Dass Rassismus und Antisemitismus Gefahren nicht nur für Jüdinnen und Juden darstellen, sondern für alle in jeder sich demokratisch verstehenden Gesellschaft, dürfte klar sein. Gern wird versucht, antisemitischen und antimuslimischen Rassismus gegeneinander auszuspielen. Dabei sollte doch einsehbar sein, dass es nicht ausreichend ist, über die Schrecken des Gaza-Krieges zu sprechen, ohne die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023 zu erwähnen. Es ist allerdings auch nicht ausreichend, die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023 und weltweiten Antisemitismus zu beklagen, ohne das völkerrechtswidrige Besatzungsregime Israels, die Blockade-Politik, den Gaza-Krieg bzw. seine tausenden Opfer und die jahrelangen Förderer der Hamas zu benennen. Wenn die jüdischen Siedler den palästinensischen Bauern Land wegnehmen, so tun sie das erstmal nicht aus antimuslimischem Rassismus, sondern aus zionistischem Nationalismus. Wenn die Palästinenser dagegen gewaltfrei oder gewaltvoll aufbegehren, so tun sie das erstmal nicht aus Antisemitismus, sondern aus Antizionismus bzw. weil sie schlicht nicht bestohlen und von ihrem Land vertrieben werden wollen. Das Völkerrecht kennt das Recht auf (Selbst-)Verteidigung der Besetzten, aber nicht das Recht auf (Selbst-)Verteidigung der Besatzer.
Dass zugleich eine bestimmte Form der undifferenzierten Antisemitismuskritik oder besser: des Antisemitismus-Vorwurfs seit einigen Jahren von konservativen und (neu-)rechten bis (pseudo-)linken Ideologen als Diffamierung, Rufmord und regelrechtes Herrschaftsinstrument vorzugsweise gegen Linke (und darunter auch noch besonders häufig gegen Linke jüdischer Herkunft) eingesetzt wird, kann seit einiger Zeit ebenfalls vielfach nachgewiesen werden (vgl. z. B. Wolfgang Gehrke: Rufmord. Die Antisemitismus-Kampagne gegen links, PapyRossa, Köln 2015). Auch der Dokumentarfilm »Zeit der Verleumder« (2021) von Dror Dayan und Susann Witt-Stahl bietet viele anschauliche Beispiele nicht nur aus Deutschland und zugleich wichtige Analysen über die Herrschaftsfunktion der Diffamierungsideologie. Angriffe auf renommierte Sozialwissenschaftlerinnen wie Judith Butler, Nancy Fraser und viele andere Intellektuelle sind in den letzten Jahren ebenfalls immer gehäufter aufgetreten. Sehr christliche bis evangelikale Antisemitismus-Beauftragte (wie Felix Klein oder Uwe Becker) diffamieren regelmäßig seit Jahren Menschen wie Moshe Zuckermann, die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, Fraser, Masha Gessen, Butler usw. in diesem Sinne gemeinsam mit antideutschen Ideologen wie Samuel Salzborn, Matthias Küntzel, Heinz Gess, Alex Feuerherdt, Jungle World u. a. sowie Anetta Kahane und der halb-staatlichen »NGO« Amadeo Antonio Stiftung. Damit verbunden sind fast immer mindestens Raumverbote und Druck auf öffentliche Einrichtungen. Wie schon während der Corona-Zeit eingeübt, geht es dabei fast nie um öffentlichen Streit der kontroversen Argumente, sondern immer wieder nur um das Canceln.
Durch diese verschiedenen Diffamierungskampagnen wird der Begriff des Antisemitismus regelrecht inflationiert, darüber entleert und in seiner wichtigen kritischen Substanz zerstört. Dem Kampf gegen Antisemitismus wird somit ein Bärendienst erwiesen.
Der bspw. für die Ausladung bzw. Ausgrenzung Nancy Frasers verantwortliche Präsident der Universität zu Köln, Prof. Joybrato Mukherjee, ist bereits als DAAD-Präsident dafür bekannt gewesen, im Auftrag des Auswärtigen Amtes den akademischen Boykott jeglicher wissenschaftlichen Kontakte mit russischen Kolleginnen und Kollegen, Hochschulen und Instituten seit Ende Februar 2022 durchzusetzen. Stolz berichtet er: »Die Wissenschaftssanktionen gegen Russland waren und sind richtig, alle Verbindungen auf institutioneller Ebene nach Russland wurden gekappt« (Frankfurter Rundschau v. 5.9.2022). Seitdem herrscht quasi »BDS« (Boycott, Desinvestment, Sanctions) gegen Russland und alles Russische weltweit: Kultur, Wissenschaft, Sport usw. Merke: »BDS« gegen »Putins Russland« ist »demokratisch« und »normal« – »BDS« gegen »Netanjahus Israel« ist »antisemitisch«. So einfach geht das.
