»Armut«, »Wut« »abgehängte Unterschicht«, das sind fast nur noch formelhafte Begriffe, leere Schlagworte. Gern und oft werden sie bemüht, keine Wahlanalyse kommt ohne sie aus. Jedoch wird meistens über »Armut« von der hohen Warte gesicherter Einkünfte, guten Lebensstandards aus doziert.
Das Buch »Armutssafari«, geschrieben von Darren McGarvey, bietet stattdessen die direkte Perspektive, die Sprache dessen, der weiß, wovon er redet. Der Bezugsort ist meistens die schottische Stadt Glasgow mit ihren sozialen Problemen. Der Autor verzichtet auf akademische Definitionen, wenn er erklärt: »In Gemeinden in ganz Großbritannien, in denen die Menschen im unterschiedlichen Ausmaß einen Mangel erleben, im Gesundheitswesen, der Wohnsituation und der Bildung, an Orten, wo die Menschen effektiv vom politischen Leben ausgeschlossen werden«, herrsche Armut. In der Folge wachse dort die Wut.
Obwohl einer wie McGarvey nach eigener Mitteilung »eigentlich« keine Bücher schreibt, als Hauptberuf gibt er Rapper und Kolumnist an, hat er eines verfasst, im Bewusstsein, dass es »größere Bücher über Armut« gibt als seines. Nur habe er keines davon gelesen, teilt er am Ende der Einleitung, die einem Vorwort folgt, mit. Das Fachvokabular aber beherrscht er dennoch ungemein gut. Überzeugungskraft versucht er zu gewinnen, indem er die Analyse des Lebens in der Unterschicht mit seiner Familiengeschichte, besonders der Tragödie seiner Mutter, zu verknüpfen trachtet. Das ist zwar eine furchtbare Chronik, aber sie wird nicht stringent erzählt, der Autor kommt dauernd auf anderes zu sprechen, wodurch das Buch mitunter zerfahren wirkt. Doch die manchmal ausufernden Betrachtungen und ein gewisser Hang zur Wiederholung scheinen dem Sprechgesang des Rap verwandt. Lebenstragödien der britischen Unterschicht liest man bei John Burnside in »Lügen über meinen Vater« oder in den anderen Büchern seines autobiografischen Schreibprojekts genauer und pointierter.
Was aber die Untersuchung des Lebens in Armut und seiner Erscheinungsformen anlangt, so ist McGarvey in manchen Passagen von außerordentlicher Klarheit, und man begreift, warum dieses Buch so hohe Anerkennung im Feuilleton oder von der Harry-Potter-Mutter J. K. Rowling erfuhr, die es für höchst aktuell, leidenschaftlich und notwendig hält.
Zudem scheut sich McGarvey nicht, die übliche Armutsbekämpfungspolitik zu kritisieren. Etwa: Armut sei viel zu komplex, um die Verantwortung dafür allein »Konservativen« oder »Eliten« zuschieben zu können. Oder: Armut sei zu einem Spiel geworden, das von konkurrierenden Teams gespielt werde. Und: »Ob es die Linke ist, die den Reichen die Schuld gibt, oder die Rechte, die den Armen die Schuld gibt, wir alle neigen dazu, uns nur für die halbe Wahrheit zu interessieren, die uns von der Verantwortung für das Problem freispricht.« McGarvey setzt fort: Es werde kaum über Empathie geredet, Aktivisten kehrten ihren Drogenkonsum und ihre psychischen Probleme unter den Teppich, Debatten zum Beispiel über Fresssucht fänden nicht statt. Es erschüttert dann sehr, den Autor wenige Seiten weiter zu einer seiner Fressorgien ins Fast-Food-Restaurant zu »begleiten«. Das sind intensive, ehrliche Darstellungen, wie auch die Betrachtungen über das Wohnen, die eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten, und darüber, wie Menschen mundtot gemacht werden. McGarvey wagt es, Widersprüche und Ambivalenzen der Armutsrealität und der Armutsdiskussionen zu benennen und stehen zu lassen. Er zeigt, dass die Armutsindustrie immer auch darauf ausgerichtet ist, die Jobs der Sozialarbeiter zu sichern, oder dass diejenigen, die ein Problem haben, bei der Lösung nicht mitreden dürfen.
Es sollte, wer sich mit dem Thema »Armut« befasst, dieses Buch lesen. Und zwar nicht, weil man darin bestätigt findet, was man als Erklärung sowieso schon zu wissen glaubte. Sondern weil es imstande ist, lieb gewordene Denkweisen zu unterlaufen. Nämlich die, dass allein der Neoliberalismus die Wurzel des Übels ist. Der Linken diagnostiziert McGarvey Selbstgefälligkeit beim Thema Armut und behauptet, dass das kapitalistische System trotz seiner Ungerechtigkeit und Widersprüche die Freiheit auch für jene gebracht hat, die es beseitigen wollen.
»Wir (damit meint McGarvey die so genannte »Unterschicht«) müssen der Versuchung widerstehen, die Schuld an unseren persönlichen und politischen Umständen auf die Buhmänner und Phantomschurken zu schieben.«
Darren McGarvey, Armutssafari, Luchterhand Literaturverlag 2019, 317 S., 15 €.