Der Herr im Jobcenter – mein »Arbeitsvermittler« – schüttelt mir freundlich-abwartend die Hand. Möglicherweise ist er etwas nervös angesichts meines Doktortitels, den er auch sofort pflichtschuldig ausspricht (woran mir überhaupt nichts liegt). Er weiß, dass er mir außer Zwangsmaßnahmen, Callcenter und Saisonarbeit (Erdbeeren pflücken) nichts zu bieten hat. Wir beide wissen (und wissen, dass der andere es weiß), dass er von seinen Vorgesetzten darauf angesetzt wurde, die in der Tagesschau verkündete Arbeitsmarktstatistik zu exekutieren, die sich selbst und der Welt vorgaukelt, dass Deutschland Vorreiter in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei. Deutschland Superland, Land der Ideen und der Forschung, engagiert im »Wettbewerb um die besten Köpfe«, Bildungsrepublik, Wirtschaftsmacht, Exportweltmeister. In der medial geprägten Buzzword-Rhetorik von »Brand Germany« spiegelt sich die neoliberale Exzellenz-Logik, die alle Relationen aus dem Blick verloren hat, unter anderem die, dass man sich in einer stark gebeutelten europäischen und globalen Umgebung trefflich als Hoffnungs-Leitwolf inszenieren kann.
Wenn sich aber der Einäugige von den Blinden zum König machen lässt, zeigt sich darin eher ein allgemeiner Realitätsverlust denn eine Erfolgsgeschichte. Doch auch Akademikerinnen wachen erst auf, wenn sie an die Decke stoßen und vermögen diese Decke, herangezogen in der unhinterfragten Selbstverständlichkeit ihres Privilegs zu lernen und zu lehren, oft noch lange ungläubig zu ignorieren.
Tatsächlich hat sich die Decke aber längst immer weiter gesenkt, und sie bietet immer weniger Luftlöcher. Mein Arbeitsvermittler, so zeigt sich schnell, kann und soll nicht wirklich mehr etwas für mich tun. Es geht nicht mehr um Fördern, sondern nur noch um Fordern – und also um die Verletzung schon des ersten Kapitels des SGB II (Grundsatz Fördern und Fordern). Gleichzeitig zeigt sich das unmittelbar anhängende Problem eines nicht vorhandenen akademischen und eingebrochenen alternativen Arbeitsmarktes für Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen. Es offenbart sich der eigentliche Druck, unter dem der neoliberalisierte Staat operiert. Das Ziel ist die Erfüllung einer imaginären Arbeitslosenstatistik ohne entsprechende Grundlage. Das aber funktioniert im Fall von Akademikerinnen nur noch, indem sich die Arbeitsvermittlerinnen als berufsmäßige Entqualifizierer betätigen. Damit wird es zunehmend kafkaesk.
Anfangs studiert mein Arbeitsvermittler fahrig meinen zehnseitigen Lebenslauf, hört mir eine Weile zu und macht sich Notizen. Dann kündigt er an, ohne mir in die Augen schauen zu können, dass ich entweder eine der angebotenen Hilfstätigkeiten annehmen oder an einer »Maßnahme« (sein Vorschlag lautet auf Umschulung zur kaufmännischen Fachkraft, sprich: Sekretärin) teilnehmen müsse (womit ich prompt aus der Statistik fiele), damit wir die »Eingliederungsvereinbarung« unterschreiben könnten. Ich frage, in was ich eingegliedert werden soll. Wie er meinem Lebenslauf entnehmen könne, sei ich bereits vollständig in das akademische Leben eingegliedert, werbe immer wieder erfolgreich Forschungsgelder ein, habe lange an verschiedenen Hochschulen unterrichtet, publiziere regelmäßig, halte international Vorträge, arbeite an einem Buch, organisiere aktuell eine internationale Konferenz. Nur eben immer wieder ohne einen Cent Gehalt. Nicht weil ich beschäftigungslos sei, sondern weil ich selbstständig, das heißt nicht als Mitarbeiterin eines professoral geführten Teams, Projekte einwerbe, der Kampf um Drittmittel in der Abwesenheit von Stellen und der anständigen Bezahlung für Lehre immer absurder werde, und damit die Abstände zwischen bewilligten Projekten immer länger, säße ich hier. Was er mir vorschlage, sei faktisch eine Zwangsausgliederung aus dem wissenschaftlichen Leben.
