Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ziemlich beste Freunde

Als wir in den 1960er und 1970er Jah­ren in der Bun­des­re­pu­blik Oster­mär­sche orga­ni­sier­ten und auch gegen den Krieg der USA in Viet­nam demon­strie­rend durch die Städ­te zogen, hat­ten wir ein kla­res Feind­bild: die Prä­si­den­ten Lyn­don B. John­son (1963-1969) von der Demo­kra­ti­schen Par­tei und Richard Nixon (1969-1974) von der Repu­bli­ka­ni­schen Par­tei. John­son hat­te 1965 erst­mals Nord­viet­nam bom­bar­die­ren las­sen, Nixon setz­te die Aggres­si­on fort. Zu Nixons wich­tig­sten Ver­trau­ten zähl­te Hen­ry Kis­sin­ger als Natio­na­ler Sicher­heits­be­ra­ter und spä­te­rer Außen­mi­ni­ster; die­se Funk­ti­on behielt er auch unter dem nach Water­ga­te auf Nixon fol­gen­den repu­bli­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Gerald Ford (1974-1977) bei. Nixon und Kis­sin­ger wei­te­ten schon bald nach Beginn ihrer Amts­zeit den Viet­nam­krieg mit schwe­ren Bom­ben­an­grif­fen auf Zie­le im neu­tra­len Kam­bo­dscha aus, wo Nord­viet­nam Nach­schub- und Vor­rats­la­ger ange­legt hatte.

Das alles war oder wur­de uns nach und nach bekannt. Wir wuss­ten aber nicht, dass Hen­ry Kis­sin­ger in der Bun­des­re­pu­blik einen pro­mi­nen­ten Freund und Bewun­de­rer hat­te – und zwar aus­ge­rech­net Sieg­fried Unseld, den Inha­ber des Ver­la­ges, der die Außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on mit viel­fäl­ti­ger theo­re­ti­scher und argu­men­ta­ti­ver Schüt­zen­hil­fe für ihren poli­ti­schen Kampf versorgte.

Unseld lei­te­te ab 1959, als Ver­lags­grün­der Peter Suhr­kamp starb, den nach die­sem benann­ten Ver­lag in Frank­furt am Main; seit 2009 ist Ber­lin Ver­lags­sitz. Suhr­kamp war der Ver­lag mit ein­fluss­rei­chen, das Pro­gramm mit­ge­stal­ten­den Lek­to­ren wie Wal­ter Boeh­lich und Karl Mar­kus Michel und mit so renom­mier­ten, kri­ti­schen Autoren wie Uwe John­son, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger, Max Frisch, Mar­tin Wal­ser, spä­ter die »Unseld-Boys« genannt. Und es war der Ver­lag der neu­en Buch­rei­he edi­ti­on suhr­kamp (es), die in der Lage sein soll­te, »in unse­re gan­ze Sozio­lo­gie des Lesens, in den gei­sti­gen Umsatz der Gesell­schaft ein­zu­grei­fen«. Enzens­ber­ger hat­te die­sen Leit­satz 1962 in sei­ner Ana­ly­se der bun­des­deut­schen Taschen­buch-Pro­duk­ti­on mit Ver­weis auf das Tage­buch der Anne Frank for­mu­liert, das damals mit 800 000 Exem­pla­ren die höch­ste Auf­la­ge unter allen deut­schen Taschen­buch­ti­teln erreicht hat­te. Die es-Rei­he hat­te erst­mals im Mai 1963 ihren Auf­tritt, bis Anfang 2022 soll­ten es über 2500 Bän­de wer­den. Den Bekannt­heits­grad der Bücher erhöh­ten nicht nur Wer­ke von Autoren wie Theo­dor W. Ador­no, Jür­gen Haber­mas oder Wal­ter Ben­ja­min, son­dern auch das von dem Buch­ge­stal­ter Wil­ly Fleck­haus geschaf­fe­ne Design in Spek­tral­far­ben. Zwei Jah­re spä­ter, 1965, erschien bei Suhr­kamp die von Enzens­ber­ger in Zusam­men­ar­beit mit dem Essay­isten und Redak­teur K. M. Michel gegrün­de­te Kul­tur­zeit­schrift Kurs­buch. Sie wur­de zusam­men mit der Taschen­buch­rei­he rororo aktu­ell und den Vol­taire Flug­schrif­ten zu einem der wich­tig­sten theo­re­ti­schen Orga­ne der APO.

