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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Worte für das Unfassbare

Am Sonn­tag, 8. Dezem­ber 2024, stürz­ten in Syri­en isla­mi­sche Rebel­len den lang­jäh­ri­gen, auto­ri­tär regie­ren­den Macht­ha­ber Baschar-al-Assad. Sie über­nah­men ohne grö­ße­re Gegen­wehr der Regie­rungs­trup­pen die Kon­trol­le über die Haupt­stadt Damas­kus. Assad floh mit sei­ner Fami­lie nach Russ­land, wo ihnen Asyl gewährt wur­de. Unmit­tel­bar nach dem Bekannt­wer­den des Stur­zes mach­ten sich Syre­rin­nen und Syrer, die vor der Ver­fol­gung und dem seit 2011 andau­ern­den Bür­ger­krieg geflo­hen waren, auf zur lang ersehn­ten, urplötz­lich und uner­war­tet mög­li­chen Rück­kehr in die Hei­mat, unge­ach­tet der unkla­ren macht­po­li­ti­schen Situa­ti­on im Land.

Zu denen, die in gro­ßer Zahl aus Syri­en und dem Irak flo­hen, gehö­ren auch Mit­glie­der der eth­nisch-reli­giö­sen Grup­pe der Êzî­den, von denen ca. eine Mil­li­on Men­schen im nörd­li­chen Irak, in Nord­sy­ri­en und der süd­öst­li­chen Tür­kei leb­ten, über meh­re­re Län­der zer­streut: eine Fol­ge kolo­nia­ler Hybris. In dem nach den bei­den ver­han­deln­den Diplo­ma­ten benann­ten Sykes-Picot-Abkom­men hat­ten Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en schon 1916 für die Zeit nach dem Ende des Ersten Welt­kriegs die ara­bi­schen Pro­vin­zen des unter­le­ge­nen Osma­ni­schen Rei­ches in eige­ne Inter­es­sen­ge­bie­te auf­ge­teilt und bei der Grenz­zie­hung den Nahen Osten will­kür­lich und ohne Rück­sicht auf bestehen­de Sied­lungs­ge­bie­te zer­schnit­ten, mit Fol­gen bis in die Gegen­wart, bis nach Palästina.

Schät­zun­gen zufol­ge leben heu­te zwi­schen 100 000 und 150 000 Êzî­den in Deutsch­land, vor allem in Nord­rhein-West­fa­len und in Nie­der­sach­sen, wo es in Cel­le die größ­te êzî­di­sche Gemein­de Deutsch­lands und die zweit­größ­te der Welt gibt. Ihre Reli­gi­on ist 2000 Jah­re vor dem Chri­sten­tum entstanden.

Die in Leip­zig leben­de Schrift­stel­le­rin und Jour­na­li­stin Ronya Oth­mann wur­de 1993 in Mün­chen als Toch­ter einer deut­schen Mut­ter und eines 1980 nach Deutsch­land geflo­he­nen kur­disch-êzî­di­schen Vaters gebo­ren. Sie schreibt in Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten über kur­di­sche The­men, über den Nahen Osten, über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung und vor allem über den Geno­zid an den Êzî­den, der am 3. August 2014 in der nord­ira­ki­schen Stadt Shin­gal und dem Umland, damals ein Haupt­sied­lungs­ge­biet der Êzî­den, begann.

»Im August 2014 sit­ze ich vor dem Fern­se­her. Ich sehe Frau­en in den Klei­dern mei­ner Groß­mutter, mei­ner Tan­te, mei­ner Cou­si­nen, sehe Män­ner wie mei­nen Groß­va­ter, mei­nen Vater, mei­nen Onkel, mei­ne Cou­sins um ihr Leben ren­nen. Es ist Hoch­som­mer. In den Ber­gen von Shin­gal ver­dur­sten Klein­kin­der, Alte, Kran­ke. Shin­gal sei umzin­gelt, heißt es. Die Män­ner und die älte­ren Frau­en, die es nicht schaf­fen, zu flie­hen, töten sie. Die jün­ge­ren Frau­en und Kin­der neh­men sie mit als Kriegs­beu­te, ver­kau­fen sie wei­ter auf Skla­ven­märk­ten an Kämp­fer des IS. Frau­en, die mei­nen Namen tra­gen, den mei­ner Schwe­ster, mei­ner Cou­si­ne.« Damals flo­hen Tau­sen­de in der ira­ki­schen Stadt Shin­gal leben­de Êzî­den vor den sun­ni­ti­schen IS-Kämp­fern in die Ber­ge, in die Tür­kei, in die Auto­no­me Regi­on Kur­di­stan im Irak oder nach Syri­en. Nach Anga­ben der UN wur­den 5000 bis 10 000 Êzî­den ermor­det und über 7000 êzî­di­sche Frau­en und Kin­der, meist Mäd­chen, entführt.

Vier Jah­re spä­ter, 2018, sitzt Oth­mann im Flug­zeug nach Erbil, der Haupt­stadt der Auto­no­men Regi­on Kur­di­stan. Sie ist unter­wegs in das Land, »in dem der Geno­zid pas­sier­te, in dem man Êzî­den töte­te, weil sie Êzî­den waren« und damit nichts als »Ungläu­bi­ge«.

Es ist eine Rei­se »zu den Ursprün­gen, zu den Tat­or­ten, in die Camps und an die Front­li­ni­en«, »in die Wohn­zim­mer der Ver­wand­ten und wei­ter in ein êzî­di­sches Dorf in der Tür­kei, in dem heu­te nie­mand mehr lebt«.