Der Arbeitsvermittler fummelt an seinem Computer und sagt, das SGB II kenne keinen Berufsschutz, und so kämen wir nicht zusammen. Das ist mir bereits klar, und ich beginne, den Spieß weiter umzudrehen. Ich frage, ob er mir erklären könne, wie es sein könne, dass das Jobcenter nur noch Tätigkeiten im Angebot habe, die meine Qualifikation vollständig annullierten. Wir sprächen hier ja nicht über Konzessionen an einen anderen Job, der eine geringfügige Herabsetzung der Qualifikation mit sich brächte und andere Fähigkeiten nutze, die ich habe. Wir sprächen über die vollständige Entwertung meiner erworbenen Qualifizierung, zusätzlich befeuert dadurch, dass ich im Fall meiner Einwilligung in eine Hilfstätigkeit oder besagte »Maßnahme« bestehende wissenschaftliche Termine absagen und laufende Arbeiten abbrechen müsste. Ich wäre über kurz oder lang raus und hätte also genauso gut einen Hauptschulabschluss machen können. Es wäre, als hätte ich als Wissenschaftlerin nie existiert.
Mein Entqualifizierer schaut an mir vorbei und raschelt hilflos mit meinem Lebenslauf. Ich frage ihn, ob er mir helfen könne, meiner Mutter zu erklären, warum der Staat ihrer Tochter, in deren Ausbildung sie als eine der ersten voll berufstätigen alleinerziehenden Mütter seit den 1970er Jahren investiert, und die alle Prüfungen, inklusive der Promotion, mit Bestnote abgeschlossen hat, nichts anderes zu bieten hat, als Erdbeeren zu pflücken. Ich frage ihn schließlich, ob er mir erklären könne, warum derselbe Staat, der mich jetzt zum Mindestlohn aufs Erdbeerfeld oder ins Callcenter schicken oder sogar noch meine Entqualifizierung/Umschulung bezahlen will, mich angesichts explodierender Studierendenzahlen in Form verschiedener Hochschulen immer wieder für Lehraufträge angefragt hat, ohne mich auch nur annähernd angemessen dafür entlohnen zu wollen. (Die Sätze in Ostdeutschland/Berlin liegen mittlerweile bei zwischen 280 und 700 Euro pro Semester, das heißt für sechs Monate, und damit meilenweit unter dem Hartz-IV-Mindestsatz, ohne jede rechtliche/tarifliche Grundlage.) Mein Entqualifizierer – selbst ein entqualifizierter Sozialwissenschaftler, wie sich im weiteren Gespräch herausstellt – sieht mich erschöpft an. Er kann es mir nicht erklären, weil es rational nicht mehr erklärbar ist.
Was sich eröffnet, ist ein System, das unter dem Exzellenz-Label sein herangezogenes Potential im großen Stil verschleudert und das volkswirtschaftlich Harakiri betreibt, indem es sich praktisch weigert, seinen Bildungsauftrag zu erfüllen. Ich bin zum Glück nicht die Erste, die das sagt. Seit Jahren weisen Resolutionen und Abschlussberichte wissenschaftlicher Verbandstagungen auf den eklatanten Widerspruch hin, der zwischen der zunehmend mangelnden Ausschöpfung eines Reservoirs ausgebildeter Wissenschaftlerinnen und der immer stärkeren Befüllung dieses Reservoirs unter dem Mantra »Wir brauchen mehr Studierende, wir brauchen mehr Akademiker« besteht. Es ist offensichtlich, dass die Zahl der Studierenden zunehmend die tatsächlichen Investitionen in das Bildungssystem ersetzt, vor allem in deren Unterricht. Viele Studierende machen sich gut im Image des vielbeworbenen »Bildungsstandorts Deutschlands«. Es darf nur keiner fragen, unter welchen Bedingungen das Studium abläuft (und wofür es eigentlich gut sein soll).
