Vom Dessauer Bauhaus Museum kommend, spazierte ich in die Ratsgasse. Rechts tauchten die Menschen in einen der üblichen Einkauftstempel. Links waren Relikte der Vergangenheit auf den Vordächern ehemaliger Geschäfte zu sehen. Verwitterte Leuchtschriften kündeten von früherer Verwendung: DIE CAMERA, HAUS DER HAARPFLEGE, SPORTARTIKEL. Heute mühen sich kleinteilige Geschäfte wie eine Zoohandlung um Kunden. Am Ende der Ratsgasse stieß ich auf ein hohes schmuckloses Stahlgestell mit kleiner Glocke. Einen Teil der Inschrift konnte ich entziffern: KEINE GEWALT. Eine Freiheitsglocke also. Vielleicht mahnt sie heutige Politiker und Militärs, dann wäre sie sogar eine Friedensglocke. Unweit von dem Gestell entdeckte ich auf einem kleinen Steinsockel stehend die Skulptur eines bronzeglänzenden, dynamisch wirkenden Mannes. Bekleidet mit einer modernen kurzen Steppjacke, winkelt er den linken Arm fast napoleonhaft. In seiner rechten Hand hält er einen symbolischen Schlüssel mit zwei Bartteilen. Auf dem einen ist »перестроика« zu lesen (für den, der’s kann). Auf dem anderen Bartteil sah ich einen Mercedesstern. Ich staunte, und um sicherzugehen, fotografierte und vergrößerte ich ihn: Ja, ein dreistrahliger Stern im Kreis! So zu sehen auf den Edelkarossen.
Neben dem Sockel ist in den Gehweg einen bronzene Platte eingelassen:
»MICHAIL GORBATSCHOW / FRIEDENSNOBELPREISTRÄGER 1990 / ALS GENERALSEKRETÄR DER KOM- / MUNISTISCHEN PARTEI DER SOW- / JETUNION UND ALS STAATSPRÄSIDENT / SCHUF ER DURCH PERESTROIKA UND / GLASNOST WESENTLICHE VORAUS- / SETZUNGEN FÜR DIE EINHEIT / DEUTSCHLANDS. / GESTIFTET VON BÜRGERN ZUM / 30. JAHRESTAG DER DEUTSCHEN/ WIEDERVEREINIGUNG.«
Ob der Politiker dafür auch von Mercedes bezahlt wurde? Auf jeden Fall flossen in das von ihm zu dieser Zeit regierte Land deutsche Milliardenkredite. Dass mit einem Denkmal an Gorbatschow so viel Wahrheit verkündet wird, ist schon erstaunlich. Es ist nicht auszuschließen, dass auf dem Schlüsselbart das wohl berühmteste Protestsymbol, das Peace-Zeichen, abgebildet werden sollte – bezugnehmend auf die Erwähnung Gorbatschows als Friedensnobelpreisträger. Aber im Gegensatz zu den drei Strahlen bei Mercedes hat das vom britischen Grafikdesigner und Pazifisten Gerald Holtom 1958 entworfene Zeichen vier Strahlen.
So wird aus dem Denkmal für Gorbatschow eines für die, die ihn bezahlten. Vielleicht steckt eine Eulenspiegelei gegenüber den stiftenden ahnungslosen Bürgern dahinter. Ganz sicher ist es ein Beweis für das 2020 erreichte Verständnis von historischen Zusammenhängen.