Am 28. Dezember 2024 beging der Zeichner und Graphiker Dieter Goltzsche seinen 90. Geburtstag. In 70 Schaffensjahren hat der gebürtige Dresdner Künstler ein qualitativ und zahlenmäßig überwältigendes Werk gestaltet, das in seiner Fülle, Vielgestaltigkeit und charakteristischen Prägung unvergleichlich in der Kunst unseres Landes steht. Es ist fast ausschließlich der Graphik und Zeichnung gewidmet, darin eingeschlossen eine große Zahl farbiger Blätter, vor allem Aquarelle und Temperaarbeiten. Mit ihrem relativ kleinen Bildformat gleichen diese in der Regel auf Papier ausgeführten Werke der »Kammermusik«, wie der Künstler selbst charakterisierte. Sie vermeiden die lauten Töne und konzentrieren sich ganz auf sublimere Werte, die sie in den vielfältigen Facetten des Lebens entdecken und bewusst machen. Mit Ausnahme des 1978 empfangenen Käthe-Kollwitz-Preises hat der Künstler vornehmlich erst nach der politischen Wende wichtige Ehrungen für sein Schaffen erfahren: So wurde er 1990 zum Mitglied der Akademie der Künste zu Berlin berufen, 1992 erhielt er eine Professur an der Kunsthochschule Weißensee, wo er bereits seit 1980 als Dozent lehrte. 1998 wurde ihm der Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin verliehen und 2010 der Hans-Theo-Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste.
Goltzsches künstlerischer Weg begann in den kulturpolitisch schwierigen 1950er Jahren mit dem Studium an der Dresdener Kunsthochschule. Als Lichtblicke konnte er dort die Begegnung mit den antipodischen Professoren Max Schwimmer und Hans Theo Richter verbuchen. Die anschließende Meisterschülerzeit bei Max Schwimmer an der Akademie der Künste in Ostberlin endete abrupt nach nur einem knappen Jahr infolge kulturpolitischer Spannungen zwischen dem ZK der SED und der Akademie im Zeichen der Formalismusschelte. Allem Pathetischen abgeneigt, reagierte Goltzsche in seiner Kunst mit entschiedener Abwehr auf die Prämisse von Ideologie und Pathos in der damals offiziellen Kulturpolitik. Schon die von seiner Begabung bestimmte Entscheidung für das stillere Metier von Zeichnung und Graphik kam dieser Abwehrhaltung gegenüber dem Agitatorischen zugute. Seine frühen Motive wählte er in den unscheinbaren, ideologiefreien, doch poetischen Situationen des Alltags, etwa einer Möve an der Spree, einem verschneiten Garten oder einem Spaziergänger mit Hund. Sie wurden gegenstandsnah mit einem lapidaren Zeichenstrich auf dem Papier festgehalten. Für Goltzsche ist »Zeichnen wie atmen«, er betreibt es erklärtermaßen mit einer »unbändigen Lust«.
