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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Yo lo vi« – »Ich habe das gesehen«

Nun schon mehr als 300 Tage dau­ert der Angriffs­krieg Russ­lands in der Ukrai­ne an und wird mit zuneh­men­der Här­te und Zer­stö­rung geführt. Wenn man sich mit den Druck­zy­klen Fran­cis­co Goyas aus­ein­an­der­setzt, in denen die­ser sich mit Krieg und sozia­len Miss­stän­den in Spa­ni­en aus­ein­an­der­setz­te, wird einem vie­les bekannt vor­kom­men. Goya war bereits Hof­ma­ler der könig­li­chen Fami­lie und ein erfolg­rei­cher Por­trä­tist der Ari­sto­kra­tie, als er 1792 schwer erkrank­te, und das führ­te zu einer lebens­lan­gen Gehör­lo­sig­keit und auch zu einer Wen­de in sei­nem künst­le­ri­schen Schaf­fen. In dem zwi­schen 1793 und 1799 ent­stan­de­nen gesell­schafts­kri­ti­schen Zyklus von Aqua­tin­ta-Radie­run­gen »Los Caprichos« ver­spot­te­te er im Zei­chen der euro­päi­schen Auf­klä­rung mensch­li­che Schwä­chen und Tor­hei­ten, gei­ßel­te aber auch die gesell­schaft­li­chen Miss­stän­de wie die Laster der spa­ni­schen Gesell­schaft oder den Miss­brauch kle­ri­ka­ler Gewalt.

Eine Rei­he von Skiz­zen hat er mit »Träu­me« über­schrie­ben. Unter die Radie­rung von einem träu­men­den, über einen Tisch zusam­men­ge­sun­ke­nen Mann, einen Künst­ler, hat­te er geschrie­ben: »Der Schlaf der Ver­nunft gebiert Unge­heu­er«. Die her­an­stür­men­den Nacht­ge­spen­ster gibt es nur, solan­ge der Mensch schläft, sich der Fin­ster­nis aus­lie­fert, anstatt selbst zu den­ken. Eine Eule, damals in Spa­ni­en Sym­bol der Fin­ster­nis, Rück­stän­dig­keit und Igno­ranz, sitzt dem Träu­men­den mit geöff­ne­ten Flü­geln im Nacken. Der Traum war aber auch für Goya das Tor zur Kunst, in den Träu­men sprach das »Es« unein­ge­schränk­te Wahrheit.

Als der 1808 begon­ne­ne Spa­ni­en­krieg Napo­le­ons sich zu einem Volks­auf­stand gegen eine regu­lä­re Armee, aber auch zu einem Bür­ger­krieg ent­wickel­te – der Krieg gegen die Ein­dring­lin­ge war eben auch ein Bür­ger­krieg und Spa­ni­en gab damit über­haupt das Fanal für die euro­päi­schen Befrei­ungs­krie­ge –, wur­den die Kriegs­schrecken, die Grau­sam­kei­ten, die auf bei­den Sei­ten gescha­hen, das Haupt­the­ma der radier­ten Blät­ter »Desa­stres«. Die 82 Drucke tra­gen alle einen knap­pen Titel, der vol­ler Schmerz, sar­ka­stisch oder mit schnei­den­der Iro­nie fest­stellt: »Das ist schlimm« (Blatt 46), wenn einem Mönch das Mes­ser in die Brust gesto­chen wird, »Sie haben den Nut­zen« (Blatt 16), wenn es um die Plün­de­run­gen geht. »Dafür seid ihr gebo­ren« (Blatt 12) ruft Goya den Mör­dern ange­sichts eines Lei­chen­hau­fens zu; was ist das für eine »gro­ße Hel­den­tat« (Blatt 39), wenn zer­stückel­te Lei­chen an Bäu­me gehängt wer­den. »Man weiß nicht war­um« (Blatt 36) – war­um betrach­tet der Sol­dat stolz sein Werk, einen Mann gehängt zu haben? »Man kann es nicht anse­hen« (Blatt 26) – die­se Sze­ne mit den unglück­li­chen Opfern, bevor die Schüs­se fal­len. Kann »Näch­sten­lie­be« (Blatt 27) nur noch dar­in bestehen, die nack­ten Toten in die Gru­be zu werfen?

