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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Zeichnen ist wie atmen«

Am 28. Dezem­ber 2024 beging der Zeich­ner und Gra­phi­ker Die­ter Goltz­sche sei­nen 90. Geburts­tag. In 70 Schaf­fens­jah­ren hat der gebür­ti­ge Dresd­ner Künst­ler ein qua­li­ta­tiv und zah­len­mä­ßig über­wäl­ti­gen­des Werk gestal­tet, das in sei­ner Fül­le, Viel­ge­stal­tig­keit und cha­rak­te­ri­sti­schen Prä­gung unver­gleich­lich in der Kunst unse­res Lan­des steht. Es ist fast aus­schließ­lich der Gra­phik und Zeich­nung gewid­met, dar­in ein­ge­schlos­sen eine gro­ße Zahl far­bi­ger Blät­ter, vor allem Aqua­rel­le und Tem­pe­ra­ar­bei­ten. Mit ihrem rela­tiv klei­nen Bild­for­mat glei­chen die­se in der Regel auf Papier aus­ge­führ­ten Wer­ke der »Kam­mer­mu­sik«, wie der Künst­ler selbst cha­rak­te­ri­sier­te. Sie ver­mei­den die lau­ten Töne und kon­zen­trie­ren sich ganz auf sub­li­me­re Wer­te, die sie in den viel­fäl­ti­gen Facet­ten des Lebens ent­decken und bewusst machen. Mit Aus­nah­me des 1978 emp­fan­ge­nen Käthe-Koll­witz-Prei­ses hat der Künst­ler vor­nehm­lich erst nach der poli­ti­schen Wen­de wich­ti­ge Ehrun­gen für sein Schaf­fen erfah­ren: So wur­de er 1990 zum Mit­glied der Aka­de­mie der Kün­ste zu Ber­lin beru­fen, 1992 erhielt er eine Pro­fes­sur an der Kunst­hoch­schu­le Wei­ßen­see, wo er bereits seit 1980 als Dozent lehr­te. 1998 wur­de ihm der Han­nah-Höch-Preis der Stadt Ber­lin ver­lie­hen und 2010 der Hans-Theo-Rich­ter-Preis der Säch­si­schen Aka­de­mie der Künste.

Goltz­sches künst­le­ri­scher Weg begann in den kul­tur­po­li­tisch schwie­ri­gen 1950er Jah­ren mit dem Stu­di­um an der Dres­de­ner Kunst­hoch­schu­le. Als Licht­blicke konn­te er dort die Begeg­nung mit den anti­po­di­schen Pro­fes­so­ren Max Schwim­mer und Hans Theo Rich­ter ver­bu­chen. Die anschlie­ßen­de Mei­ster­schü­ler­zeit bei Max Schwim­mer an der Aka­de­mie der Kün­ste in Ost­ber­lin ende­te abrupt nach nur einem knap­pen Jahr infol­ge kul­tur­po­li­ti­scher Span­nun­gen zwi­schen dem ZK der SED und der Aka­de­mie im Zei­chen der For­ma­lis­mus­schel­te. Allem Pathe­ti­schen abge­neigt, reagier­te Goltz­sche in sei­ner Kunst mit ent­schie­de­ner Abwehr auf die Prä­mis­se von Ideo­lo­gie und Pathos in der damals offi­zi­el­len Kul­tur­po­li­tik. Schon die von sei­ner Bega­bung bestimm­te Ent­schei­dung für das stil­le­re Metier von Zeich­nung und Gra­phik kam die­ser Abwehr­hal­tung gegen­über dem Agi­ta­to­ri­schen zugu­te. Sei­ne frü­hen Moti­ve wähl­te er in den unschein­ba­ren, ideo­lo­gie­frei­en, doch poe­ti­schen Situa­tio­nen des All­tags, etwa einer Möve an der Spree, einem ver­schnei­ten Gar­ten oder einem Spa­zier­gän­ger mit Hund. Sie wur­den gegen­stands­nah mit einem lapi­da­ren Zei­chen­strich auf dem Papier fest­ge­hal­ten. Für Goltz­sche ist »Zeich­nen wie atmen«, er betreibt es erklär­ter­ma­ßen mit einer »unbän­di­gen Lust«.

