etwas mehr vorsehen bei der Teilhabe am brandenden Bürgersteigverkehr zusammen mit anderen. Das lernt man schon noch. Merke: Rollstuhljahre sind keine E-Rollerjahre.
Nun, das letzte war jetzt aber ziemlich polemisch. Trotzdem und nach Blutdruckabsenkung: Die Etablierung von Bereichen, die für bestimmte Vorhaben reserviert sind (Industriegebiete, Rotlichtbezirke, Bombodrome, you name it), ist keine Ghettoisierung; dazu gehört Bestimmtes. Dieses blenden die Werte von Inklusion und Exklusion an sich aus. Es gibt Hochpreisghettos, »gated communities« derer, die sich mit ihnen vor einer Inklusion im Pöbel schützen, und Konsumartikel adeln sich mit einem »exclusively for you«, das so manches »Wow«! verdient.
Deshalb nochmals und ganz ruhig gefragt: Könnte es nicht sein, dass sich staatlich geförderte Sozialmaßnahmen dadurch als zukunftstauglich erweisen, dass sie sich bezahlter machen? Indem man vormals eingehegten Grund und Boden für wirklich Rentables freigibt und dafür Pflegedienstmobile durch Stadt und über Land rasen lässt? Kommen sie zu spät – Krankheit/Tod richtet sich nicht nach Taktung … Nun, mein Gott: Schicksal eben – aber ein inkludiertes. Darauf kommt es an.
Eine Skepsis dem innovativ flexibilisierten Konzept gegenüber macht das herkömmliche nicht zu einem Schlaraffenland oder einer Sommerfrischleridylle. So etwas gibt es zwar auch, in Form von luxuriösen Altersresidenzen, z. B. in Bel Air oder im Taunus, aber eben exklusiv für den »Gipper« und andere Betuchte, was in diesem Nicht-Sozialfall nicht beanstandet, sondern als wohlverdient betrachtet wird. In der Regel haben sich Einrichtungen analog zu Krankenhäusern daran zu bewähren, dass ihnen Mittel für Instandhaltung und Weiterbetrieb verknappt werden. Wenn Zentren also zu Selbstzerstückelung übergehen, so nicht aus freiem Beschluss, sondern aus finanzieller Not. Und bei ihrer Suche nach geeigneten Standorten müssen sie sich mit dem Maklermantra »Lage, Lage, Lage«, der Bedienbarkeit von Wohnungs- und Grundstückspreisen, auseinandersetzen. Das führt dann eben öfter zur Inkaufnahme von ziemlich trostlosen, monotonen Umfeldern, in denen David Bowie Heinz Schenk heißt. »Erbarmen«!
Da bleiben wohl nur noch ein Einbuchen ins »Best Exotic Marigold Hotel« und dessen Beteuerung: »Am Ende wird alles gut – und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende«. Damit muss sich doch leben lassen.