Interessanterweise tut das auch kaum jemand, am wenigsten die Studierenden selbst, die größtenteils gar nicht wissen, dass ihre Dozentinnen nicht bezahlt werden. Weil es ihnen niemand sagt und weil sie nicht fragen. Viele nicht nur deshalb, weil sie immer rasanter durchs Studium gepeitscht werden, um schnell »fit für den Arbeitsmarkt« zu sein, sondern auch deshalb, weil ihre Vorstellungskraft nicht ausreicht. Sie kommen nicht darauf, dass sie tatsächlich weitgehend unentgeltlich ausgebildet werden, solange sie nicht selbst massenhaft in unbezahlten Praktika sitzen.
Wenn es ihnen jemand öffentlich sagt, wie mein ehemaliger Professor am Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, Peter Grottian, der 2014 in der Süddeutschen Zeitung erstmals deutlich auf die massenhaft unbezahlte Lehre hinwies und es auf den Punkt brachte, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen in Deutschland behandelt werden »wie der letzte Dreck«, dann hat das allerdings kaum einen Effekt, auch unter den betroffenen »Nachwuchswissenschaftlerinnen« nicht. Man duckt sich lieber weg. Vielleicht komm ich ja doch noch irgendwie durch. So funktioniert Entsolidarisierung.
Demonstrieren und streiken: in Deutschland bislang undenkbar. Das liegt unter anderem daran, dass gewerkschaftliches, solidarisches Denken im Bildungssektor auch während der weitreichenden Verbeamtung im Nachkriegs-Wohlstands-Deutschland systematisch, und tatsächlich in Verletzung demokratischer Grundrechte, unterbunden wurde. Beamte durften und dürfen nicht streiken. Staatsdiener haben dem Staat (demselben, der nun seinen Bildungsauftrag verweigert) zu dienen und ihn nicht zu kritisieren. Folglich gibt es, über eine weitgehend folgenlose Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft hinaus, keinerlei Tradition von Studierenden- und Universitäts-Gewerkschaften. Trotzdem hat es zu brodeln begonnen im zunehmend luftleeren Raum unbezahlter Lehre, unsicherer Drittmittel und, abgesehen von der Professur, ausschließlich befristeter und immer kürzer laufender Projekt- und Mitarbeiterinnenstellen. Allerdings brodelt es bislang hauptsächlich hinter den schicken Kulissen, in einer Privatisierung des Leids, am Rande von Konferenzen und Tagungen, in persönlichen Gesprächen. Die drehen sich schon lange nicht mehr um den informellen fachlichen Ideenaustausch, sondern fast ausschließlich um die Bedrohung der akademischen Existenz: Wie lange läuft Deine Stelle/Dein Projekt noch? Was machst Du dann? Wie willst Du das schaffen? Was für eine Scheiße alles. – So funktioniert wissenschaftliche Entleerung.
