Gerade hat die Anti-Atom-Bewegung die Atomkraft ausgeknipst. Am 15. April gingen die letzten drei Atomkraftwerke – Isar 2, Neckarwestheim und Emsland – vom Netz. Dennoch geht hier das Licht nicht aus, auch nicht nach dem Ende des – letztendlich überflüssigen – Streckbetriebs, den die Ampelkoalition auf Druck der FDP und unter Verweis auf mögliche Energie-Engpässe als Folge des Ukraine-Kriegs noch durchgedrückt hatte. Stattdessen drehen sich zunehmend Windräder und sammeln Kollektoren das Sonnenlicht ein.
Vielen Menschen war zuvor ein Licht angegangen. Sie ließen sich von staatlichen und wirtschaftlichen Versprechungen nicht blenden, sie widerstanden der Propaganda der Atomindustrie und staatlicher Repression, sie wehrten sich auf der Straße und auf der Schiene, in Gerichtssälen, zu Wasser und in luftigen Höhen gegen das Restrisiko, das ihnen bei einem schweren atomaren Störfall den Rest gegeben und weite Teile Europas unbewohnbar gemacht hätte. Radioaktive Strahlung kennt bekanntlich keine Grenzen.
Den Anfang der Erfolgsgeschichte markierte der Kampf um das AKW Wyhl. Der Aktivist Axel Mayer kennt das historische Datum: »Am 18. Februar 1975 wurde im Wyhler Wald Geschichte geschrieben. Es war der Tag des Baubeginns für die geplanten AKW. Männer und Frauen stellten sich mit ihren Kindern vor die Baumaschinen und brachten diese zum Stillstand, um ihre bedrohte Heimat zu schützen. Es folgte die erste Räumung des Platzes durch die Polizei am 20. Februar. Nach einer Großkundgebung am Sonntag, den 23. Februar 1975 kam es zur zweiten Besetzung.«
Trotz des großen Anfangserfolgs sah der Zukunftsforscher Robert Jungk in der Nutzung der Atomkraft vor allem zwei neue Formen der Gewalt. Er schrieb in seiner Dystopie Der Atomstaat: »Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtet sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn ›Atome für den Frieden‹ unterscheiden sich prinzipiell nicht von ›Atomen für den Krieg‹. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie.«
Jungk warnte vor dem »harten Weg« bei der Nutzung der Atomkraft. Die Symbiose aus Überwachungsstaat und Profitinteressen der Energiekonzerne führe zu einem Verlust an Freiheit und Menschlichkeit. Atomanlagen, Atomtransporte müssten zum Schutz vor Sabotage und Anschlägen überwacht werden. Die Bespitzelung von Privatpersonen, die sich in zahllosen Bürgerinitiativen organisierten, und deren Stigmatisierung als Chaoten und Kriminelle – ein bekanntes Beispiel war die Ausforschung des Atommanagers Klaus Traube, zuständig für die Entwicklung des Schnellen Brüters in Kalkar, der die Seiten wechselte und zum Kritiker der Schnellen Brütertechnologie wurde – schienen Jungks Thesen zu bestätigen.
Mit der Auseinandersetzung um den Bau des AKW Brokdorf (1976) und des Nuklearen Entsorgungszentrums (NEZ) Gorleben (1977) sprang der widerständige Wyhler Initialfunke auf Norddeutschland über. Bereits zehn Jahre nach der Benennung Gorlebens als Standort für das NEZ würdigte Robert Jungk in seinem Beitrag für mein Buch Zwischenschritte. Die Anti-Atomkraft-Bewegung zwischen Gorleben und Wackersdorf die Erfolge des Gorleben-Protests: »Das, was in diesen zehn Jahren geschah, war nicht nur Regional-, sondern Weltgeschichte«, schwärmte Jungk.
Was war geschehen? Unter dem Eindruck der ersten Protestwelle, die im März 1979 in den berühmten Hannover-Treck mündete, ruderte der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht zurück und verkündete, eine WAA sei technisch zwar machbar, aber politisch nicht durchsetzbar. Jungk beschrieb das so: »Als Albrecht eingestehen musste, dass er eine Wiederaufarbeitungsanlage in Niedersachsen nur mit Gewalt durchsetzen könne und daher darauf verzichten wolle, gab er vorübergehend einer Eingebung der Vernunft nach (…). Seither kommt nun vor allem das Erlebnis von Tschernobyl hinzu, um die Betreiber noch mehr zu verunsichern. Sie waren die Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden und hatten daran geglaubt, dass sich ein ernsthafter Atomunfall nur alle paar Tausend Jahre ereignen könne.«
Ja richtig, die Erfolgsgeschichte war nicht denkbar ohne die Katastrophen, Unglücksfälle. Sie wäre auch nicht denkbar gewesen ohne die Vorgeschichte: die Proteste gegen die Remilitarisierung nach dem zweiten Weltkrieg, die Bewegung »Kampf dem Atomtod« und die Ostermarschbewegung, die Politikwissenschaftler wie Philipp Gassert von einer Bewegte(n) Gesellschaft – so ein Buchtitel – sprechen ließen.