All das galt und gilt – wie gesagt – schon lange vor den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober 2023 und den israelischen Bombardements des Gaza-Streifens sowie den noch verschärften Repressionen und Tötungen in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten des Westjordanlands. Umso schwächer die argumentative Kraft der Vertreter von Nato-Narrativen ist, desto schärfer sind ihre repressiven Versuche. Bekanntlich treibt die mediale und politische Hetze gegen pro-palästinensische Student(inn)en und gegen gesprächsbereite Wissenschaftler/innen bis hin zu Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit mal wieder originelle Blüten. Ein deutscher Wissenschaftler wie Herfried Münkler fordert gemeinsam mit CDU-Politikern öffentlich, vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtete junge ukrainische Männer in den fast sicheren Tod zu treiben, und eine Wissenschaftsministerin verlangt – mainstream-medial befeuert – die Kriegstüchtigkeit der deutschen Wissenschaft: »Die Zeitenwende zwingt auch die Wissenschaft zu strategischem Denken in Sicherheitsfragen« (Bettina Stark-Watzinger in: FAZ v. 21.08.2023) So genannte Zivilklauseln der Hochschulen können seit der »Zeitenwende« dabei nur stören. Für unbotmäßige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwägt man im Bundeswissenschaftsministerium – verfassungswidrig – straf-, dienst- und förderrechtliche Repressionen, und die Hetz-Presse aus dem Hause Springer bezeichnet die verunglimpften Dozent(inn)en der Einfachheit halber schlicht als »Judenhasser«.
Um zu »beweisen«, dass Stark-Watzinger Recht habe und die Hochschulen angeblich ein Hort des Antisemitismus seien, haben sich nun diverse Medien die international renommierte Kindheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger als Ziel auserkoren. Sie setzt sich seit Jahrzehnten in Forschung und Lehre für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention weltweit ein. Gemeinsam mit dem renommierten Kindheitswissenschaftler Prof. Dr. Manfred Liebel hat sie u. a. einen Aufsatz zum Thema »Kinderrechte und Gaza-Krieg« ins Deutsche übersetzt. Gemeinsam mit einigen weiteren Teilnehmer(inne)n hat sie ein wichtiges Nachwort verfasst, das als Appell an alle Wissenschaftler/innen weltweit verstanden werden darf. Um nur eine Zahl auszuwählen: Die allein schon in den ersten Monaten auf Gaza abgeworfene Sprengkraft entspricht in etwa zwei Atombomben.
Was ist nun das ihr zu Last gelegte »Verbrechen«? Sie hat den Beitrag einer englischen Wissenschaftlerin weitergeleitet, die von »Genozid in Gaza« spricht. Damit habe sie, so der Vorwurf in der Jüdischen Allgemeinen vom 17.6.2024, der BILD vom 17.6.2024 und der B.Z. vom 17. Juni 2024, sich als »Antisemitin« und als Verbreiterin von »Hamas-Terror-Propaganda« entpuppt. Wörtlich heißt es in der Jüdischen Allgemeinen über Bühler-Niederbergers »Vergehen«: »Sie publizierte am Wochenende einen vor einer Woche hochgeladenen Post einer Londoner Professorin namens Hanna Kienzler. Darin heißt es, in der britischen Hauptstadt hätten 200.000 Menschen ›ein Ende von Israels Genozid in Gaza‹ gefordert. Israel verübt allerdings gar keinen Genozid, sondern kämpft in Gaza gegen den palästinensischen Terror, um seine Bevölkerung zu schützen.« Und wer das infragestellt oder einen solchen Beitrag weiterleitet, ist mindestens »Antisemit«, wenn nicht »Hamas-Propagandist«. So einfach geht die Diffamierungs-Logik.
Noch einmal: Zeitungen, die den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 als »genozidal« bezeichnen, leugnen den seit über 8 Monaten von israelischen Politikern und Militärs explizit und implizit ausgerufenen, aktenkundigen sowie anhand seiner zivilen Opfer nachgewiesenen Genozid im Gazastreifen, zu dem der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof ermitteln. In diesem Zusammenhang ist es nicht unerheblich, dass der israelische Premierminister den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes als einen »der großen Antisemiten der Moderne« (ZEIT.de v. 21.5.2024) bezeichnet hat, während der israelische UN-Botschafter mit seiner Davidstern-Aktion und seinem Schreddern der UN-Charta die gesamte UN-Generalversammlung aller Staaten als Haufen von Judenhassern hingestellt hat. Beide, Netanjahu und der israelische UN-Botschafter betreiben NS- und Holocaust-Verharmlosung.