Kurz­um: Unseld und sein Ver­lag bestimm­ten wesent­lich den dama­li­gen gesell­schaft­li­chen Dis­kurs. »Kri­ti­sche Suhr­kamp-Kul­tur aus dem gro­ßen Geist der Frank­fur­ter Schu­le« (Der Spie­gel) war ein Mar­ken­be­griff. Wie passt da Hen­ry Kis­sin­ger ins Bild, ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­ter eines US-Geheim­dien­stes, als Bera­ter ame­ri­ka­ni­scher Prä­si­den­ten einer der Her­ren über Krieg und Frie­den in der Welt, der auch sei­ne Fin­ger in der CIA-Ope­ra­ti­on zum Sturz des chi­le­ni­schen Prä­si­den­ten Allen­de hatte?

Ant­wort gibt Wil­li Wink­ler, Autor und Lite­ra­tur­kri­ti­ker der Süd­deut­schen Zei­tung, in sei­nem im Sep­tem­ber ver­gan­ge­nen Jah­res vor­ge­leg­ten Buch Kis­sin­ger & Unseld – Die Freund­schaft zwei­er Über­le­ben­der. Das Buch rück­te im Okto­ber prompt auf die Sach­buch-Besten­li­ste von ZDF, Deutsch­land­funk Kul­tur und DIE ZEIT.

»Zwei Über­le­ben­de« nennt Wink­ler die bei­den jun­gen Män­ner, die im Som­mer 1955 auf dem Cam­pus der Har­vard Uni­ver­si­ty sich ken­nen­lern­ten. Es waren zwei knapp Drei­ßig­jäh­ri­ge mit sehr unter­schied­li­chen Schick­sa­len und eben­so unter­schied­li­cher Herkunft.

Heinz (Hen­ry) Alfred Kis­sin­ger wur­de im Mai 1923 im mit­tel­frän­ki­schen Fürth gebo­ren. Sei­ne Eltern waren ortho­do­xe Juden, die zusam­men mit ihren Söh­nen Heinz und dem ein Jahr jün­ge­ren Wal­ter 1938 aus Deutsch­land vor den Natio­nal­so­zia­li­sten flo­hen und über Lon­don in die USA, nach New York emi­grier­ten. So über­leb­ten sie den Holo­caust, im Gegen­satz zu den mei­sten in Deutsch­land zurück­ge­blie­be­nen Verwandten.

Sieg­fried Unseld dage­gen, im Mai 1924 in Ulm gebo­ren, zog als Sol­dat in den Krieg gegen die Sowjet­uni­on, wur­de im Dezem­ber 1942 zur Kriegs­ma­ri­ne ein­ge­zo­gen und im Fol­ge­jahr auf die Krim ver­setzt. Als sei­ne Stel­lung in Sewas­to­pol von der Roten Armee zurück­er­obert wur­de, ret­te­te er sich vor der Kriegs­ge­fan­gen­schaft, indem er aufs offe­ne Meer hin­aus­schwamm. Acht Stun­den lang soll er geschwom­men sein, bis ihn die Besat­zung eines deut­schen Schnell­boo­tes ent­deck­te und auf­nahm. Wink­ler, iro­nisch: »Das ver­bis­se­ne Trai­ning in der Hit­ler­ju­gend hat sich für ihn gelohnt.« Unsel­ds Vater, im Zivil­be­ruf Ver­wal­tungs­in­spek­tor beim Ulmer Kreis­wohl­fahrts­amt, war schon 1933 in die NSDAP und die SA ein­ge­tre­ten. Als SA-Sturm­füh­rer »gehör­te er zu den Volks­ge­nos­sen, die in der Pogrom­nacht im Novem­ber 1938 dem von Joseph Goeb­bels orga­ni­sier­ten Volks­zorn gegen die Juden Luft mach­ten und lan­des­weit Syn­ago­gen niederbrannten«.