Zunehmend unruhig werden inzwischen nicht nur deutsche »Nachwuchswissenschaftlerinnen« (ein Begriff, der mittlerweile bis zur unsicheren Rente reicht), sondern auch viele Doktorandinnen und Postdoktorandinnen aus dem viel umworbenen Ausland. Sie hatten sich anlocken lassen von den vergangenen Exzellenzinitiativen des Bundes und der in sozialen Netzwerken euphorisch verbreiteten Saga eines Deutschlands ohne Studiengebühren: Deutschland nimmt Flüchtlinge auf, Deutschland ermöglicht freie Bildung, Deutschland ist cool. Nun realisieren sie, dass sie nach Ablauf ihrer befristeten Anstellung in einem massiv unterfinanzierten und knallhart hierarchischen System oft ohne abgeschlossene Forschung und ohne Perspektive dastehen. Unzählige internationale Forscherinnen, mit denen ich über die vergangenen Jahre Kontakt hatte, scheinen tatsächlich nicht mehr (gewesen) zu sein als Requisiten in einer Image-Kampagne der Bundesregierung – gemeinsam mit den unzähligen deutschen Wissenschaftlerinnen, deren (Projekt)Verträge über immer kürzere Laufzeiten gehen. In hübschen Broschüren und bunten Internet-Auftritten firmieren sie als Ausweis eines weltoffenen, international anschlussfähigen und forschungsfreundlichen Deutschlands, tatsächlich aber werden sie zum Opfer eines an Drittmitteln erblindeten Durchlauferhitzers, einer zutiefst verfehlten Hochschulpolitik, die manisch zu »Spitzenleistungen« antreibt, ohne das Grundproblem in Augenschein zu nehmen. Für viele, und besonders für die große Zahl der ausländischen Wissenschaftlerinnen, für die mit ihrer befristeten Stelle auch meist ihr Visum abläuft, bleibt am Ende nur noch, sich bedingungslos unter die Patronage einer Professur zu stellen (um irgendwie eine zumindest kleine Anstellungsverlängerung zu bekommen), die Abwanderung in ähnlich prekarisierte Unisysteme oder das Ausscheiden aus der Wissenschaft. Für die anderen, wenn sie nicht schamhaft bei Familie oder Partner unterkriechen können oder wollen (und das gilt natürlich wieder einmal hauptsächlich für Frauen), bleibt nur Hartz IV – und die Zwangsentqualifizierung.
Seit 2012 haben sich im Zuge einer öffentlichen Debatte über die »Arbeitsunwilligen« die von Jobcentern ausgesprochenen Sanktionen gegen ihre »Kundinnen« verschärft. Es reicht dem Staat nicht mehr, unbezahlte Wissenschaftlerinnen, die eben nicht als Berufstätige oder Selbstständige gelten, als eine Art Bodensatz der Exzellenz auf Hartz IV zu parken. Dies ermöglicht immer noch ein Mindestmaß an akademischer Freiheit, vor allem das Publizieren, das unter anderem Voraussetzung für das Einreichen unabhängiger Forschungsanträge bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und verschiedenen Stiftungen ist. Das aber ist offenbar immer weniger gewollt, denn es bedeutet potenziell zusätzliche Mitesser am verkleinerten akademischen Futtertrog und eine unangenehme Sichtbarkeit in der Arbeitslosenstatistik. Stattdessen findet sich im Jobcenter die Fortsetzung der exzellenten Quantifizierung mit anderen Mitteln, indem die erzwungene akademische Entqualifizierung sich an die Auslöschung von Existenz macht, die über die zählbare bzw. dann nicht mehr zählbare materielle Existenz hinausgeht. Das heißt, meine wissenschaftliche Existenz muss gelöscht werden, um mich aus der Arbeitslosenstatistik zu löschen. Klick. Unfriended by your State.
Es fällt schwer, in dieser Logik nicht eine Spielart des Angriffs auf die Wissenschaft zu erkennen, der sich im Zuge der Verschärfung neoliberaler Politik weltweit beobachten lässt. Diese Verschärfung besteht in der Essenz darin, immer mehr Menschen Stück für Stück die Lebensgrundlage zu entziehen und sie unter der Rhetorik nationaler Superlative aufeinanderzuhetzen – um die daraus resultierenden Aggressionen und Ressentiments dann allein auf die Rechten zu schieben, als kämen sie aus dem Nichts.
Britta Ohm, Dr. phil., Anthropologin, Associate Researcher am Institut für Sozialanthropologie in Bern. Ihr Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrages aus den Blättern für deutsche und internationale Politik.