Nun schon mehr als 300 Tage dauert der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine an und wird mit zunehmender Härte und Zerstörung geführt. Wenn man sich mit den Druckzyklen Francisco Goyas auseinandersetzt, in denen dieser sich mit Krieg und sozialen Missständen in Spanien auseinandersetzte, wird einem vieles bekannt vorkommen. Goya war bereits Hofmaler der königlichen Familie und ein erfolgreicher Porträtist der Aristokratie, als er 1792 schwer erkrankte, und das führte zu einer lebenslangen Gehörlosigkeit und auch zu einer Wende in seinem künstlerischen Schaffen. In dem zwischen 1793 und 1799 entstandenen gesellschaftskritischen Zyklus von Aquatinta-Radierungen »Los Caprichos« verspottete er im Zeichen der europäischen Aufklärung menschliche Schwächen und Torheiten, geißelte aber auch die gesellschaftlichen Missstände wie die Laster der spanischen Gesellschaft oder den Missbrauch klerikaler Gewalt.
Eine Reihe von Skizzen hat er mit »Träume« überschrieben. Unter die Radierung von einem träumenden, über einen Tisch zusammengesunkenen Mann, einen Künstler, hatte er geschrieben: »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. Die heranstürmenden Nachtgespenster gibt es nur, solange der Mensch schläft, sich der Finsternis ausliefert, anstatt selbst zu denken. Eine Eule, damals in Spanien Symbol der Finsternis, Rückständigkeit und Ignoranz, sitzt dem Träumenden mit geöffneten Flügeln im Nacken. Der Traum war aber auch für Goya das Tor zur Kunst, in den Träumen sprach das »Es« uneingeschränkte Wahrheit.
Als der 1808 begonnene Spanienkrieg Napoleons sich zu einem Volksaufstand gegen eine reguläre Armee, aber auch zu einem Bürgerkrieg entwickelte – der Krieg gegen die Eindringlinge war eben auch ein Bürgerkrieg und Spanien gab damit überhaupt das Fanal für die europäischen Befreiungskriege –, wurden die Kriegsschrecken, die Grausamkeiten, die auf beiden Seiten geschahen, das Hauptthema der radierten Blätter »Desastres«. Die 82 Drucke tragen alle einen knappen Titel, der voller Schmerz, sarkastisch oder mit schneidender Ironie feststellt: »Das ist schlimm« (Blatt 46), wenn einem Mönch das Messer in die Brust gestochen wird, »Sie haben den Nutzen« (Blatt 16), wenn es um die Plünderungen geht. »Dafür seid ihr geboren« (Blatt 12) ruft Goya den Mördern angesichts eines Leichenhaufens zu; was ist das für eine »große Heldentat« (Blatt 39), wenn zerstückelte Leichen an Bäume gehängt werden. »Man weiß nicht warum« (Blatt 36) – warum betrachtet der Soldat stolz sein Werk, einen Mann gehängt zu haben? »Man kann es nicht ansehen« (Blatt 26) – diese Szene mit den unglücklichen Opfern, bevor die Schüsse fallen. Kann »Nächstenliebe« (Blatt 27) nur noch darin bestehen, die nackten Toten in die Grube zu werfen?
Eine Erschießungsszene – »Und es gibt keine Hilfe« (Blatt 15): Hell erleuchtet der Körper des an einen Pfahl gebundenen Opfers vor dunklem Raum, nur ein Gewehrlauf ragt als Zeichen hinein, ohne die dazu gehörigen Täter. Ein bereits Erschossener liegt zu Füßen des Todgeweihten, während ein weiterer Toter in einer Bodensenke zu ahnen ist. Im Hintergrund aber exekutieren Soldaten Zivilisten, hinter denen sich ein gleißendes Licht öffnet. Hier sind das bereits Geschehene, die beiden Getöteten, das momentane Geschehen, die Füsilierung im Hintergrund, und das Kommende, das nur in einem Bildzeichen angedeutet wird, simultan in einem Bild totaler Ausweglosigkeit vereinigt. Das Erleiden im Vordergrund scheint in einzelnen Phasen aufgelöst: der Tote, der noch Lebende und der Gewehrlauf, das Bildzeichen seines sicheren Endes.
Auf Blatt 69 hält ein verwesender Leichnam ein Papier mit der Aufschrift »Nichts. Das heißt es« aus dem Grab. Ist das als atheistische Botschaft zu verstehen? Die Herausgeber der Erstausgabe der »Desastres« von 1863 haben Goyas Kommentar abgeschwächt. Jetzt hieß dieser: »Nichts. Das wird sich zeigen«.
