Liebe Leserin, lieber Leser, stellen Sie sich vor: Sie sitzen im Wartezimmer Ihres Hausarztes und werden aufgerufen: »Herr Münchhausen, bitte ins Behandlungszimmer eins!« Dann können Sie gewiss sein, dass sich alle Patienten nach Ihnen umdrehen würden und auch nicht erstaunt wären, flögen Sie auf einer Kanonenkugel ins Arztzimmer. Münchhausen ist ein Name, den wohl jeder kennt. Andere mussten ein großes Reich gründen oder ein Meisterwerk schaffen, um berühmt zu werden – Münchhausen genügten ein paar Geschichten. Doch wer war Ihr fiktiver Vorfahre, dem Sie diese Bekanntheit verdanken?
Die meisten halten den sogenannten Lügenbaron für eine literarische Figur. Sie haben die Rechnung aber ohne Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen gemacht, der vor 300 Jahren, genauer am 11. Mai 1720, in Bodenwerder an der Weser geboren wurde. Die Familie von Münchhausen ist ein altes niedersächsisches Adelsgeschlecht. Der Vater, ein Oberstleutnant der Kavallerie, Georg Otto von Münchhausen (1682 – 1724) starb früh, so dass der kleine Hieronymus mit seiner Mutter und sechs Geschwistern auf dem Gut in Bodenwerder aufwuchs. Im Alter von zwölf Jahren schickte man ihn als Pagen zu Verwandten ins 20 Kilometer entfernte Schloss Bevern. 1737 übernahm ihn dann Prinz Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1714 – 1776) als Pagen.
Da der Prinz der Verlobte von Anna Leopoldowna, einer Nichte von Zarin Anna I., war, folgte ihm der junge Münchhausen an den Zarenhof in St. Petersburg. Zahlreiche Erfahrungen während der mehrmonatigen Winterreise 1737/38 fanden später ihren Niederschlag in den Lügengeschichten. Kaum in Petersburg angekommen, folgte er seinem Herrn in den Russisch-Österreichischen Krieg gegen die Türken. Vermutlich geht die berühmte Geschichte mit dem Ritt auf der Kanonenkugel auf die Belagerung der osmanischen Krim-Festung Otschakow zurück.
Im Juli 1739 fand die glanzvolle Hochzeit von Anton Ulrich und Anna Leopoldowna in Petersburg statt. Ein Jahr später kam ihr Sohn Iwan VI. zur Welt, der nach dem Tod der Zarin Anna im Alter von zwei Monaten zum Zaren und Kaiser inthronisiert wurde. 1741 kam es jedoch zum politischen Umsturz, und die neue Zarin Elisabeth Petrowna entthronte den Säugling und schickte seine Eltern in die Verbannung.
Münchhausen, 1739 zum Fähnrich (1740 zum Leutnant) der russischen Braunschweig-Kürassiere ernannt, die in der zum russischen Zarenreich gehörenden Garnisonsstadt Riga stationiert waren, erlebte die Intrigen und Machtkämpfe am Petersburger Hof nur aus der Ferne. Während des Umsturzes kämpfte er mit seinem Regiment im Russisch-Schwedischen Krieg in Finnland. Vielleicht rettete ihn dieser Einsatz vor der Verbannung, die viele Anhänger von Anton Ulrich und Anna Leopoldowna jahrelang erleiden mussten. Die militärische Karriere war unter diesen Umständen allerdings beendet, erst 1750 wurde er zum Rittmeister befördert.
Münchhausen lebte in Riga; er verkehrte in deutsch-baltischen Adelskreisen und kam hier sicher mit der livländischen Erzähltradition in Berührung. Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem Gutsbesitzer und Jagdgefährten Georg Gustav von Dunten, der seine Wurzeln ebenfalls in Niedersachsen hatte. 1744 heiratete Münchhausen dessen Tochter Jacobine, und das Paar lebte sechs Jahre auf dem Gutshof der Familie, ehe es nach Niedersachsen zog. Nach der Klärung der Erbschaft übernahmen Hieronymus und Jacobine den Gutshof in Bodenwerder, wo sie oft Gäste empfingen. Im geselligen Kreis von Freunden und Bekannten wurde Münchhausen regelrecht zum Entertainer, gespickt mit Jägerlatein und jeder Menge Humor gab er seine fantasievollen Geschichten zum Besten.
Nach fast fünfzigjähriger Ehe starb Jacobine 1790, und Münchhausen stürzte in eine schwere Krise. Vier Jahre später heiratete der nun schon 74-Jährige sein Patenkind, die 20-jährige Bernhardine Brunsig von Brunn. Nach schlimmen Zerwürfnissen reichte er jedoch bereits nach wenigen Monaten die Scheidung ein; bei dem demütigenden Prozess verlor er sein ganzes Vermögen. Am 22. Februar 1797 starb Hieronymus von Münchhausen einsam und verarmt.
Münchhausen hat seine Geschichten niemals schriftlich festgehalten, vielmehr haben andere sie ihm abgelauscht und veröffentlicht. Bereits 1781 erschienen die ersten Erzählungen in der Schwanksammlung »Vademecum für lustige Leute«, die einem Herrn von M-h-s-n zugeschrieben wurden. Als die »Wunderbaren Reisen des Freiherrn von Münchhausen« 1786 anonym erschienen, war der Betroffene tief verletzt. Man hatte nicht nur seine Geschichten gestohlen, sondern auch seinen Namen. Er wurde als »Lügenbaron« etikettiert – eine Beleidigung für einen Edelmann. Als »Übeltäter« vermutete der Geprellte die Dichter Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) oder Gottfried August Bürger (1747 – 1794). Münchhausen wollte beide verklagen, außerdem den Verleger. Nur mit Mühe konnte man ihn davon abhalten. Erst viel später stellte sich heraus, dass Bürger das »Schlitzohr« war; er hatte jedoch nur mehrere (ebenfalls anonyme) englische Vorlagen (erschienen 1785/86), die der deutsche Gelehrte Rudolf Erich Raspe (1736 – 1794) für das britische Lesepublikum verfasst hatte, rückübersetzt und noch einige Geschichten hinzugefügt. Das »Münchhausen«-Buch wurde Bürgers populärstes Werk, während Raspe bald in Vergessenheit geriet. Ihre Veröffentlichungen waren der Auftakt für eine unübersehbare Menge von Münchhausen-Ausgaben bis zum heutigen Tag.
Anlässlich des Münchhausen-Jubiläums ist in der beliebten Minibibliothek des Buchverlages für die Frau ein kleiner Porträtband zum »Lügenbaron« erschienen. Neben der Biografie des echten Hieronymus Freiherr von Münchhausen berichtet der Publizist Erik Gloßmann auch über jene, die ihn mit ihren Veröffentlichungen berühmt gemacht haben. Abschließend haben in dem Büchlein einige Münchhausen-Geschichten das letzte Wort. Manche davon sind nach über zweihundert Jahren immer noch Schullektüre – angefangen vom Ritt auf der Kanonenkugel, den Enten an einer Schnur oder wie sich Münchhausen samt seinem Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Das Besondere an seinen Lügengeschichten besteht darin, dass sie bei all ihrer Absurdität und obwohl jeder weiß, dass sie gelogen sind, doch seltsam glaubhaft wirken. Münchhausen wollte mit seinen Geschichten einfach unterhalten …, und sie sind immer noch ein toller Zeitvertreib, besonders im Wartezimmer.
Erik Gloßmann: »Münchhausen«, Buchverlag für die Frau, 128 Seiten, 5 €