In der Berliner Esmarchstraße Nummer 18 brannte am Abend des 9. Januar noch lange das Licht. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) und die Tucholsky-Bibliothek hatten zum 130. Geburtstag ihres Namensgebers eingeladen, und der Vorstand des in der Geburtsstadt des vielseitigen und pseudonymen Denkers und Schreibers eingetragenen Vereins sowie die jahrelang von der Einsparung und vom Verschwinden bedrohte Bibliothek im Esmarch-Kiez konstatierten einen Tucholsky-Boom. Viele Bewunderer und Fans des Literaten und Journalisten fanden sich ein. Ständige Nutzer des Büchertempels, engagierte Einwohner des Bötzow-Viertels, Schüler der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule in Pankow, Künstler und Gleich- oder Ähnlichgesinnte aller Couleur würdigten den Jubilar durch ihre Anwesenheit, durch das bewahrte Interesse an seinen Texten und die Bekundung individueller Verbundenheit mit den aktuellen Anliegen des Vereins. Dass die neuesten Gräuelnachrichten über das internationale Geschehen und über auflebende Kriegsgefahren die Diskussion mitbestimmten und sich kaum vom düsteren Wetter zu Jahresbeginn unterschieden, lag leider in der Natur der Sache.
Vorsitzender Ian King betonte in seiner Einführung, dass KT zum kleinen Kreis jener Autoren zählt, die auch nach Jahrhunderten unvergessen bleiben wie Shakespeare, Goethe oder Heine. Tucho verstand sich als Zeitkritiker und wusste die Satire wie kein anderer zu handhaben. Die Weltbühne profitierte von seiner Vielseitigkeit und bestechenden Logik, seinen Warnungen vor der Scheinheiligkeit der Demokratie und den tödlichen Gefahren jeder Wiederauferstehung des Faschismus.
Mit einer beeindruckenden Tucholsky-Revue warteten Kabarettistin Jane Zahn, Filmwissenschaftler Frank-Burkhard Habel und Komponist Hans-Karsten Raecke auf, und Schüler der Tucholsky-Gesamtschule bewiesen, dass man Verschmitztheit durch aktuell gebliebene KT-Texte ausstrahlen kann. Und wie unvermittelt eine erneute militärische Katastrophe über eine Region und die Welt hereinbrechen kann, wenn die primitivste menschliche Vernunft ausgeblendet wird, hat sich gerade in den ersten Tagen des neuen Jahrzehnts erneut und brutal angedeutet. Tucholskys Chanson »Der Graben« oder sein erschütternder Text »Jemand besucht etwas mit seinem Kind« beispielsweise gehen deshalb heute nicht weniger unter die Haut als in ihrer Entstehungszeit.
Nicht nur in der Berliner Bibliothek gedenkt man dieser Tage des Wiegenfestes des kritischen Quer- und Vorandenkers. Für die Kurt-Tucholsky-Gesamtschule und die Tucholsky-Bühne in Minden ist es seit Jahren Tradition, den 9. Januar erinnernd und verpflichtend zu begehen. Und am 10. Januar brillierte der Leiter des Zimmertheaters Berlin-Steglitz, Günter Rüdiger, wiederholt mit Texten und Songs unter dem Titel »Wo kommen die Löcher im Käse her?« Am selben Abend gestalteten die Verlegerin Eva Schweitzer und Ian King einen Abend über die in englischer Sprache erschienenen Tucholsky-Editionen des Berlinica-Verlages unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen des Autors zu seiner Geburtsstadt Berlin und ihren Berlinern. Und es ist ein ermunternder Zufall, dass das Gespräch in der Galerie »kurt kurt« stattfand, die nach meinem Eindruck seit Jahren weitgehend unbemerkt in Kurt Tucholskys Geburtshaus in der Lübecker Straße 13 in Berlin-Moabit dahindämmerte. Dass auch dieser Abend gut besucht und das Interesse offensichtlich groß war, macht neue Hoffnungen für eine Wiederbelebung der Zusammenarbeit des Hauses und der Galerie mit der Gesellschaft.
Nun darf man allerdings nicht annehmen, dass Tucho eine besondere Affinität für seine Heimatstadt besessen hätte. Beileibe nicht! Er liebte seine Stadt Berlin eher »von weitem«, beispielsweise aus dem Pariser Parc Monceau, wo er gern auf einer Bank saß, Jungen beim Nasenpopeln zusah und »von seinem Vaterlande ausruhte«.
Hätte er seine Geburtstagsfete in der Tucholsky-Bibliothek miterleben können, wäre er mit einem sympathischen trockenen Rotwein auf seine Gäste zugegangen, hätte ihnen zugeblinzelt und vermutlich gesagt: Na, lasst mal. Ihr müsst mich nicht immer ganz ernst nehmen – meistens aber schon!