Nun schrei­ben wir also das Jahr 1955. An der Har­vard Uni­ver­si­ty in Cambridge/​Massachusetts ver­an­stal­te­te der auf­stre­ben­de Poli­tik­pro­fes­sor Kis­sin­ger in jedem Som­mer das Inter­na­tio­nal Semi­nar »für Intel­lek­tu­el­le und kom­men­de Grö­ßen aus aller Welt«. Die Semi­na­re dien­ten im Hin­blick auf die deut­schen Teil­neh­mer als Akt der psy­cho­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung, denn ein Jahr­zehnt nach Kriegs­en­de ging es dar­um, »den besieg­ten Deut­schen, die als Teil­macht der west­li­chen Ver­tei­di­gung gebraucht wer­den, die Waf­fen wie­der in die Hand zu drücken» und »das über­all zu beob­ach­ten­de Miss­trau­en gegen­über den USA« abzu­bau­en. Im »Krieg um die Köp­fe« erfuhr die deutsch­spra­chi­ge Lite­ra­tur eine umfang­rei­che För­de­rung durch ame­ri­ka­ni­sche Insti­tu­tio­nen, denn: »Der Kal­te Krieg soll nicht nur mit einem stän­dig wach­sen­den Atom­waf­fen­ar­se­nal, son­dern auch mit Kul­tur geführt und vor allem gewon­nen werden.«

Obwohl er jetzt Ame­ri­ka­ner ist, inter­es­siert sich Kis­sin­ger für die Ent­wick­lung des geteil­ten Deutsch­lands – und für die deut­sche Lite­ra­tur. Er schätz­te Max Frisch, ver­ehr­te Inge­borg Bach­mann und deren Gedich­te. Sie war eben­falls eine Teil­neh­me­rin der Semi­na­re und ließ ihm schon mal brief­li­che Grü­ße zukom­men. Er för­der­te Uwe John­son und Mar­tin Wal­ser. Da pass­te es, dass mit Sieg­fried Unseld, damals bereits die rech­te Hand Suhr­kamps, ein Ver­eh­rer von Her­mann Hes­se und Rai­ner Maria Ril­ke am Semi­nar teil­nahm, auf Emp­feh­lung sei­nes För­de­rers Hes­se, der ihm schon den Weg zu Suhr­kamp geeb­net hat­te. Kis­sin­ger und Unseld freun­de­ten sich an, began­nen von hier aus ihre Netz­wer­ke zu knüp­fen, die Kis­sin­ger den Auf­stieg zu einem Welt­po­li­ti­ker, Unseld zu einem bedeu­ten­den Ver­le­ger ermög­li­chen wer­den. Lite­ra­tur bleibt durch die Jahr­zehn­te das Bin­de­mit­tel ihrer Bezie­hung Sie wer­den »ziem­lich beste Freun­de«, auch wenn die Bewun­de­rung Unsel­ds für Kis­sin­ger deut­li­cher zu Tage tritt als die Empa­thie des Welt­po­li­ti­kers für den Verlegerfreund.

