Noch sind es keine Menschenströme von Flüchtenden wie in Anna Seghers’ »Transit«, die sich am Rande des europäischen Kontinents stauen, um ihn zu verlassen. Wir schreiben auch noch nicht das Jahr 1940. Es ist Mitte der 1930er Jahre, und wir befinden uns in einer kleinen Stadt in Westfalen. Zwar ist die Entrechtung der in Deutschland lebenden Juden schon weit fortgeschritten, aber einige können noch ihren Berufen nachgehen. So wie der jüdische Solocellist Erich Krakau, der viel verehrt am städtischen Symphonieorchester tätig ist: der einzige noch verbliebene Jude. Aber auch er wird schon bald zu den vielen Musikern, Sängern, Komponisten und Dirigenten gehören, die ins Exil gezwungen wurden. In der Jüdischen Allgemeinen las ich, es seien mindestens 4000 gewesen, unter ihnen berühmte Namen wie Kurt Weill, Friedrich Hollaender und Otto Klemperer.
In der Person des Erich Krakau hat Karl Alfred Loeser in seinem Roman »Requiem« biografische Elemente aus dem Leben seines älteren Bruders Norbert und eigene Erfahrungen verwoben. Der Autor wurde 1909 in Berlin geboren und war 1934 nach Amsterdam geflüchtet, wo bereits sein Bruder als Komponist und Musikkritiker tätig war. Dort hatte Karl Alfred Loeser seine Frau Helene kennengelernt, eine gebürtige Dortmunderin, mit der er kurz darauf von Rotterdam aus nach São Paulo, Brasilien, emigrierte. Hier arbeitete er bis zur Pensionierung für eine niederländische Bank. Im Exil schrieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1999 insgeheim Novellen, Romane, Theaterstücke, Opern und Erzählungen, ohne jedoch je etwas zu veröffentlichen. Außerdem spielte er als Geiger in einem Amateur-Symphonieorchester: In der Musik fand er Trost und Halt. Norbert Loeser blieb in Amsterdam, wo er nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die Niederlande, Belgien und Luxemburg abtauchte und so überlebte. Nach dem Ende des Krieges machte Karl seinen Bruder mit Hilfe des Roten Kreuzes ausfindig; bis zu Norberts Tod im Jahr 1958 trafen sie sich von Zeit zu Zeit.
Brasilien, die neue Heimat des Ehepaars Loeser, war Mitte der 1930er Jahre unter dem Präsidenten Getúlio Vargas ein Brückenkopf der USA im Kampf gegen den Kommunismus auf dem südamerikanischen Kontinent. Die Sympathien des brasilianischen Präsidenten für Mussolini und Hitler störten dabei nicht, ebenso wenig wie der grassierende Antisemitismus der Mittelschicht. Herausgeber Peter Graf gibt in seinem Nachwort die Vermutung der Familie wieder, dass bei dieser Gemengelage es für Loeser wohl zu gefährlich gewesen ist, seine jüdische Herkunft in Brasilien öffentlich zu machen. So gedieh sein schriftstellerisches Werk jahrzehntelang im Verborgenen.
Regelmäßige Leserinnen und Leser von Ossietzky sind Peter Graf schon begegnet. In der Ausgabe 16/2018 habe ich unter der Überschrift »Im Innern des Landes« seine damalige literarische Fundsache vorgestellt, den Roman »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz. Der gerade einmal 23 Jahre alte Boschwitz hatte 1938 unmittelbar nach den November-Pogromen in nur wenigen Wochen seinen Roman über einen jüdischen Kaufmann verfasst, »der zuerst sein Hab und Gut, dann seine Würde und schließlich seinen Verstand« verlor. Graf, stets publizistisch auf der Suche nach vergessenen Texten, hatte das Originalmanuskript entdeckt und lektoriert, und Klett-Cotta hatte es veröffentlicht. Das Buch wurde ein internationaler Erfolg.
Graf schildert im Nachwort von »Requiem«, wie sich nach dem Erscheinen der portugiesischen Übersetzung des »Reisenden« ein Urgroßenkel Loesers an ihn wandte und ihm ein Manuskript mit dem Titel »Der Fall Krakau« anbot. »Requiem« ist die von Graf lektorierte und edierte Fassung des vor vielen Jahrzehnten verfassten Manuskripts. Wie Boschwitz, schreibt Graf, »gelingt es auch Karl Loeser, in besonderer Weise die Atmosphäre jener Zeit aufleben zu lassen und seinen in der westfälischen Provinz angesiedelten Roman mit Figuren auszustatten, deren Handeln und Fühlen die ganze Bandbreite menschlicher Regungen wiedergeben«.
Und er macht die »Mechanismen des Terrors« sichtbar, beschreibt, wie das von der Propaganda eingeträufelte Gift allmählich Raum nimmt in den Köpfen, wie Hass entsteht und wie sich daraus eine Hetzjagd entwickelt, die den unschuldigen Krakau und dessen Frau schließlich ins Exil treibt, wo sie überleben werden – so wie Karl Alfred Loeser und seine Frau.
Der von Peter Graf entdeckte, bislang unveröffentlichte Roman, wirke beinahe prophetisch, heißt es von Verlagsseite: weil er schon vor der Vernichtung der europäischen Juden geschrieben worden ist.
»Ein solches Buch«, schreibt Graf in seinem Nachwort, »ist vor allem auch eine nach außen gerichtete poetische Erinnerungsarbeit, die, obwohl nicht dokumentarisch, sondern fiktional erzählt, über den eigentlichen Erzählgegenstand hinausreicht und indirekt auch auf die unbekannten Schicksale vieler Namenloser verweist. Es ist Zeugnis, Warnung, Anklage und will gelesen werden.«
Eine Aufforderung, der ich mich ohne Wenn und Aber anschließe.
Karl Alfred Loeser: Requiem, Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 313 S., 24 €.