Doch die Anti-Atom-Bewegung konnte nicht bruchlos an ein Kontinuum einer bewegten Gesellschaft anknüpfen. So hatte die Bewegung gegen den Atomtod die »friedliche Nutzung der Atomkraft« glorifiziert. Die »Göttinger Erklärung« der 18 Atomwissenschaftler um Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker aus dem Jahr 1957 hatte eine weitreichende Signalwirkung, die im folgenden Jahr die gesamte Bundesrepublik erfasste. DGB und SPD unterstützten deren Programmatik, und infolgedessen musste sich die »neue« Bewegung gegen die Atomkraftnutzung zunächst auf ihre eigene Kraft besinnen.
Wyhl, Brokdorf, Kalkar, Grohnde, Wackersdorf – Erfolge und Niederlagen der Anti-Atom-Bewegung wechselten einander ab. Ziviler Ungehorsam war ein Markenzeichen des Anti-Atom-Protests. Entscheidend dabei war auch die Parteienunabhängigkeit der Bewegung, sie hat deshalb maßgeblich zur Demokratieentwicklung beigetragen. Grundrechte fallen nicht vom Himmel, sie sind schon immer der Obrigkeit abgetrotzt worden. Einmal erkämpfte Freiräume bleiben umstritten und erfordern streitbare Menschen. Die gab es in der Anti-Atom-Bewegung zuhauf.
Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht unterlag einer beständigen Wandlung. Das lag an einem veränderten Protestverhalten seit der »68-Generation«: Happenings, Go-ins, Menschenketten, Sitzblockaden und Schornsteinclimbing waren Ausdruck einer neuen Protestkultur. Seit der Studentenrevolte Ende der 60er Jahre gab es nicht mehr allein »Aufmärsche« mit einem Lautsprecherwagen und einem festen Verantwortlichen, auf den die Polizei Zugriff hat, sondern viel häufiger ein »Gewusel«: Da suchten einige die Auseinandersetzung mit der Polizei, anderen musizierten oder machten Straßentheater oder verschönerten den Kundgebungsort mit Straßenmalerei.
Die Gerichte hinkten der Dynamik jenes veränderten Protestverhaltens hinterher, aber sie bewegten sich doch. Ein Wendepunkt und Spiegel der Demokratieentwicklung war der Spruch des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 14.5.1985, bekannt als »Brokdorf-Entscheidung«, der in extenso zitiert gehört: »In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes. Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn Repräsentativorgane mögliche Missstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.«
Der nächste Meilenstein war das sogenannte »Sitzblockaden-Urteil« des BVG vom 10.1.1995, dessen Gehalt, kurz gefasst, so lautet: Wenn nur temporär und nicht dauerhaft, wenn also als nur symbolischer Akt eine Straße oder Zufahrt blockiert wird und nur passiver Widerstand geleistet wird gegen das Wegtragen oder Abdrängen durch die Polizei, so wird diese Protestform nicht mehr per se als Nötigung – also als eine Straftat – geahndet, sie wäre eine bloße Ordnungswidrigkeit. Allerdings, allerdings: Da gab und gibt es noch mehrere Haken in der Auslegung, in der Praxis vor Gericht griff überwiegend doch der Nötigungsparagraph 240 StGB.
2011 hob schließlich das BVG die Verurteilung eines Demonstranten auf, der am 15. März 2004 zusammen mit rund 40 Menschen die zu dem Luftwaffenstützpunkt der US-amerikanischen Streitkräfte bei Frankfurt am Main führende Ellis Road blockierte. Und zwar aus Protest gegen die sich abzeichnende militärische Intervention der USA im Irak. Daraufhin wurde er vom Amtsgericht wegen Nötigung nach § 240 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei dieser Blockadeaktion handele es sich zwar im Rechtssinn um Gewaltausübung, entschied das BVG, wies aber das Urteil des Frankfurter Landgerichts dennoch zurück. Bei der strafrechtlichen Beurteilung müsse berücksichtigt werden, ob die eingesetzten Mittel im Verhältnis zum Ziel als verwerflich anzusehen sind. Das habe das Frankfurter Landgericht nicht ausreichend geprüft.
Das Novum dieser höchstrichterlichen Entscheidung: Erst durch die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für politische Belange werde eine Sitzblockade zu einer schützenswerten Versammlung. Teilnehmende an einer Sitzblockade dürfen deshalb nicht von vornherein wegen Nötigung verurteilt werden.
Von der Anti-Atom- und Friedensbewegung wurden hier Pflöcke eingeschlagen, die Aktionen gegen Castortransporte, AKW-Bauvorhaben und Endlager wirken bis in die heutige Generation nach und haben der Klimabewegung Vorbilder geliefert. Gerade ist der politische und juristische Streit um Sitzblockaden wie jüngst bei den Anklebeaktionen der »Letzten Generationen« entbrannt. Ganz gleich, wie man zu den Aktionsformen dieser Gruppierung stehen mag, sie sind nicht neu, sie stehen in der Tradition der bewegten Nachkriegsgesellschaft. Neu ist auch nicht, dass die Polizeigesetze der Länder die höchstrichterlichen Entscheidungen beständig konterkarieren – es ist und bleibt ein gesellschaftliches Spannungsfeld, wenn die Zivilgesellschaft sich einmischt und stört.
