Als wir in den 1960er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik Ostermärsche organisierten und auch gegen den Krieg der USA in Vietnam demonstrierend durch die Städte zogen, hatten wir ein klares Feindbild: die Präsidenten Lyndon B. Johnson (1963-1969) von der Demokratischen Partei und Richard Nixon (1969-1974) von der Republikanischen Partei. Johnson hatte 1965 erstmals Nordvietnam bombardieren lassen, Nixon setzte die Aggression fort. Zu Nixons wichtigsten Vertrauten zählte Henry Kissinger als Nationaler Sicherheitsberater und späterer Außenminister; diese Funktion behielt er auch unter dem nach Watergate auf Nixon folgenden republikanischen Präsidenten Gerald Ford (1974-1977) bei. Nixon und Kissinger weiteten schon bald nach Beginn ihrer Amtszeit den Vietnamkrieg mit schweren Bombenangriffen auf Ziele im neutralen Kambodscha aus, wo Nordvietnam Nachschub- und Vorratslager angelegt hatte.
Das alles war oder wurde uns nach und nach bekannt. Wir wussten aber nicht, dass Henry Kissinger in der Bundesrepublik einen prominenten Freund und Bewunderer hatte – und zwar ausgerechnet Siegfried Unseld, den Inhaber des Verlages, der die Außerparlamentarische Opposition mit vielfältiger theoretischer und argumentativer Schützenhilfe für ihren politischen Kampf versorgte.
Unseld leitete ab 1959, als Verlagsgründer Peter Suhrkamp starb, den nach diesem benannten Verlag in Frankfurt am Main; seit 2009 ist Berlin Verlagssitz. Suhrkamp war der Verlag mit einflussreichen, das Programm mitgestaltenden Lektoren wie Walter Boehlich und Karl Markus Michel und mit so renommierten, kritischen Autoren wie Uwe Johnson, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Martin Walser, später die »Unseld-Boys« genannt. Und es war der Verlag der neuen Buchreihe edition suhrkamp (es), die in der Lage sein sollte, »in unsere ganze Soziologie des Lesens, in den geistigen Umsatz der Gesellschaft einzugreifen«. Enzensberger hatte diesen Leitsatz 1962 in seiner Analyse der bundesdeutschen Taschenbuch-Produktion mit Verweis auf das Tagebuch der Anne Frank formuliert, das damals mit 800 000 Exemplaren die höchste Auflage unter allen deutschen Taschenbuchtiteln erreicht hatte. Die es-Reihe hatte erstmals im Mai 1963 ihren Auftritt, bis Anfang 2022 sollten es über 2500 Bände werden. Den Bekanntheitsgrad der Bücher erhöhten nicht nur Werke von Autoren wie Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Walter Benjamin, sondern auch das von dem Buchgestalter Willy Fleckhaus geschaffene Design in Spektralfarben. Zwei Jahre später, 1965, erschien bei Suhrkamp die von Enzensberger in Zusammenarbeit mit dem Essayisten und Redakteur K. M. Michel gegründete Kulturzeitschrift Kursbuch. Sie wurde zusammen mit der Taschenbuchreihe rororo aktuell und den Voltaire Flugschriften zu einem der wichtigsten theoretischen Organe der APO.
Kurzum: Unseld und sein Verlag bestimmten wesentlich den damaligen gesellschaftlichen Diskurs. »Kritische Suhrkamp-Kultur aus dem großen Geist der Frankfurter Schule« (Der Spiegel) war ein Markenbegriff. Wie passt da Henry Kissinger ins Bild, ehemaliger Mitarbeiter eines US-Geheimdienstes, als Berater amerikanischer Präsidenten einer der Herren über Krieg und Frieden in der Welt, der auch seine Finger in der CIA-Operation zum Sturz des chilenischen Präsidenten Allende hatte?
Antwort gibt Willi Winkler, Autor und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung, in seinem im September vergangenen Jahres vorgelegten Buch Kissinger & Unseld – Die Freundschaft zweier Überlebender. Das Buch rückte im Oktober prompt auf die Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Deutschlandfunk Kultur und DIE ZEIT.
»Zwei Überlebende« nennt Winkler die beiden jungen Männer, die im Sommer 1955 auf dem Campus der Harvard University sich kennenlernten. Es waren zwei knapp Dreißigjährige mit sehr unterschiedlichen Schicksalen und ebenso unterschiedlicher Herkunft.
Heinz (Henry) Alfred Kissinger wurde im Mai 1923 im mittelfränkischen Fürth geboren. Seine Eltern waren orthodoxe Juden, die zusammen mit ihren Söhnen Heinz und dem ein Jahr jüngeren Walter 1938 aus Deutschland vor den Nationalsozialisten flohen und über London in die USA, nach New York emigrierten. So überlebten sie den Holocaust, im Gegensatz zu den meisten in Deutschland zurückgebliebenen Verwandten.
Siegfried Unseld dagegen, im Mai 1924 in Ulm geboren, zog als Soldat in den Krieg gegen die Sowjetunion, wurde im Dezember 1942 zur Kriegsmarine eingezogen und im Folgejahr auf die Krim versetzt. Als seine Stellung in Sewastopol von der Roten Armee zurückerobert wurde, rettete er sich vor der Kriegsgefangenschaft, indem er aufs offene Meer hinausschwamm. Acht Stunden lang soll er geschwommen sein, bis ihn die Besatzung eines deutschen Schnellbootes entdeckte und aufnahm. Winkler, ironisch: »Das verbissene Training in der Hitlerjugend hat sich für ihn gelohnt.« Unselds Vater, im Zivilberuf Verwaltungsinspektor beim Ulmer Kreiswohlfahrtsamt, war schon 1933 in die NSDAP und die SA eingetreten. Als SA-Sturmführer »gehörte er zu den Volksgenossen, die in der Pogromnacht im November 1938 dem von Joseph Goebbels organisierten Volkszorn gegen die Juden Luft machten und landesweit Synagogen niederbrannten«.