Eine Erschie­ßungs­sze­ne – »Und es gibt kei­ne Hil­fe« (Blatt 15): Hell erleuch­tet der Kör­per des an einen Pfahl gebun­de­nen Opfers vor dunk­lem Raum, nur ein Gewehr­lauf ragt als Zei­chen hin­ein, ohne die dazu gehö­ri­gen Täter. Ein bereits Erschos­se­ner liegt zu Füßen des Tod­ge­weih­ten, wäh­rend ein wei­te­rer Toter in einer Boden­sen­ke zu ahnen ist. Im Hin­ter­grund aber exe­ku­tie­ren Sol­da­ten Zivi­li­sten, hin­ter denen sich ein glei­ßen­des Licht öff­net. Hier sind das bereits Gesche­he­ne, die bei­den Getö­te­ten, das momen­ta­ne Gesche­hen, die Füsi­lie­rung im Hin­ter­grund, und das Kom­men­de, das nur in einem Bild­zei­chen ange­deu­tet wird, simul­tan in einem Bild tota­ler Aus­weg­lo­sig­keit ver­ei­nigt. Das Erlei­den im Vor­der­grund scheint in ein­zel­nen Pha­sen auf­ge­löst: der Tote, der noch Leben­de und der Gewehr­lauf, das Bild­zei­chen sei­nes siche­ren Endes.

Auf Blatt 69 hält ein ver­we­sen­der Leich­nam ein Papier mit der Auf­schrift »Nichts. Das heißt es« aus dem Grab. Ist das als athe­isti­sche Bot­schaft zu ver­ste­hen? Die Her­aus­ge­ber der Erst­aus­ga­be der »Desa­stres« von 1863 haben Goyas Kom­men­tar abge­schwächt. Jetzt hieß die­ser: »Nichts. Das wird sich zeigen«.

»Elen­de Mensch­heit, Du trägst die Schuld«, heißt es auf Blatt 74, das den Titel trägt: »Das ist das Schlimm­ste!« Der Krieg ent­fal­tet sich in der Dar­stel­lung grau­sa­mer Sze­nen, von Kriegs­gräu­eln, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Erschie­ßun­gen, Gemet­zel, Hin­rich­tun­gen, sadi­sti­schen Gewalt­ta­ten, Plün­de­run­gen, Lei­chen­fled­de­rei, dem Abschlach­ten von Men­schen, Men­schen auf der Flucht… Aber er wird von Goya nicht als abstrak­te Maschi­ne­rie gezeigt, son­dern im per­sön­li­chen, indi­vi­du­el­len Schick­sal offen­bart sich sei­ne gan­ze Grau­sam­keit, die sinn­los Leben zer­stört. Die Drucke gewin­nen ihren wah­ren Hin­ter­sinn erst aus der Span­nung zwi­schen Sze­ne und bei­gefüg­ter Bild­le­gen­de. Stän­dig vari­iert die Per­spek­ti­ve. Ein­mal ste­hen die Figu­ren tief im Bild­raum, dann wie­der sind sie greif­bar nahe und machen den Betrach­ter zum inti­men Mit­wis­ser, ja, auch zum Mit-Schuldigen.

Aber wenn Goya mit dem Titel eines sei­ner Blät­ter – es zeigt Men­schen auf der Flucht – auch behaup­tet, »Ich habe es gese­hen« (Blatt 44), so ist die­se Aus­sa­ge eine Art »Beglau­bi­gungs­stra­te­gien«, »indem Goya sich selbst als Augen­zeu­gen der Ereig­nis­se dar­stellt«, die er nicht per­sön­lich erlebt hat, schreibt der spa­ni­sche Goya-Ken­ner José Manu­el Matil­la. Goya hat zwar selbst die Zer­stö­run­gen und Ver­wü­stun­gen zur Kennt­nis genom­men, die durch die fran­zö­si­sche Bela­ge­rung in Sara­gos­sa ent­stan­den sind, aber was in die­sen Kriegs­jah­ren aller­orts geschah, hat er kom­pri­miert in »voll­kom­men neu­ar­ti­gen, von der Rea­li­tät aus­ge­hen­den Bild­fin­dun­gen« – so J. M. Matil­la – hervorgebracht.

