Dem Gefängnistheater aufBruch ist eine ungeheuer frische »Woyzeck«-Fassung gelungen. Es spielt an einem Ort, dem der Dichter, Revolutionär und Autor des fast 200 Jahre alten Stückes, Georg Büchner, unbedingt zugestimmt hätte, dem Knast. In diesem Fall der Jugendstrafanstalt Berlin. Da, wo noch heute all diejenigen landen, die ihre Verzweiflung, ihre Deklassiertheit und Ausgeschlossenheit in einem System, in dem der Klassenkampf von oben tobt, obgleich es offiziell als Demokratie gilt, nicht mehr aushalten, nicht mehr bremsen können und schließlich gewalttätig in die Vertikale explodieren.
Büchners Sozialdrama enthält viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben – sicher der Grund, warum der Regisseur Peter Atanassow es ausgewählt hat. Im Stück geht es um Gewalterfahrung als Kind, Erniedrigung, Woyzeck wird zur Tötungsmaschine auf Befehl. Dann: Verfolgungswahn, Degradierung zum Versuchsobjekt, zum Diener, zum Idioten, zum Tier, schließlich der Versuch, ein kleines Glück zu halten, Eifersucht, Mord an dem einzigen Menschen, der je zu Woyzeck gehörte, der Frau, die er liebte. Das ist die Story, zu der Büchner durch einen realen Fall inspiriert wurde, den man damals, statt die Bedingungen anzuklagen, mit ererbter Konstitution rechtfertigte und aburteilte.
Die Auswirkungen der Klassengesetze, schreiend ungleicher Ausgangsbedingungen, auf das Verhalten des Einzelnen, spielen auch heute noch eine Rolle, zunehmend finden Erklärungsmodelle zurück zum Konstrukt der »ererbten Konstitution« in Zeiten wachsender Kälte und Ausbeutung. Man bemüht statt der Biologie nun die Psychologie, die Neurophysiologie. Die Forschungsergebnisse sind auch heute noch und wieder fragwürdig, weil der Mensch vielfältig ist und sich nicht mittels eines Parameters erklären lässt. Tatsache sei, dass sich Verzweiflung immer noch in vertikaler Gewalt gegen Menschen derselben Schicht auswirkt, so Atanassow im Pressegespräch.
In der Realität zeigt allerdings selten einer der Betroffenen seine Gefühle so nackt und bloß, seine Verzweiflung so offen, wie es in der Person Woyzeck durch den jungen Büchner (er starb mit 23 Jahren) künstlerisch gestaltet wird. Das aber zeigen ungeschminkt nun die Spieler des Gefängnistheaters aufBruch. Sie dringen zu den Gefühlen der entrechteten Hauptperson vor, sie spielen so, wie Büchner es gewollt hätte: schonungslos und ohne Fassade. Sehr gute Umsetzung!
Das Theaterkonzept besteht darin, Menschen von ganz unten eine Chance zu geben, ihre künstlerische Ausdrucksfähigkeit zu entwickeln, die aus einer real erfahrenen sozialen Ausgrenzung
entsteht.
https://www.gefaengnistheater.de/