Die ihm eigene Blickrichtung auf die authentischen Momente des Lebens, besonders auch in seinen Randerscheinungen, und ihre Spiegelung in der Kunst wurden für Goltzsche Programm. Seine dauerhafte Motivation kommt aus dem Empfinden eines immer dominanter werdenden Nützlichkeitsdenkens, mit dem das Technisch-Rationelle das Leben zu beherrschen scheint und die immateriellen Werte wie Poesie, Fantasie und Spiritualität zu untergraben droht. Die aktuelle Entwicklung mit der wachsenden Rolle einer Künstlichen Intelligenz etwa unterstreicht nachhaltig die Bedeutung von Goltzsches Engagement für die lebendigen, geistvollen, über das Materielle hinausgehenden Werte der menschlichen Existenz. Doch ist Dieter Goltzsche kein Moralist, etwa mit dem Ziel, eine ideologisch motivierte »Weltverbesserungskunst« zu schaffen – das weist der Künstler weit von sich. Seine Sprache wird durch Poesie und Esprit bestimmt: Es sind farbintensive oder auch zarte Farbklänge, bewegte Lineamente, harmonisch ausgewogene Kompositionen mit bisweilen fantastischen gegenständlichen Einsprengseln und manchmal verblüffender Nähe zum Surrealen. Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein u n w i s s e n d Spiel, und erreicht sie doch, so hatte Paul Klee formuliert, und davon ist auch Goltzsche überzeugt, der in diesem Sinne eine seiner Tuschpinselzeichnungen mit frei schwebenden, lyrisch-abstrakten Figurationen »Tuschespiel« (2016) nannte. Dem Betrachter seiner Bilder eröffnet sich staunend ein Refugium der Intuition mit Anklängen des Unbewussten, das ihn kurzzeitig die Widrigkeiten des Alltags vergessen lässt. Es ist eine zeitlose Strategie, die schon Friedrich Nietzsche, der Künstlerphilosoph, den Schaffenden nahegelegt hatte. Im Geiste verwandt hatte auch der von Goltzsche geschätzte Franzose Henri Matisse der Kunst die Funktion eines »guten Lehnstuhls« zugedacht. So steht Dieter Goltzsche sowohl in der Tradition der klassischen Moderne vom Beginn des 20. Jahrhunderts als auch in der Tradition der Romantik. Er ist ein moderner Romantiker, abseits vom Mainstream des aktuellen Kunstbetriebs.
Seit den 1970er Jahren trat zunehmend die Abstraktion seiner Erlebnisse und Empfindungen in den Vordergrund. Auch erweiterte der Künstler seine Ausdrucksmöglichkeiten von der anfangs dominierenden schwarzen Linie sowohl in der Graphik als auch in der Zeichnung hin zum Einsatz der Farbe in den 1960er Jahren, als Aquarelle und Temperabilder entstanden. Stets war es ihm wichtig, die Perfektion und damit eine Virtuosität zu meiden, die Linie durfte nicht in artistischer Kalligrafie münden, die Farbflächen wurden sogar teilweise mit stumpfen, abgenutzten Pinseln gefüllt. Alles, um den Ausdruck von Glätte, vordergründiger Schönheit, zu vermeiden, dafür aber emotionale Tiefe und Echtheit zu erzeugen.
Mit der Hinwendung zur Abstraktion, das heißt zur Verknappung des Gegenständlichen bis zum reinen Ausdruck der Farbe, betonte Goltzsche stärker das Kompositionelle seiner Bilder. Die Form selbst wurde zum Inhalt. So entstehen im Geviert der Bildfläche eigene »kleine Welten«, Gebilde aus Formen und Farben, in denen Rhythmus und eine Balance der Kräfte vorherrschen, die unsere Seele berühren – vergleichbar der Musik.
Für den Betrachter gibt der Künstler bei den meisten seiner abstrakten Bilder eine Art Assoziationshilfe, etwa durch den Titel und/oder pointierte gegenstandsnahe zeichnerische Einfügungen. Die Titel werden jedoch nie vorsätzlich, sondern erst nach Vollendung einer durch intuitive Konzentration gestalteten Zeichnung vergeben. Nicht selten erscheinen sie vieldeutig und rätselhaft. So ist zum Beispiel ein Pastell aus dem Jahr 2001 »Türk« betitelt, bei dem vermutlich dominante türkise Farbflecken und orientalische Ornamentfragmente den Titel nachträglich inspirierten.
In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat Dieter Goltzsche nochmal eine ganz neue Werkgruppe geschaffen. Es sind in Farbe und Form weitgehend reduzierte Tuschpinselzeichnungen, Pinselschwünge in Schwarz, die im freien Spiel der Kräfte Formgefüge in ausgleichender Balance darstellen. Sie erscheinen als Summe aus Jahrzehnten kreativen Schaffens und bestätigen den Aphorismus, den Jean Paul als Zeitgenosse der Romantik prägte: Sprachkürze gibt Denkweite.