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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Würdigung eines 130-Jährigen

In der Ber­li­ner Esmarch­stra­ße Num­mer 18 brann­te am Abend des 9. Janu­ar noch lan­ge das Licht. Die Kurt Tuchol­sky-Gesell­schaft (KTG) und die Tuchol­sky-Biblio­thek hat­ten zum 130. Geburts­tag ihres Namens­ge­bers ein­ge­la­den, und der Vor­stand des in der Geburts­stadt des viel­sei­ti­gen und pseud­ony­men Den­kers und Schrei­bers ein­ge­tra­ge­nen Ver­eins sowie die jah­re­lang von der Ein­spa­rung und vom Ver­schwin­den bedroh­te Biblio­thek im Esmarch-Kiez kon­sta­tier­ten einen Tuchol­sky-Boom. Vie­le Bewun­de­rer und Fans des Lite­ra­ten und Jour­na­li­sten fan­den sich ein. Stän­di­ge Nut­zer des Bücher­tem­pels, enga­gier­te Ein­woh­ner des Böt­zow-Vier­tels, Schü­ler der Kurt-Tuchol­sky-Gesamt­schu­le in Pan­kow, Künst­ler und Gleich- oder Ähn­lich­ge­sinn­te aller Cou­leur wür­dig­ten den Jubi­lar durch ihre Anwe­sen­heit, durch das bewahr­te Inter­es­se an sei­nen Tex­ten und die Bekun­dung indi­vi­du­el­ler Ver­bun­den­heit mit den aktu­el­len Anlie­gen des Ver­eins. Dass die neue­sten Gräu­el­nach­rich­ten über das inter­na­tio­na­le Gesche­hen und über auf­le­ben­de Kriegs­ge­fah­ren die Dis­kus­si­on mit­be­stimm­ten und sich kaum vom düste­ren Wet­ter zu Jah­res­be­ginn unter­schie­den, lag lei­der in der Natur der Sache.

Vor­sit­zen­der Ian King beton­te in sei­ner Ein­füh­rung, dass KT zum klei­nen Kreis jener Autoren zählt, die auch nach Jahr­hun­der­ten unver­ges­sen blei­ben wie Shake­speare, Goe­the oder Hei­ne. Tucho ver­stand sich als Zeit­kri­ti­ker und wuss­te die Sati­re wie kein ande­rer zu hand­ha­ben. Die Weltbühne pro­fi­tier­te von sei­ner Viel­sei­tig­keit und bestechen­den Logik, sei­nen War­nun­gen vor der Schein­hei­lig­keit der Demo­kra­tie und den töd­li­chen Gefah­ren jeder Wie­der­auf­er­ste­hung des Faschismus.

Mit einer beein­drucken­den Tuchol­sky-Revue war­te­ten Kaba­ret­ti­stin Jane Zahn, Film­wis­sen­schaft­ler Frank-Burk­hard Habel und Kom­po­nist Hans-Kar­sten Raecke auf, und Schü­ler der Tuchol­sky-Gesamt­schu­le bewie­sen, dass man Ver­schmitzt­heit durch aktu­ell geblie­be­ne KT-Tex­te aus­strah­len kann. Und wie unver­mit­telt eine erneu­te mili­tä­ri­sche Kata­stro­phe über eine Regi­on und die Welt her­ein­bre­chen kann, wenn die pri­mi­tiv­ste mensch­li­che Ver­nunft aus­ge­blen­det wird, hat sich gera­de in den ersten Tagen des neu­en Jahr­zehnts erneut und bru­tal ange­deu­tet. Tuchol­skys Chan­son »Der Gra­ben« oder sein erschüt­tern­der Text »Jemand besucht etwas mit sei­nem Kind« bei­spiels­wei­se gehen des­halb heu­te nicht weni­ger unter die Haut als in ihrer Entstehungszeit.

Nicht nur in der Ber­li­ner Biblio­thek gedenkt man die­ser Tage des Wie­gen­fe­stes des kri­ti­schen Quer- und Voran­den­kers. Für die Kurt-Tuchol­sky-Gesamt­schu­le und die Tuchol­sky-Büh­ne in Min­den ist es seit Jah­ren Tra­di­ti­on, den 9. Janu­ar erin­nernd und ver­pflich­tend zu bege­hen. Und am 10. Janu­ar bril­lier­te der Lei­ter des Zim­mer­thea­ters Ber­lin-Ste­glitz, Gün­ter Rüdi­ger, wie­der­holt mit Tex­ten und Songs unter dem Titel »Wo kom­men die Löcher im Käse her?« Am sel­ben Abend gestal­te­ten die Ver­le­ge­rin Eva Schweit­zer und Ian King einen Abend über die in eng­li­scher Spra­che erschie­ne­nen Tuchol­sky-Edi­tio­nen des Ber­li­ni­ca-Ver­la­ges unter beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Bezie­hun­gen des Autors zu sei­ner Geburts­stadt Ber­lin und ihren Ber­li­nern. Und es ist ein ermun­tern­der Zufall, dass das Gespräch in der Gale­rie »kurt kurt« statt­fand, die nach mei­nem Ein­druck seit Jah­ren weit­ge­hend unbe­merkt in Kurt Tuchol­skys Geburts­haus in der Lübecker Stra­ße 13 in Ber­lin-Moa­bit dahin­däm­mer­te. Dass auch die­ser Abend gut besucht und das Inter­es­se offen­sicht­lich groß war, macht neue Hoff­nun­gen für eine Wie­der­be­le­bung der Zusam­men­ar­beit des Hau­ses und der Gale­rie mit der Gesellschaft.

Nun darf man aller­dings nicht anneh­men, dass Tucho eine beson­de­re Affi­ni­tät für sei­ne Hei­mat­stadt beses­sen hät­te. Bei­lei­be nicht! Er lieb­te sei­ne Stadt Ber­lin eher »von wei­tem«, bei­spiels­wei­se aus dem Pari­ser Parc Mon­ceau, wo er gern auf einer Bank saß, Jun­gen beim Nasen­po­peln zusah und »von sei­nem Vater­lan­de ausruhte«.

Hät­te er sei­ne Geburts­tags­fe­te in der Tuchol­sky-Biblio­thek mit­er­le­ben kön­nen, wäre er mit einem sym­pa­thi­schen trocke­nen Rot­wein auf sei­ne Gäste zuge­gan­gen, hät­te ihnen zuge­blin­zelt und ver­mut­lich gesagt: Na, lasst mal. Ihr müsst mich nicht immer ganz ernst neh­men – mei­stens aber schon!