Am Sonntag, 8. Dezember 2024, stürzten in Syrien islamische Rebellen den langjährigen, autoritär regierenden Machthaber Baschar-al-Assad. Sie übernahmen ohne größere Gegenwehr der Regierungstruppen die Kontrolle über die Hauptstadt Damaskus. Assad floh mit seiner Familie nach Russland, wo ihnen Asyl gewährt wurde. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Sturzes machten sich Syrerinnen und Syrer, die vor der Verfolgung und dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg geflohen waren, auf zur lang ersehnten, urplötzlich und unerwartet möglichen Rückkehr in die Heimat, ungeachtet der unklaren machtpolitischen Situation im Land.
Zu denen, die in großer Zahl aus Syrien und dem Irak flohen, gehören auch Mitglieder der ethnisch-religiösen Gruppe der Êzîden, von denen ca. eine Million Menschen im nördlichen Irak, in Nordsyrien und der südöstlichen Türkei lebten, über mehrere Länder zerstreut: eine Folge kolonialer Hybris. In dem nach den beiden verhandelnden Diplomaten benannten Sykes-Picot-Abkommen hatten Frankreich und Großbritannien schon 1916 für die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die arabischen Provinzen des unterlegenen Osmanischen Reiches in eigene Interessengebiete aufgeteilt und bei der Grenzziehung den Nahen Osten willkürlich und ohne Rücksicht auf bestehende Siedlungsgebiete zerschnitten, mit Folgen bis in die Gegenwart, bis nach Palästina.
Schätzungen zufolge leben heute zwischen 100 000 und 150 000 Êzîden in Deutschland, vor allem in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen, wo es in Celle die größte êzîdische Gemeinde Deutschlands und die zweitgrößte der Welt gibt. Ihre Religion ist 2000 Jahre vor dem Christentum entstanden.
Die in Leipzig lebende Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann wurde 1993 in München als Tochter einer deutschen Mutter und eines 1980 nach Deutschland geflohenen kurdisch-êzîdischen Vaters geboren. Sie schreibt in Zeitungen und Zeitschriften über kurdische Themen, über den Nahen Osten, über Rassismus und Diskriminierung und vor allem über den Genozid an den Êzîden, der am 3. August 2014 in der nordirakischen Stadt Shingal und dem Umland, damals ein Hauptsiedlungsgebiet der Êzîden, begann.
»Im August 2014 sitze ich vor dem Fernseher. Ich sehe Frauen in den Kleidern meiner Großmutter, meiner Tante, meiner Cousinen, sehe Männer wie meinen Großvater, meinen Vater, meinen Onkel, meine Cousins um ihr Leben rennen. Es ist Hochsommer. In den Bergen von Shingal verdursten Kleinkinder, Alte, Kranke. Shingal sei umzingelt, heißt es. Die Männer und die älteren Frauen, die es nicht schaffen, zu fliehen, töten sie. Die jüngeren Frauen und Kinder nehmen sie mit als Kriegsbeute, verkaufen sie weiter auf Sklavenmärkten an Kämpfer des IS. Frauen, die meinen Namen tragen, den meiner Schwester, meiner Cousine.« Damals flohen Tausende in der irakischen Stadt Shingal lebende Êzîden vor den sunnitischen IS-Kämpfern in die Berge, in die Türkei, in die Autonome Region Kurdistan im Irak oder nach Syrien. Nach Angaben der UN wurden 5000 bis 10 000 Êzîden ermordet und über 7000 êzîdische Frauen und Kinder, meist Mädchen, entführt.
Vier Jahre später, 2018, sitzt Othmann im Flugzeug nach Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Sie ist unterwegs in das Land, »in dem der Genozid passierte, in dem man Êzîden tötete, weil sie Êzîden waren« und damit nichts als »Ungläubige«.
Es ist eine Reise »zu den Ursprüngen, zu den Tatorten, in die Camps und an die Frontlinien«, »in die Wohnzimmer der Verwandten und weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt«.
