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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zeugnis. Warnung. Anklage

Noch sind es kei­ne Men­schen­strö­me von Flüch­ten­den wie in Anna Seg­hers’ »Tran­sit«, die sich am Ran­de des euro­päi­schen Kon­ti­nents stau­en, um ihn zu ver­las­sen. Wir schrei­ben auch noch nicht das Jahr 1940. Es ist Mit­te der 1930er Jah­re, und wir befin­den uns in einer klei­nen Stadt in West­fa­len. Zwar ist die Ent­rech­tung der in Deutsch­land leben­den Juden schon weit fort­ge­schrit­ten, aber eini­ge kön­nen noch ihren Beru­fen nach­ge­hen. So wie der jüdi­sche Solo­cel­list Erich Kra­kau, der viel ver­ehrt am städ­ti­schen Sym­pho­nie­or­che­ster tätig ist: der ein­zi­ge noch ver­blie­be­ne Jude. Aber auch er wird schon bald zu den vie­len Musi­kern, Sän­gern, Kom­po­ni­sten und Diri­gen­ten gehö­ren, die ins Exil gezwun­gen wur­den. In der Jüdi­schen All­ge­mei­nen las ich, es sei­en min­de­stens 4000 gewe­sen, unter ihnen berühm­te Namen wie Kurt Weill, Fried­rich Hol­laen­der und Otto Klemperer.

In der Per­son des Erich Kra­kau hat Karl Alfred Loe­ser in sei­nem Roman »Requi­em« bio­gra­fi­sche Ele­men­te aus dem Leben sei­nes älte­ren Bru­ders Nor­bert und eige­ne Erfah­run­gen ver­wo­ben. Der Autor wur­de 1909 in Ber­lin gebo­ren und war 1934 nach Amster­dam geflüch­tet, wo bereits sein Bru­der als Kom­po­nist und Musik­kri­ti­ker tätig war. Dort hat­te Karl Alfred Loe­ser sei­ne Frau Hele­ne ken­nen­ge­lernt, eine gebür­ti­ge Dort­mun­de­rin, mit der er kurz dar­auf von Rot­ter­dam aus nach São Pau­lo, Bra­si­li­en, emi­grier­te. Hier arbei­te­te er bis zur Pen­sio­nie­rung für eine nie­der­län­di­sche Bank. Im Exil schrieb er bis zu sei­nem Tod im Jahr 1999 ins­ge­heim Novel­len, Roma­ne, Thea­ter­stücke, Opern und Erzäh­lun­gen, ohne jedoch je etwas zu ver­öf­fent­li­chen. Außer­dem spiel­te er als Gei­ger in einem Ama­teur-Sym­pho­nie­or­che­ster: In der Musik fand er Trost und Halt. Nor­bert Loe­ser blieb in Amster­dam, wo er nach dem Über­fall der deut­schen Trup­pen auf die Nie­der­lan­de, Bel­gi­en und Luxem­burg abtauch­te und so über­leb­te. Nach dem Ende des Krie­ges mach­te Karl sei­nen Bru­der mit Hil­fe des Roten Kreu­zes aus­fin­dig; bis zu Nor­berts Tod im Jahr 1958 tra­fen sie sich von Zeit zu Zeit.

Bra­si­li­en, die neue Hei­mat des Ehe­paars Loe­ser, war Mit­te der 1930er Jah­re unter dem Prä­si­den­ten Getú­lio Var­gas ein Brücken­kopf der USA im Kampf gegen den Kom­mu­nis­mus auf dem süd­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent. Die Sym­pa­thien des bra­si­lia­ni­schen Prä­si­den­ten für Mus­so­li­ni und Hit­ler stör­ten dabei nicht, eben­so wenig wie der gras­sie­ren­de Anti­se­mi­tis­mus der Mit­tel­schicht. Her­aus­ge­ber Peter Graf gibt in sei­nem Nach­wort die Ver­mu­tung der Fami­lie wie­der, dass bei die­ser Gemenge­la­ge es für Loe­ser wohl zu gefähr­lich gewe­sen ist, sei­ne jüdi­sche Her­kunft in Bra­si­li­en öffent­lich zu machen. So gedieh sein schrift­stel­le­ri­sches Werk jahr­zehn­te­lang im Verborgenen.