Ganz besonders krass kommt das bayrische Polizeiaufgabengesetz daher, das im Artikel 17 einen »Präventivgewahrsam« erlaubt. Diesen Paragrafen hat soeben der Bayrische Verfassungsgerichtshof für rechtens erklärt. Das bedeutet, dass »gewichtige Gründe des Gemeinwohls« einen vorbeugenden Gewahrsam erlauben, als »letztes Mittel«. Gegen die »Letzte Generation«. Absurd. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte in seinen wegweisenden Beschlüssen Verbote nur zur Gefahrenabwehr für »elementare Rechtsgüter« akzeptiert und nur, »wenn Versammlungsauflagen und Polizeiaufgebote keine Abhilfe schaffen«, betont Wolfgang Janisch in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Er überschreibt seinen Artikel mit einem Imperativ: »Warum die Gesellschaft massive Proteste aushalten muss.« Und Heribert Prantl betont in einer Kolumne – ebenfalls für die Süddeutsche Zeitung – unter dem Titel »Die neue APO«: »Wenn klimapolitisch engagierte Menschen das Risiko von Bestrafung auf sich nehmen – dann lohnt es sich, die Ziele zu bedenken, um derentwillen sie das tun.«
Der Atomkonflikt steht da gewissermaßen Modell: 50 Jahren lang wurden Atomgegner:innen beschimpft, verhöhnt, marginalisiert und kriminalisiert. Lauschangriffe, Hausdurchsuchungen, Verfahren nach § 129a StGB – alles schon gehabt. »Dreckiges Pack« beschimpfte CDU-Innenminister Manfred Kanther einst die Aktivist:innen. Der gleiche Sauber-Mann wurde bekanntlich vor dem Landgericht Wiesbaden im Zusammenhang mit der Spendenaffäre der hessischen CDU 2007 wegen Untreue letztinstanzlich zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 Tagessätzen à 180 Euro rechtskräftig verurteilt.
Die Anti-Atom-Bewegung als außerparlamentarische Kraft hat Geschichte geschrieben. Und sie hat die Weichen für die Energiewende gestellt. Verhöhnt und kriminalisiert werden heute die Klimaaktivist:innen, vor allem die der »Letzten Generation«. Wie blind gegenüber der Geschichte ist die herrschende Klasse?!
Drei Ausnahmen vom Atomausstieg in Deutschland bleiben. Vorerst werden die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau unbefristet weiterlaufen; das internationale Geschäft mit nuklearen Brennstoffen bleibt nach wie vor profitabel. Die dritte ärgerliche Ausnahme ist der Weiterbetrieb des Forschungsreaktors in Garching bei München, bei dem hoch angereichertes, waffentaugliches Uran zum Einsatz kommt.
Was bleibt ist die Ungewissheit, ob für die dreckigen Hinterlassenschaften dieser Ära, ob für die Lagerung des Atommülls bestmögliche Lösungen gefunden werden. Das kurze Atomzeitalter wirkt nach. Das Zeug muss für eine Million Jahre von der Biosphäre abgeschirmt werden. Ungewiss bleibt auch, ob die Lektionen nachhaltig gelernt wurden, ob mit Blick auf die Klimakatastrophe auch weltweit die Einsicht reift, dass die weitere Nutzung der Atomkraft keine Lösung ist. Ungewiss bleibt ebenfalls, ob und wie die Nachrichten an eine ferne Zukunft, die Warnungen vor den Orten, an denen Atommüll verbuddelt wird, an 30.000 Generationen weitergegeben werden können.
Drei Generationen haben sich gewehrt. Am Ende äußerst erfolgreich. Ihr Slogan: »Atomkraft – nein danke!«. Ohne die parteienunabhängige Arbeit von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden, ohne ehrenamtliches Engagement wäre der Kampf nicht gewonnen worden.
Das wendländische Widerstands-X hat sich längst verselbstständigt und ist an andere ökologische Brennpunkte der Republik weitergezogen. So prangt das gelbe X als Protest gegen den Braunkohletagebau im rheinischen Revier wie auch in der Lausitz an Häusern und Feldwegen. Mitgezogen sind auch die Formen des Protests, denn längst geht es nicht mehr allein um die Atomkraft, sondern um eine erneuerbare Energiepolitik ohne Kohle und Atom. Es geht um grundsätzliche Fragen und unsere Verantwortung: Ohne Energiesparen, Energieeffizienz, ohne ein Umdenken und ein verändertes Handeln wird es eine Zukunft nicht geben. Da schließt sich ein Kreis.
Wolfgang Ehmke, langjähriger Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, hat ein neues Buch vorgelegt: »Das Wunder von Gorleben. Der Beitrag des Wendlands zur Energiewende«. Es geht darin u. a. um die Zufälle, Glücksfälle, Unglücksfälle, die dem erfolgreichen Widerstand in die Hand spielten. 156 S., 9,80 €, Köhring-Verlag Lüchow, erhältlich im Buchhandel oder unter www.bi-luechow-dannenberg.de.