Ein linkes Dilemma: auf Krieg reagieren und dabei Haltung und Prinzipien wahren. Beim Ukrainekrieg scheint das leicht, im Gaza-Streifen und im Südlibanon eher nicht. Hüben steht der Aggressor fest, drüben eigentlich auch, wenn nur nicht die vielen Opfer israelischer Angriffe wären. Leichenzähler mögen die Frage stellen, ob als Reaktion auf die barbarische Hamas-Attacke vor gut einem Jahr die Zerstörung so vieler Städte, der Tod so vieler Menschen noch angemessen sein kann. Wenn man von »angemessen« überhaupt sprechen darf, ohne als Zyniker dazustehen.
Uns allen geht die junge Frau nicht aus dem Kopf, die mit blutverschmierter Kleidung auf einen Pickup geworfen wird, gleich nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023. Geschlagen und vergewaltigt, wird sie schließlich getötet und kommt als Leichnam heim zu ihren Eltern. Und Hunderttausende russischer Soldaten an der Grenze zum Donbass gehen uns auch nicht aus dem Kopf, und auch nicht das brennende Gewerkschaftshaus in Odessa, im Mai 2014.
Das stellt Fragen an alle Linken im Lande. Wie steht Ihr dazu? Wie wägt Ihr ab zwischen der Verpflichtung zum Frieden und der Stärkung der Ukraine, durchaus mit Waffen und Geld? Und wollt Ihr die Nationalisten dort noch mit Panzern und Gewehren füttern, die das Land schon vor Putins schrecklichem Angriff auseinandergerissen haben?
Oder: Steht Ihr immer noch unverbrüchlich zu Israel? Und warnt laut vor antisemitischem Geschrei, das hier immer lauter ertönt? Und weint zugleich – das muss man – um die Kinder und Frauen in Gaza, die alles verloren haben?
Das sind schwer ertragbare Sätze; die Linke in Deutschland muss sie zulassen. Sie muss sich fragen lassen, ob nicht ihre Positionen überkommen und veraltet sind. Sie muss sich fragen, wie sie zu Freiheit und Demokratie steht, wie zu den Sorgen, die nicht allein ein Land betreffen. Krieg und Zerstörung, auch die von Umwelt und Klima, treffen den ganzen Erdball, die Armen im Süden wie immer doppelt hart. Nicht zuletzt deshalb enden die Flüchtlingsströme nicht: Kein Mensch bleibt daheim, wenn er kein Wasser mehr hat, kein Getreide und kein sicheres Leben.
Nur hilft es nicht, dann vom Versagen der linken Bewegung zu sprechen. Auch nicht beim Ukraine-Krieg: Das Land soll – auch – westlicher Vorposten gegen Russland sein. Auch nicht im Nahen Osten: Israel soll – auch – den arabischen Nachbarn trotzen, als Bollwerk im Kampf um Rohstoffe. Beides verantwortet nicht die bundesdeutsche Linke.
Aber, bitte, keine Schlagworte und keine einfachen Lösungen. Die Linke im Land steht vor Umbrüchen und Fragen. Und hat bis dato nicht immer gute Antworten darauf gefunden. Es ist ein Gemeinplatz, zu sagen, dass kapitalistisches Wirtschaften Konflikte um Einfluss, Märkte und Rohstoffe braucht »wie die Luft zum Atmen«. Es ist eine Phrase, zu sagen, dass Kriege um Öl und Absatzgebiete geführt werden. Und es ist bloß eine Formel, dass demokratische Gesellschaften mit ihrem Grundsatz von Dialog und Ausgleich die besten Lösungen bieten.
Wie wir sehen, ist das nicht immer der Fall. Politikwissenschaft, wo immer sie sich ein System vornimmt, kommt nicht um die Geschichte, kommt nicht um die Frage nach Kräfteverhältnissen, Macht und Einfluss herum. Seit ihrem Aufkommen ist die repräsentative Demokratie auch eine Herrschaftsform, gebunden an eine klar umrissene soziale und ökonomisch definierte Gruppierung. Sie hat das Manufakturwesen, den Merkantilismus, das kleinteilige Wirtschaften, sie hat die Abschöpfung allein durch den Adel abgelöst und auf breitere Schultern gesetzt: auf die der Bourgeoisie, definiert als besitzende Klasse. Fabriken und Land, Handelswege und Vertriebsmöglichkeiten wurden größer, damit auch der Kreis von Menschen, die daran beteiligt waren – und mitbestimmen wollten, was aus ihrem Geld, ihren Produkten werden sollte.
Demokratie ist keine abstrakte, für immer gültige Staatsform. Wo sie Freiheit garantiert, tut sie es auch, weil zur Freiheit auch freies Wirtschaften gehört. Ein anderes Beispiel: Die Ostverträge Willy Brandts waren auch ökonomisch fundiert und brachten die Nachkriegszeit an ein Ende. Öl und Gas konnten gekauft, Stahlröhren verkauft werden. Und die neuerliche Zulassung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik war mit den Berufsverboten erkauft: Angelegenheiten von Kräfteverhältnissen, der Ausgleich, den die demokratische Gesellschaft suchen musste, um den Zusammenhalt nicht zu verlieren.
Die linke Bewegung in Deutschland hat daran ihren Anteil. Sie hat das Land freier gemacht, offener und moderner. Sie hat den Friedensgedanken in die Gesellschaft getragen, sie hat Klima und Umwelt eine Stellung eingeräumt, die zuvor nur versprengte »Öko-Spinner« vertraten. Sie hat damit unser Land besser gemacht. Dass sie den Krieg in der Ukraine, den Krieg im Nahen Osten nicht beenden kann, darf man ihr nicht zum Vorwurf machen. Ebenso nicht die – berechtigten – Schreckensgemälde aus der sozialistischen Vorhölle, wie sie aktuell erneut gemalt werden (auch in manchem Ossietzky-Beitrag).