Dass Goya sei­ne »Desa­stres« nicht zu Leb­zei­ten ver­öf­fent­lich­te, mag auch dar­in begrün­det sein, dass er Furcht vor der Inqui­si­ti­on hat­te, die der spa­ni­sche abso­lu­ti­sti­sche König Fer­di­nand VII. 1814 wie­der ein­ge­führt hat­te. Aber wären damals über­haupt sei­ne Gra­phi­ken vom Publi­kum ange­nom­men wor­den? Goyas berühm­tes Gemäl­de »Die Erschie­ßung der Auf­stän­di­schen« (1814) fand erst 40 Jah­re spä­ter Anerkennung.

Goyas Räu­me sind kei­ne Land­schaf­ten, in denen man sich erge­hen kann. Der Raum ist zu einem Gefäng­nis von bedrücken­der Aus­weg­lo­sig­keit gewor­den, den die Men­schen durch­schrei­ten müs­sen, der sie bedrängt. Detail­treue, Unmit­tel­bar­keit und bril­lan­te Beob­ach­tung gehö­ren zu sei­nem Stil. Durch­ge­hend ist Goya schreck­lich klar­sich­tig über die phy­si­sche Bru­ta­li­tät von Kon­flik­ten. Es fol­gen alle­go­ri­sche Bil­der, die die Kri­se des Nach­kriegs-Spa­ni­en dun­kel reflek­tie­ren. Die sti­li­sti­sche Nähe zu sei­nen Augen­zeu­gen­bil­dern las­sen sie befremd­lich echt erscheinen.

Der Künst­ler war tief ent­täuscht, dass nach dem Frei­heits­kampf der Spa­ni­er, die sich doch gegen die Miss­ach­tung und Aus­schal­tung ihres Königs­hau­ses erho­ben hat­ten, mit Fer­di­nand VII. sich nur ein neu­es Des­po­ten­tum auf­ge­tan hat­te. Abso­lu­tis­mus und Irra­tio­na­lis­mus waren mit der Wie­der­erstar­kung von Adel und Kir­che in Spa­ni­en wie­der ein­ge­zo­gen. »Sie wis­sen den Weg nicht« (Blatt 70): Mön­che, Geist­li­che und Ari­sto­kra­ten zie­hen durch das Bild, sich an einem Seil hal­tend, das den Absturz aber nicht ver­hin­dern kann. Goya soll­te dann selbst 1824 ins Exil nach Frank­reich gehen.

Ergrif­fen von der gro­ßen Kunst des spa­ni­schen Mei­sters ist man zugleich auch wie gelähmt ange­sichts der Bil­der des Schreckens, der Ver­wü­stung und Zer­stö­rung. Wie kann man Goyas künst­le­ri­schen Ankla­gen des Krie­ges, des­sen Grau­sam­keit er stell­ver­tre­tend für alle Krie­ge der Welt fest­ge­hal­ten hat, den­noch einen hoff­nungs­vol­len Impuls abge­win­nen? Win­s­ton Chur­chill mag ein kon­ser­va­ti­ver Pre­mier­mi­ni­ster gewe­sen sein, aber er hat die Anti-Hit­ler-Koali­ti­on geschmie­det und wesent­lich zur Befrei­ung Euro­pas von der NS-Gewalt­herr­schaft bei­getra­gen. Sein Wort aus dem Kriegs­jahr 1942 wäre auch heu­te noch beden­kens­wert: »Das ist nicht das Ende. Es ist nicht ein­mal der Anfang vom Ende. Aber es ist – viel­leicht – das Ende des Anfangs.«