In seinem gleichnamigen autobiografischen Buch ist sich Markus Meckel bei der Analyse seiner Rolle als Mitbegründer der Ost-SPD und als ein politischer Akteur der deutschen Vereinigung treu geblieben. Wie er sich hier präsentiert, habe ich ihn schon Anfang der 1990er Jahre, zusammen mit Patrick von zur Mühlen, erlebt, als wir ihn für unserer Buch »Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989« interviewten und mit ihm diskutierten. Dort entgegnete ich ihm u. a.: »Was mich wirklich maßlos stört (…), dass Sie sich darstellen als Subjekt von Geschichte, die Sie in Wirklichkeit gar nicht waren. Als gäbe es von der Grundlage Ihrer programmatischen Aussagen von 1989 zur jetzigen Entwicklung eine ungebrochene Kontinuität. Das ist meiner Ansicht nach eine Verlogenheit, eine Unredlichkeit oder doch eine Verdrängung von gigantischem Ausmaß. Sie wollten nicht die Angliederung an die Bundesrepublik: Sie ist gekommen! Sie wollten einen nicht-kapitalistischen Weg: Ein kapitalistischer Weg ist gekommen! Sie wollten mehr soziale Gerechtigkeit: Wir haben jetzt in Ostdeutschland eine viel größere soziale Ungerechtigkeit als je zuvor.«
Bei allen Verdiensten, um die sich Meckel in diesen, von ihm selbst geschilderten, höchst widersprüchlichen Prozessen bemüht hat, auch in seiner Rolle als temporärer SPD-Außenminister in der Koalitionsregierung unter de Maiziére, so ist seine historische Analyse dennoch voller Selbsttäuschungen, weil er zwischen seinen eigenen, damaligen politischen Intentionen und den enttäuschenden Resultaten nicht wirklich ungeschminkt bilanzieren kann.
Sicherlich, nicht nur er hat sich für die Festschreibung der polnischen Westgrenze, für die Einwanderung sowjetischer Juden und für den Erhalt der Bodenreform im Vereinigungsprozess Verdienste erworben, aber er ist dabei zugleich einer vielfachen Selbstbelügung aufgesessen, um seiner »Heldengeschichte« eine Kontinuität und historische Wirksamkeit zuzuschreiben, die dem wirklichen Geschichtsverlauf in keiner Weise gerecht wird. Sollte die Gründung einer neuen sozialdemokratischen Partei den undemokratischen Führungsanspruch der SED-Spitze infrage stellen, ging dies bis heute mit der erneuten Spaltung im linken Parteienspektrum einher, das seine gemeinsame politische Gestaltungskraft eher schwächte als stärkte, wie sowohl der dramatisch schwindende Wählerzuspruch von konkurrierender SPD und Linkspartei beweist als auch der Aufstieg der rechtsradikalen AfD. War eine europäische Friedensordnung gewollt, haben wir eine radikale Ausweitung der Aufrüstung und der Nato nach ganz Osteuropa erlebt sowie viele Kriege, an denen der Westen, weltweit, führend beteiligt war und die zugleich, opferreich für alle Seiten, gescheitert sind – während der »Kalte Krieg« gegen Russland und China fortgesetzt wird. Von einer Bewahrung der Schöpfung sind wir Lichtjahre entfernt, auch angesichts der jüngsten Pandemie. Statt einer tieferen Aufarbeitung der NS-Geschichte erleben wir einen Nationalismus und Rassismus in Deutschland wie nie zuvor.
Meckel ist auch als führender Mann der staatsnah finanzierten »Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, wie viele andere auch, der gefährlichen Selbsttäuschung erlegen, dass die DDR nur ein »Unrechtsstaat«, eine »2. deutsche Diktatur« war, die immer wieder mit der NS-Diktatur quasi eingeebnet wurde. Innerhalb der DDR-Kirchen gab es aber, trotz Stasi-Beobachtung, ein höchst privilegiertes Leben, wie Meckel auch zugibt. Und es konnte sich in einer inneren sowie in einer Ost-West-Vernetzung eine Oppositionsbewegung entwickeln, wie sie nie in der NS-Diktatur möglich gewesen wäre; auch dadurch konnte das offenbar reformunfähige staatssozialistische System von Innen mit aufgesprengt werden. Er wird zugleich übergangen, dass es diese, wenn auch sehr späten Reformbemühungen gleichfalls innerhalb in der SED gegeben hat und nicht nur in der KPDSU unter Gorbatschow.
Meckel ist durch die Gesinnung seines Vaters, der im 2. Weltkrieg Offizier der deutschen Wehrmacht war, in starkem Maße geprägt worden. Eine wirklich gründliche Aufarbeitung der NS-Zeit durch seinen Vater ist bei ihm Zuhause nie wirklich erfolgt. Jedenfalls hat sein Vater kaum darüber mit ihm gesprochen, wie Meckel selbst zugibt. Auch die Rolle seiner Mutter, die vier Kinder fasst im Alleingang in dieser Pfarrersfamilie erzogen hat, kommt so gut wie nicht bei ihm vor. Meckel ist also eher als Antikommunist, in gewisser Kontinuität zur NS-Zeit, sozialisiert worden – Sympathie seines Vaters mit der Bekennenden Kirche her oder hin. Dessen ist sich Meckel nie wirklich bewusst geworden. Deshalb konnte er auch bis heute nicht verstehen, warum sozialistische Revolutionen legitime welthistorische Versuche waren, um die universellen sozialen Spaltungen und die elende Rückständigkeit zu überwinden.
Delegitimierung durch Enddifferenzierung, aber auch Enddifferenzierung für die eigene Legitimierung ist Meckels historisches Strickmuster – darin ist er vielen »Aufarbeitern« ähnlich. Das alles erinnert mich deshalb an das ambivalente Erbe des Reformators Martin Luthers, der zwar die Anachronismen der Katholischen Kirche im Protestantismus zu überwinden versuchte, aber zugleich mit dem vorherrschenden Adel, die berechtigten Bauernaufstände niederzuringen half und auch die aufstrebende, frühbürgerliche Emanzipation, in Form der Juden, bekämpfte. Er kann deshalb auch nicht verstehen, warum die sozialistischen. Revolutionen eine Frühform der Überwindung kapitalistischer Gesellschaftsordnung und ihrer zutiefst ungerechten sozialen Spaltung darstellten und es letztlich einer Synthese der emanzipatorischen Momente des Reformsozialismus und des Reformkapitalismus in Zukunft bedarf. Insofern offenbart sich sein historisches Geschichtsverständnis in diesem Buch eher als begrenzt und reaktionär, statt als zukunftsweisend.
Markus Meckel: Zu wandeln die Zeiten. Erinnerungen, Leipzig 2020, 512 S. 29,80 €.