»Elende Menschheit, Du trägst die Schuld«, heißt es auf Blatt 74, das den Titel trägt: »Das ist das Schlimmste!« Der Krieg entfaltet sich in der Darstellung grausamer Szenen, von Kriegsgräueln, Vergewaltigungen, Erschießungen, Gemetzel, Hinrichtungen, sadistischen Gewalttaten, Plünderungen, Leichenfledderei, dem Abschlachten von Menschen, Menschen auf der Flucht… Aber er wird von Goya nicht als abstrakte Maschinerie gezeigt, sondern im persönlichen, individuellen Schicksal offenbart sich seine ganze Grausamkeit, die sinnlos Leben zerstört. Die Drucke gewinnen ihren wahren Hintersinn erst aus der Spannung zwischen Szene und beigefügter Bildlegende. Ständig variiert die Perspektive. Einmal stehen die Figuren tief im Bildraum, dann wieder sind sie greifbar nahe und machen den Betrachter zum intimen Mitwisser, ja, auch zum Mit-Schuldigen.
Aber wenn Goya mit dem Titel eines seiner Blätter – es zeigt Menschen auf der Flucht – auch behauptet, »Ich habe es gesehen« (Blatt 44), so ist diese Aussage eine Art »Beglaubigungsstrategien«, »indem Goya sich selbst als Augenzeugen der Ereignisse darstellt«, die er nicht persönlich erlebt hat, schreibt der spanische Goya-Kenner José Manuel Matilla. Goya hat zwar selbst die Zerstörungen und Verwüstungen zur Kenntnis genommen, die durch die französische Belagerung in Saragossa entstanden sind, aber was in diesen Kriegsjahren allerorts geschah, hat er komprimiert in »vollkommen neuartigen, von der Realität ausgehenden Bildfindungen« – so J. M. Matilla – hervorgebracht.
Dass Goya seine »Desastres« nicht zu Lebzeiten veröffentlichte, mag auch darin begründet sein, dass er Furcht vor der Inquisition hatte, die der spanische absolutistische König Ferdinand VII. 1814 wieder eingeführt hatte. Aber wären damals überhaupt seine Graphiken vom Publikum angenommen worden? Goyas berühmtes Gemälde »Die Erschießung der Aufständischen« (1814) fand erst 40 Jahre später Anerkennung.
Goyas Räume sind keine Landschaften, in denen man sich ergehen kann. Der Raum ist zu einem Gefängnis von bedrückender Ausweglosigkeit geworden, den die Menschen durchschreiten müssen, der sie bedrängt. Detailtreue, Unmittelbarkeit und brillante Beobachtung gehören zu seinem Stil. Durchgehend ist Goya schrecklich klarsichtig über die physische Brutalität von Konflikten. Es folgen allegorische Bilder, die die Krise des Nachkriegs-Spanien dunkel reflektieren. Die stilistische Nähe zu seinen Augenzeugenbildern lassen sie befremdlich echt erscheinen.
Der Künstler war tief enttäuscht, dass nach dem Freiheitskampf der Spanier, die sich doch gegen die Missachtung und Ausschaltung ihres Königshauses erhoben hatten, mit Ferdinand VII. sich nur ein neues Despotentum aufgetan hatte. Absolutismus und Irrationalismus waren mit der Wiedererstarkung von Adel und Kirche in Spanien wieder eingezogen. »Sie wissen den Weg nicht« (Blatt 70): Mönche, Geistliche und Aristokraten ziehen durch das Bild, sich an einem Seil haltend, das den Absturz aber nicht verhindern kann. Goya sollte dann selbst 1824 ins Exil nach Frankreich gehen.
Ergriffen von der großen Kunst des spanischen Meisters ist man zugleich auch wie gelähmt angesichts der Bilder des Schreckens, der Verwüstung und Zerstörung. Wie kann man Goyas künstlerischen Anklagen des Krieges, dessen Grausamkeit er stellvertretend für alle Kriege der Welt festgehalten hat, dennoch einen hoffnungsvollen Impuls abgewinnen? Winston Churchill mag ein konservativer Premierminister gewesen sein, aber er hat die Anti-Hitler-Koalition geschmiedet und wesentlich zur Befreiung Europas von der NS-Gewaltherrschaft beigetragen. Sein Wort aus dem Kriegsjahr 1942 wäre auch heute noch bedenkenswert: »Das ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist – vielleicht – das Ende des Anfangs.«