Es ist eine Rei­se zu Men­schen, die von sich sagen, sie hät­ten »immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Him­mel auf die Erde fällt«. Am 3. August 2014 sei zwar »der Him­mel nicht auf die Erde gefal­len, aber trotz­dem war es das Ende«.

Es ist eine Rei­se zu Men­schen wie der alten Frau in der Ecke eines Zel­tes in einem Camp nahe der ira­ni­schen Gren­ze, in deren Kör­per »sich die Sprach­lo­sig­keit ein­ge­schrie­ben hat«. Sie hat, seit der IS in ihr Dorf kam, kein ein­zi­ges Wort mehr gespro­chen und war seit­dem auch nicht mehr ansprechbar.

Es ist eine Rei­se zu dem, was von einer Fami­lie übrig ist, die selbst in IS-Gefan­gen­schaft war und jetzt in einem Camp in einem Zelt lebt: »Zwei Jun­gen, viel­leicht sie­ben oder acht Jah­re alt, die so stumm dasit­zen, wie ich noch nie Kin­der in ihrem Alter habe dasit­zen sehen. Ihre Mut­ter, die mir Fotos ihres ver­schlepp­ten Vaters, ihres ver­schlepp­ten Man­nes, ihrer ver­schlepp­ten Toch­ter zeigt und in ein lau­tes Wei­nen ausbricht.«

Es ist eine Rei­se in ein Land, aus dem die Êzî­den ver­trie­ben wur­den, in dem sie getö­tet wur­den, in dem ihre Tem­pel­an­la­gen gesprengt wur­den, in dem man »zer­trüm­mer­te, was mehr als vier­tau­send Jah­re gehal­ten hat­te«, wie zum Bei­spiel die Sta­tu­en im Muse­um von Mossul.

Oth­manns Ver­wand­te aus Shin­gal konn­ten dem Mas­sa­ker ent­kom­men, konn­ten flie­hen, sind am Leben. »Weil sie ein Auto hat­ten, sage ich. Aber zwi­schen am Leben sein und leben ist ein Unter­schied. Die Fra­ge nach dem War­um ist kei­ne Fra­ge. Sie ist aus­for­mu­lier­te Sprach­lo­sig­keit.« Oth­mann sieht hin, hört zu. Spricht mit Sprach­lo­sen. Weint mit Trä­nen­lo­sen. Hofft mit Hoffnungslosen.

Wie­der in Deutsch­land. »Ich bin zurück und kann nicht wei­nen. Wochen­lang wei­ne ich nicht.« Doch wenn die Stim­me ver­sagt, spricht das Buch, das sie zu schrei­ben beginnt. Sie setzt sich hin, öff­net ihren Lap­top, die Doku­men­ten­ord­ner mit den Rei­se­no­ti­zen, die Ton­auf­nah­men, die Screen­shots, die Vide­os. Oth­mann fin­det eine Form für das Unaus­sprech­li­che, setzt so allen ein lite­ra­ri­sches Denk­mal, den Leben­den und den Toten, und zeigt, dass sie nicht nur Opfer, son­dern Men­schen sind mit einer Geschichte.

Vier­und­sieb­zig. Oth­mann weist ihr Buch unter die­sem Titel als Roman aus. Für mich ist es ein Werk von fik­tio­na­ler Authen­ti­zi­tät, das »Repor­ta­ge, Gesprä­che und Rei­se­be­richt« in sich ver­eint, wie ein ande­rer Rezen­sent bemerkt. Die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung nann­te es ein »Doku­ment der Ent­hem­mung und Entmenschlichung«.

Doch es bleibt ein Roman. Im Novem­ber 2024 wur­de er geadelt. Hat­te es das Buch im Herbst schon auf die Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses 2024 geschafft, so wur­de es auf dem all­jähr­li­chen Tref­fen der 30-köp­fi­gen Jury der SWR-Besten­li­ste von Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin­nen und Lite­ra­tur­kri­ti­kern aus dem gesam­ten deutsch­spra­chi­gen Raum in Baden-Baden zum Buch des Jah­res der SWR-Besten­li­ste 2024 gewählt.

Die Jury begrün­de­te ihre Ent­schei­dung nicht nur mit der Bedeu­tung des Rom­an­stoffs, son­dern auch mit der lite­ra­ri­schen Qua­li­tät des Werks: »Das Volk der Êzî­den wird seit Jahr­hun­der­ten ver­folgt. Vier­und­sieb­zig hat Ronya Oth­mann des­halb ihren Roman genannt, nach dem 74. Völ­ker­mord 2014 durch den soge­nann­ten IS. Sie will Zeug­nis able­gen von die­sem Mensch­heits­ver­bre­chen und ringt zugleich damit, Wor­te zu fin­den für das Unfass­ba­re. Ihr Roman ist Geschichts­schrei­bung, teil­neh­men­de Beob­ach­tung und Geno­zid-For­schung zugleich. Die Selbst­re­fle­xi­on der Erzäh­le­rin, die ange­sichts der exi­sten­zi­el­len Aus­weg­lo­sig­keit unent­wegt rela­ti­viert, reflek­tiert und revi­diert, ver­leiht dem Werk sei­ne bri­san­te Literarizität.«

 Ronya Oth­mann: Vier­und­sieb­zig, Rowohlt Ver­lag, Ham­burg 2024, 508 S., 26 €.