Wie distan­ziert Wink­ler auf Kis­sin­ger blickt, lässt sich im Buch an zwei Epi­so­den able­sen. Als 1970 Unseld und Frisch zu Besuch beim Sicher­heits­be­ra­ter Kis­sin­ger im Wei­ßen Haus waren, ver­ab­schie­de­te sich der Gast­ge­ber ab und an aus dem Gespräch: »Par­al­lel zu der mun­te­ren Plau­de­rei (über­wacht Kis­sin­ger) die völ­ker­rechts­wid­ri­ge Bom­bar­die­rung Kam­bo­dschas. Wenn er den Raum ver­lässt, um mit sei­nem Prä­si­den­ten zu tele­fo­nie­ren, geht es nicht mehr um Lite­ra­tur, son­dern um Leben und Tod.«

Die zwei­te Epi­so­de ereig­ne­te sich fast 50 Jah­re spä­ter, als Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er 2018 anläss­lich des fünf­und­neun­zig­sten Geburts­tags Kis­sin­gers ein Essen aus­rich­te­te. In Stein­mei­ers Wür­di­gung hat­te der Reden­schrei­ber einen Satz Max Frischs aus des­sen »gleich­zei­tig fas­zi­nier­tem und kri­ti­schem Bericht« über den vor­ge­nann­ten Besuch im Wei­ßen Haus ein­ge­fügt und dar­aus »die Kissinger’sche Maxi­me gezau­bert« (Wink­ler), er »tra­ge Ver­ant­wor­tung lie­ber als Ohn­macht«. In Stein­mei­ers Rede heißt es wei­ter: »Was für ein Satz. Und so sel­ten bei denen zu hören, denen jede Form von Macht suspekt ist und die ein Sich-Her­aus­hal­ten zu oft für eine beson­de­re mora­li­sche Qua­li­tät halten.«

Dazu Wink­lers bis­si­ger Kom­men­tar: »Das ist eine ziem­lich hoch­ge­mu­te Fest­stel­lung, die all­zu per­fekt an Kis­sin­gers ord­nungs­po­li­ti­sches Den­ken anschließt, das er sel­ber dem Staats­mi­ni­ster Glob­ke abge­schaut hat­te, der auch lie­ber eine Unge­rech­tig­keit bege­hen als Unord­nung ertra­gen woll­te. Dabei ent­behrt es nicht einer gewis­sen Kühn­heit, aus­ge­rech­net Hen­ry Kis­sin­ger als leuch­ten­des Bei­spiel für ver­ant­wor­tungs­ethi­sches Han­deln vorzustellen.«

Wil­li Wink­ler ist mit sei­nem Sach­buch nicht nur ein Dop­pel­por­trät zwei­er Aus­nah­me­per­sön­lich­kei­ten gelun­gen, son­dern auch eine fas­zi­nie­ren­de Dar­stel­lung der bun­des­deut­schen Zeit­läuf­te in den 1960er, 1970er Jah­ren. Und ein pla­sti­sches Pan­ora­ma der intel­lek­tu­el­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen in jenen Tagen, in deren Mit­tel­punkt, was die Kul­tur angeht, vor allem die um den Mono­li­then Suhr­kamp krei­sen­den lite­ra­ri­schen Prot­ago­ni­sten ste­hen: die »Boy­group, die Sieg­fried Unseld um sich geschart hat­te«, und die, zumin­dest was John­son, Weiss, Enzens­ber­ger und Frisch angeht, anders als Unseld das Lern­ziel der Kis­sin­ger-Semi­na­re nicht erreich­te. Wink­ler: »Sie ver­harr­ten in der Ableh­nung des Lan­des, das unbe­dingt den Krieg gegen Viet­nam füh­ren muss­te und als Kriegs­mi­ni­ster den aus Deutsch­land ver­trie­be­nen Hen­ry Kis­sin­ger fand.«

 Wil­li Wink­ler: Kis­sin­ger & Unseld – Die Freund­schaft zwei­er Über­le­ben­der, Rowohlt Ber­lin 2024, 302 S., 24 €. – Der zitier­te Essay Enzens­ber­gers ist zusam­men mit ande­ren medi­en-, kul­tur- und lite­ra­tur­kri­ti­schen Tex­ten in dem 1962 bei Suhr­kamp erschie­ne­nen Band »Ein­zel­hei­ten« zu finden.