Es ist eine Reise zu Menschen, die von sich sagen, sie hätten »immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt«. Am 3. August 2014 sei zwar »der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende«.
Es ist eine Reise zu Menschen wie der alten Frau in der Ecke eines Zeltes in einem Camp nahe der iranischen Grenze, in deren Körper »sich die Sprachlosigkeit eingeschrieben hat«. Sie hat, seit der IS in ihr Dorf kam, kein einziges Wort mehr gesprochen und war seitdem auch nicht mehr ansprechbar.
Es ist eine Reise zu dem, was von einer Familie übrig ist, die selbst in IS-Gefangenschaft war und jetzt in einem Camp in einem Zelt lebt: »Zwei Jungen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, die so stumm dasitzen, wie ich noch nie Kinder in ihrem Alter habe dasitzen sehen. Ihre Mutter, die mir Fotos ihres verschleppten Vaters, ihres verschleppten Mannes, ihrer verschleppten Tochter zeigt und in ein lautes Weinen ausbricht.«
Es ist eine Reise in ein Land, aus dem die Êzîden vertrieben wurden, in dem sie getötet wurden, in dem ihre Tempelanlagen gesprengt wurden, in dem man »zertrümmerte, was mehr als viertausend Jahre gehalten hatte«, wie zum Beispiel die Statuen im Museum von Mossul.
Othmanns Verwandte aus Shingal konnten dem Massaker entkommen, konnten fliehen, sind am Leben. »Weil sie ein Auto hatten, sage ich. Aber zwischen am Leben sein und leben ist ein Unterschied. Die Frage nach dem Warum ist keine Frage. Sie ist ausformulierte Sprachlosigkeit.« Othmann sieht hin, hört zu. Spricht mit Sprachlosen. Weint mit Tränenlosen. Hofft mit Hoffnungslosen.
Wieder in Deutschland. »Ich bin zurück und kann nicht weinen. Wochenlang weine ich nicht.« Doch wenn die Stimme versagt, spricht das Buch, das sie zu schreiben beginnt. Sie setzt sich hin, öffnet ihren Laptop, die Dokumentenordner mit den Reisenotizen, die Tonaufnahmen, die Screenshots, die Videos. Othmann findet eine Form für das Unaussprechliche, setzt so allen ein literarisches Denkmal, den Lebenden und den Toten, und zeigt, dass sie nicht nur Opfer, sondern Menschen sind mit einer Geschichte.
Vierundsiebzig. Othmann weist ihr Buch unter diesem Titel als Roman aus. Für mich ist es ein Werk von fiktionaler Authentizität, das »Reportage, Gespräche und Reisebericht« in sich vereint, wie ein anderer Rezensent bemerkt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte es ein »Dokument der Enthemmung und Entmenschlichung«.
Doch es bleibt ein Roman. Im November 2024 wurde er geadelt. Hatte es das Buch im Herbst schon auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 geschafft, so wurde es auf dem alljährlichen Treffen der 30-köpfigen Jury der SWR-Bestenliste von Literaturkritikerinnen und Literaturkritikern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in Baden-Baden zum Buch des Jahres der SWR-Bestenliste 2024 gewählt.
Die Jury begründete ihre Entscheidung nicht nur mit der Bedeutung des Romanstoffs, sondern auch mit der literarischen Qualität des Werks: »Das Volk der Êzîden wird seit Jahrhunderten verfolgt. Vierundsiebzig hat Ronya Othmann deshalb ihren Roman genannt, nach dem 74. Völkermord 2014 durch den sogenannten IS. Sie will Zeugnis ablegen von diesem Menschheitsverbrechen und ringt zugleich damit, Worte zu finden für das Unfassbare. Ihr Roman ist Geschichtsschreibung, teilnehmende Beobachtung und Genozid-Forschung zugleich. Die Selbstreflexion der Erzählerin, die angesichts der existenziellen Ausweglosigkeit unentwegt relativiert, reflektiert und revidiert, verleiht dem Werk seine brisante Literarizität.«
Ronya Othmann: Vierundsiebzig, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, 508 S., 26 €.