Nun schreiben wir also das Jahr 1955. An der Harvard University in Cambridge/Massachusetts veranstaltete der aufstrebende Politikprofessor Kissinger in jedem Sommer das International Seminar »für Intellektuelle und kommende Größen aus aller Welt«. Die Seminare dienten im Hinblick auf die deutschen Teilnehmer als Akt der psychologischen Kriegsführung, denn ein Jahrzehnt nach Kriegsende ging es darum, »den besiegten Deutschen, die als Teilmacht der westlichen Verteidigung gebraucht werden, die Waffen wieder in die Hand zu drücken» und »das überall zu beobachtende Misstrauen gegenüber den USA« abzubauen. Im »Krieg um die Köpfe« erfuhr die deutschsprachige Literatur eine umfangreiche Förderung durch amerikanische Institutionen, denn: »Der Kalte Krieg soll nicht nur mit einem ständig wachsenden Atomwaffenarsenal, sondern auch mit Kultur geführt und vor allem gewonnen werden.«
Obwohl er jetzt Amerikaner ist, interessiert sich Kissinger für die Entwicklung des geteilten Deutschlands – und für die deutsche Literatur. Er schätzte Max Frisch, verehrte Ingeborg Bachmann und deren Gedichte. Sie war ebenfalls eine Teilnehmerin der Seminare und ließ ihm schon mal briefliche Grüße zukommen. Er förderte Uwe Johnson und Martin Walser. Da passte es, dass mit Siegfried Unseld, damals bereits die rechte Hand Suhrkamps, ein Verehrer von Hermann Hesse und Rainer Maria Rilke am Seminar teilnahm, auf Empfehlung seines Förderers Hesse, der ihm schon den Weg zu Suhrkamp geebnet hatte. Kissinger und Unseld freundeten sich an, begannen von hier aus ihre Netzwerke zu knüpfen, die Kissinger den Aufstieg zu einem Weltpolitiker, Unseld zu einem bedeutenden Verleger ermöglichen werden. Literatur bleibt durch die Jahrzehnte das Bindemittel ihrer Beziehung Sie werden »ziemlich beste Freunde«, auch wenn die Bewunderung Unselds für Kissinger deutlicher zu Tage tritt als die Empathie des Weltpolitikers für den Verlegerfreund.
Wie distanziert Winkler auf Kissinger blickt, lässt sich im Buch an zwei Episoden ablesen. Als 1970 Unseld und Frisch zu Besuch beim Sicherheitsberater Kissinger im Weißen Haus waren, verabschiedete sich der Gastgeber ab und an aus dem Gespräch: »Parallel zu der munteren Plauderei (überwacht Kissinger) die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas. Wenn er den Raum verlässt, um mit seinem Präsidenten zu telefonieren, geht es nicht mehr um Literatur, sondern um Leben und Tod.«
Die zweite Episode ereignete sich fast 50 Jahre später, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2018 anlässlich des fünfundneunzigsten Geburtstags Kissingers ein Essen ausrichtete. In Steinmeiers Würdigung hatte der Redenschreiber einen Satz Max Frischs aus dessen »gleichzeitig fasziniertem und kritischem Bericht« über den vorgenannten Besuch im Weißen Haus eingefügt und daraus »die Kissinger’sche Maxime gezaubert« (Winkler), er »trage Verantwortung lieber als Ohnmacht«. In Steinmeiers Rede heißt es weiter: »Was für ein Satz. Und so selten bei denen zu hören, denen jede Form von Macht suspekt ist und die ein Sich-Heraushalten zu oft für eine besondere moralische Qualität halten.«
Dazu Winklers bissiger Kommentar: »Das ist eine ziemlich hochgemute Feststellung, die allzu perfekt an Kissingers ordnungspolitisches Denken anschließt, das er selber dem Staatsminister Globke abgeschaut hatte, der auch lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen wollte. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Kühnheit, ausgerechnet Henry Kissinger als leuchtendes Beispiel für verantwortungsethisches Handeln vorzustellen.«
Willi Winkler ist mit seinem Sachbuch nicht nur ein Doppelporträt zweier Ausnahmepersönlichkeiten gelungen, sondern auch eine faszinierende Darstellung der bundesdeutschen Zeitläufte in den 1960er, 1970er Jahren. Und ein plastisches Panorama der intellektuellen Auseinandersetzungen in jenen Tagen, in deren Mittelpunkt, was die Kultur angeht, vor allem die um den Monolithen Suhrkamp kreisenden literarischen Protagonisten stehen: die »Boygroup, die Siegfried Unseld um sich geschart hatte«, und die, zumindest was Johnson, Weiss, Enzensberger und Frisch angeht, anders als Unseld das Lernziel der Kissinger-Seminare nicht erreichte. Winkler: »Sie verharrten in der Ablehnung des Landes, das unbedingt den Krieg gegen Vietnam führen musste und als Kriegsminister den aus Deutschland vertriebenen Henry Kissinger fand.«
Willi Winkler: Kissinger & Unseld – Die Freundschaft zweier Überlebender, Rowohlt Berlin 2024, 302 S., 24 €. – Der zitierte Essay Enzensbergers ist zusammen mit anderen medien-, kultur- und literaturkritischen Texten in dem 1962 bei Suhrkamp erschienenen Band »Einzelheiten« zu finden.