Die Gaza-Genozid-Leugner der Zeitungen B.Z., BILD und Jüdische Allgemeine verleumden also eine Kindheitswissenschaftlerin, die einen Beitrag über (Demos gegen) Kriegsverbrechen in Gaza weiterleitet, schon deshalb als »Antisemitin« und als Verbreiterin von »Hamas-Terror-Propaganda«, weil der von ihr weitergeleitete Artikel von »Genozid in Gaza« handelt. Das reicht den betreffenden Redakteuren offenbar bereits für ihre Diffamierung. Dies bedeutet, dass die Genozid-Ermittlungen des Internationalen Gerichtshofes und des Internationalen Strafgerichtshofes zum Gaza-Krieg auf »Terror-Propaganda« fußen bzw. selbige verbreiten. Ein Vorwurf, der im Lichte der fast nur auf israelischen Quellen basierenden Anklageakten als einigermaßen verwegen angesehen werden kann.
Als nächstes verurteilen die betreffenden Journalisten die Wissenschaftlerin als »antisemitisch«, weil sie sich von einem Post einer anderen Person, die an anderer Stelle vom Zionismus als »Krebsgeschwür« spricht, angeblich nicht explizit distanziert habe (was nachweislich falsch ist, da sie sich noch am selben Tag davon und von antisemitischen Positionen explizit distanziert hatte, was die betreffenden Journalisten wider besseres Wissen unterschlagen). Außerdem habe sie der Formel »From the River to the Sea« zugestimmt (eine umstrittene Parole, die von Palästinensern und vom rechten Likud in diametral entgegengesetzter Weise seit den 1970er Jahren vertreten wird. Der Verfasser des sog. Anti-Antisemitismus-Aufrufs an deutschen Hochschulen, Stephan Liebig, vertritt diese These beispielsweise im groß-israelischen Sinne und mit völkerrechtswidriger Leugnung des palästinensischen Existenzrechts zwischen Jordan und Mittelmeer (vgl. jW v. 4.7.2024). In diesem Denken ist dann wahrscheinlich jeder Anhänger einer Zwei-Staaten-Lösung auch ein Antisemit.
Das »Delikt« der Professorin besteht somit weitgehend in ihrer »Kontaktschuld«. Da wir in einem Rechtsstaat leben, muss dies wohl noch einmal wiederholt werden: Die diffamierenden Zeitungen können der Kindheitswissenschaftlerin offenbar keine einzige antisemitische Äußerung oder »Hamas-Propaganda« nachweisen.
Die von verschiedensten israelischen Medien, Ministern, Militärs und dem Staatspräsidenten Herzog selbst geäußerten genozidalen Forderungen kann hingegen jeder nachlesen. Motto: »In Gaza gibt es keine Unschuldigen an den Anschlägen vom 7. Oktober!« (vgl. S. 60ff. der südafrikanischen Anklageschrift vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel wegen des Verdachts des Völkermords). Auch die hunderttausenden unter Fünfjährigen, auch die eine Million Minderjähriger ohne Hamas-Mittäterschaft; alle seien in der genozidalen Logik schuldig und entsprechend zu »behandeln«.
Die Leugnung der absichtlich und deshalb genozidal herbeigeführten Kollektivbestrafung aller Bewohner/innen des Gaza-Streifens für die Angriffe vom 7. Oktober 2023 seit dem 9. Oktober 2023 mit tagtäglichem Hunger, Durst, Wasser- und Medikamentenmangel, mit Bomben und Raketen, mit Tod und Massenvertreibung (auch der hunderttausenden Kleinkinder), die Leugnung dieser genozidalen Praxis erscheint für die diffamierenden Journalisten im Vergleich zu dem angeblichen »Hamas-Propaganda-Begriff« des »Genozids in Gaza« durch die angegriffene Wissenschaftlerin absolut unbedenklich.
Zugleich gefährdet der mediale, politische und wissenschaftliche Mainstream-Umgang mit dem Nahostkonflikt buchstäblich auch jüdisches Leben, wie Dave Braneck in der Zeitschrift Jacobin.de vom 13. November 2023 schreibt: »Politik und Medien erweisen Jüdinnen und Juden einen Bärendienst, indem sie sie mit Israels Regierung gleichsetzen, jüdische Stimmen für den Frieden unterdrücken und Fremdenfeindlichkeit und Abschiebungen als Lösungsansatz für Antisemitismus verfolgen.«