Die ihm eige­ne Blick­rich­tung auf die authen­ti­schen Momen­te des Lebens, beson­ders auch in sei­nen Rand­er­schei­nun­gen, und ihre Spie­ge­lung in der Kunst wur­den für Goltz­sche Pro­gramm. Sei­ne dau­er­haf­te Moti­va­ti­on kommt aus dem Emp­fin­den eines immer domi­nan­ter wer­den­den Nütz­lich­keits­den­kens, mit dem das Tech­nisch-Ratio­nel­le das Leben zu beherr­schen scheint und die imma­te­ri­el­len Wer­te wie Poe­sie, Fan­ta­sie und Spi­ri­tua­li­tät zu unter­gra­ben droht. Die aktu­el­le Ent­wick­lung mit der wach­sen­den Rol­le einer Künst­li­chen Intel­li­genz etwa unter­streicht nach­hal­tig die Bedeu­tung von Goltz­sches Enga­ge­ment für die leben­di­gen, geist­vol­len, über das Mate­ri­el­le hin­aus­ge­hen­den Wer­te der mensch­li­chen Exi­stenz. Doch ist Die­ter Goltz­sche kein Mora­list, etwa mit dem Ziel, eine ideo­lo­gisch moti­vier­te »Welt­ver­bes­se­rungs­kunst« zu schaf­fen – das weist der Künst­ler weit von sich. Sei­ne Spra­che wird durch Poe­sie und Esprit bestimmt: Es sind farb­in­ten­si­ve oder auch zar­te Farb­klän­ge, beweg­te Linea­men­te, har­mo­nisch aus­ge­wo­ge­ne Kom­po­si­tio­nen mit bis­wei­len fan­ta­sti­schen gegen­ständ­li­chen Ein­spreng­seln und manch­mal ver­blüf­fen­der Nähe zum Sur­rea­len. Die Kunst spielt mit den letz­ten Din­gen ein  u n w i s s e n d  Spiel, und erreicht sie doch, so hat­te Paul Klee for­mu­liert, und davon ist auch Goltz­sche über­zeugt, der in die­sem Sin­ne eine sei­ner Tusch­pin­sel­zeich­nun­gen mit frei schwe­ben­den, lyrisch-abstrak­ten Figu­ra­tio­nen »Tusche­spiel« (2016) nann­te. Dem Betrach­ter sei­ner Bil­der eröff­net sich stau­nend ein Refu­gi­um der Intui­ti­on mit Anklän­gen des Unbe­wuss­ten, das ihn kurz­zei­tig die Wid­rig­kei­ten des All­tags ver­ges­sen lässt. Es ist eine zeit­lo­se Stra­te­gie, die schon Fried­rich Nietz­sche, der Künst­ler­phi­lo­soph, den Schaf­fen­den nahe­ge­legt hat­te. Im Gei­ste ver­wandt hat­te auch der von Goltz­sche geschätz­te Fran­zo­se Hen­ri Matis­se der Kunst die Funk­ti­on eines »guten Lehn­stuhls« zuge­dacht. So steht Die­ter Goltz­sche sowohl in der Tra­di­ti­on der klas­si­schen Moder­ne vom Beginn des 20. Jahr­hun­derts als auch in der Tra­di­ti­on der Roman­tik. Er ist ein moder­ner Roman­ti­ker, abseits vom Main­stream des aktu­el­len Kunstbetriebs.

Seit den 1970er Jah­ren trat zuneh­mend die Abstrak­ti­on sei­ner Erleb­nis­se und Emp­fin­dun­gen in den Vor­der­grund. Auch erwei­ter­te der Künst­ler sei­ne Aus­drucks­mög­lich­kei­ten von der anfangs domi­nie­ren­den schwar­zen Linie sowohl in der Gra­phik als auch in der Zeich­nung hin zum Ein­satz der Far­be in den 1960er Jah­ren, als Aqua­rel­le und Tem­pe­ra­bil­der ent­stan­den. Stets war es ihm wich­tig, die Per­fek­ti­on und damit eine Vir­tuo­si­tät zu mei­den, die Linie durf­te nicht in arti­sti­scher Kal­li­gra­fie mün­den, die Farb­flä­chen wur­den sogar teil­wei­se mit stump­fen, abge­nutz­ten Pin­seln gefüllt. Alles, um den Aus­druck von Glät­te, vor­der­grün­di­ger Schön­heit, zu ver­mei­den, dafür aber emo­tio­na­le Tie­fe und Echt­heit zu erzeugen.

Mit der Hin­wen­dung zur Abstrak­ti­on, das heißt zur Ver­knap­pung des Gegen­ständ­li­chen bis zum rei­nen Aus­druck der Far­be, beton­te Goltz­sche stär­ker das Kom­po­si­tio­nel­le sei­ner Bil­der. Die Form selbst wur­de zum Inhalt. So ent­ste­hen im Geviert der Bild­flä­che eige­ne »klei­ne Wel­ten«, Gebil­de aus For­men und Far­ben, in denen Rhyth­mus und eine Balan­ce der Kräf­te vor­herr­schen, die unse­re See­le berüh­ren – ver­gleich­bar der Musik.

Für den Betrach­ter gibt der Künst­ler bei den mei­sten sei­ner abstrak­ten Bil­der eine Art Asso­zia­ti­ons­hil­fe, etwa durch den Titel und/​oder poin­tier­te gegen­stands­na­he zeich­ne­ri­sche Ein­fü­gun­gen. Die Titel wer­den jedoch nie vor­sätz­lich, son­dern erst nach Voll­endung einer durch intui­ti­ve Kon­zen­tra­ti­on gestal­te­ten Zeich­nung ver­ge­ben. Nicht sel­ten erschei­nen sie viel­deu­tig und rät­sel­haft. So ist zum Bei­spiel ein Pastell aus dem Jahr 2001 »Türk« beti­telt, bei dem ver­mut­lich domi­nan­te tür­ki­se Farb­flecken und ori­en­ta­li­sche Orna­ment­frag­men­te den Titel nach­träg­lich inspirierten.

In den zurück­lie­gen­den zwei Jahr­zehn­ten hat Die­ter Goltz­sche noch­mal eine ganz neue Werk­grup­pe geschaf­fen. Es sind in Far­be und Form weit­ge­hend redu­zier­te Tusch­pin­sel­zeich­nun­gen, Pin­sel­schwün­ge in Schwarz, die im frei­en Spiel der Kräf­te Form­ge­fü­ge in aus­glei­chen­der Balan­ce dar­stel­len. Sie erschei­nen als Sum­me aus Jahr­zehn­ten krea­ti­ven Schaf­fens und bestä­ti­gen den Apho­ris­mus, den Jean Paul als Zeit­ge­nos­se der Roman­tik präg­te: Sprach­kür­ze gibt Denk­wei­te.