Regel­mä­ßi­ge Lese­rin­nen und Leser von Ossietzky sind Peter Graf schon begeg­net. In der Aus­ga­be 16/​2018 habe ich unter der Über­schrift »Im Innern des Lan­des« sei­ne dama­li­ge lite­ra­ri­sche Fund­sa­che vor­ge­stellt, den Roman »Der Rei­sen­de« von Ulrich Alex­an­der Boschwitz. Der gera­de ein­mal 23 Jah­re alte Boschwitz hat­te 1938 unmit­tel­bar nach den Novem­ber-Pogro­men in nur weni­gen Wochen sei­nen Roman über einen jüdi­schen Kauf­mann ver­fasst, »der zuerst sein Hab und Gut, dann sei­ne Wür­de und schließ­lich sei­nen Ver­stand« ver­lor. Graf, stets publi­zi­stisch auf der Suche nach ver­ges­se­nen Tex­ten, hat­te das Ori­gi­nal­ma­nu­skript ent­deckt und lek­to­riert, und Klett-Cot­ta hat­te es ver­öf­fent­licht. Das Buch wur­de ein inter­na­tio­na­ler Erfolg.

Graf schil­dert im Nach­wort von »Requi­em«, wie sich nach dem Erschei­nen der por­tu­gie­si­schen Über­set­zung des »Rei­sen­den« ein Urgroß­enkel Loe­sers an ihn wand­te und ihm ein Manu­skript mit dem Titel »Der Fall Kra­kau« anbot. »Requi­em« ist die von Graf lek­to­rier­te und edier­te Fas­sung des vor vie­len Jahr­zehn­ten ver­fass­ten Manu­skripts. Wie Boschwitz, schreibt Graf, »gelingt es auch Karl Loe­ser, in beson­de­rer Wei­se die Atmo­sphä­re jener Zeit auf­le­ben zu las­sen und sei­nen in der west­fä­li­schen Pro­vinz ange­sie­del­ten Roman mit Figu­ren aus­zu­stat­ten, deren Han­deln und Füh­len die gan­ze Band­brei­te mensch­li­cher Regun­gen wiedergeben«.

Und er macht die »Mecha­nis­men des Ter­rors« sicht­bar, beschreibt, wie das von der Pro­pa­gan­da ein­ge­träu­fel­te Gift all­mäh­lich Raum nimmt in den Köp­fen, wie Hass ent­steht und wie sich dar­aus eine Hetz­jagd ent­wickelt, die den unschul­di­gen Kra­kau und des­sen Frau schließ­lich ins Exil treibt, wo sie über­le­ben wer­den – so wie Karl Alfred Loe­ser und sei­ne Frau.

Der von Peter Graf ent­deck­te, bis­lang unver­öf­fent­lich­te Roman, wir­ke bei­na­he pro­phe­tisch, heißt es von Ver­lags­sei­te: weil er schon vor der Ver­nich­tung der euro­päi­schen Juden geschrie­ben wor­den ist.

»Ein sol­ches Buch«, schreibt Graf in sei­nem Nach­wort, »ist vor allem auch eine nach außen gerich­te­te poe­ti­sche Erin­ne­rungs­ar­beit, die, obwohl nicht doku­men­ta­risch, son­dern fik­tio­nal erzählt, über den eigent­li­chen Erzähl­ge­gen­stand hin­aus­reicht und indi­rekt auch auf die unbe­kann­ten Schick­sa­le vie­ler Namen­lo­ser ver­weist. Es ist Zeug­nis, War­nung, Ankla­ge und will gele­sen werden.«

Eine Auf­for­de­rung, der ich mich ohne Wenn und Aber anschließe.

 Karl Alfred Loe­ser: Requi­em, Klett-Cot­ta, Stutt­gart 2023, 313 S., 24 €.