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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wort-Geschichten: Das Wort

Wie viel Wör­ter hat die deut­sche Spra­che? Schwer zu sagen. Kon­rad Duden glaub­te im Jahr 1880, sein Werk Voll­stän­di­ges Ortho­gra­phi­sches Wör­ter­buch der deut­schen Spra­che nen­nen zu dür­fen. Wirk­lich »voll­stän­dig«? Die DUDEN-Redak­ti­on erklärt heu­te, dass sie von Auf­la­ge zu Auf­la­ge drei- bis fünf­tau­send neue Wör­ter auf­nimmt. Mei­ne gedruck­te Aus­ga­be des WAHRIG 2012 ver­zeich­net über 25.000 Stich­wör­ter, das Ber­tels­mann-Wör­ter­buch von 2004 hat aber das 8fache. Ber­tels­manns Rie­sen­an­zahl kommt dadurch zustan­de, dass hier jede Men­ge Zusam­men­set­zun­gen (Kom­po­si­ta) auf­tau­chen. Und weil die Mög­lich­keit sol­cher Kom­po­si­ta unbe­grenzt ist, gibt es letzt­lich unend­lich vie­le Wör­ter. Sol­che Unge­tü­me wie Wohn­raum­kün­di­gungs­schutz­ge­setz (gut!) oder Bun­des­wehr­at­trak­ti­vi­täts­stei­ge­rungs­ge­setz (übel!) sor­gen von Sei­ten des Gesetz­ge­bers für immer neue Überraschungen.

Mit geschlif­fe­nen Wor­ten reden – die­se ab und an gebrauch­te Rede­wen­dung war Grund zum Stau­nen und sodann Anlass für die­se Wort­ge­schich­te. Bei Mar­tin Luther heißt es: »wie denn die Gott­lo­sen jhr Wort wis­sen zu wet­zen, zu scher­fen, und zu schlei­fen« (Wer­ke 3, 388). Das klingt vor­wurfs­voll. Was könn­te mit dem Schlei­fen von Wor­ten ehe­dem gemeint gewe­sen sein? Scharf wie ein Mes­ser oder glän­zend wie ein geschlif­fe­ner Diamant?

Dazu spä­ter. Zuerst ein­mal die Schwie­rig­keit beim Plu­ral. Denn es gibt die Wor­te der Pro­phe­ten und die Wör­ter eines Arti­kels – anders­her­um klingt es merk­wür­dig albern. Die Faust­re­gel in ähn­li­chen Fäl­len lau­tet: Der Plu­ral ohne Umlaut ist die fei­ne­re Form. Das sehen auch die Stein­met­ze so, die dar­auf bestehen, dass sie Grab­ma­le und nicht Grab­mä­ler herstellen.

So sind die »Wor­te« die geho­be­ne Vari­an­te, wobei wir fei­ne Sinn­un­ter­schie­de beob­ach­ten. Zum einen ken­nen wir Wen­dun­gen wie: mit kräf­ti­gen Wor­ten jemand ermah­nen oder mit lee­ren Wor­ten abspei­sen, zwei inhalts­schwe­re Wor­te, nicht vie­le Wor­te machen. Wort dient hier als Trä­ger einer Sinn­ein­heit – in die­sen Bereich gehört dann auch »du sprichst ein gro­ßes Wort gelas­sen aus« (Goe­the, Iphi­ge­nie I,3). Zum andern gibt es das Wort als bedeut­sa­me Erkennt­nis und berühm­te For­mu­lie­rung – bei­spiels­wei­se die »geflü­gel­ten Wor­te«. Dazu gehö­ren unter ande­rem: die Wor­te des Dich­ters, die Wor­te der Hl. Schrift, ein wahres/​treffendes Wort … Nun ja, kei­ne Regel ohne Aus­nah­me. Denn das Sprich­wort – gewiss auch eine Art geflü­gel­tes Wort – hört auf den Plu­ral Sprichwörter.

Unse­re viel­sei­ti­ge Voka­bel kann drit­tens etwas aus­drücken, das Beteue­rung, Beschwö­rung, fei­er­li­ches Ehren­wort bedeu­tet. Da gibt es frei­lich kei­nen Plu­ral, der geht nicht bei For­meln wie: ich gebe dir mein Wort – das Ja-Wort am Altar – er ver­pfän­det sein Wort (sei­ne Ehre).

Dabei nähern wir uns dem Ursprungs­sinn von dem, was man als indo­eu­ro­päi­sche Wur­zel erschlos­sen hat: *ǔer- = fei­er­lich spre­chen, *ǔerd(om) = beschwö­ren­des Wort. Das Gelüb­de heißt alt­in­disch wra­tám. Inter­es­sant, dass der rus­si­sche Arzt (wratsch) aus der­sel­ben Wur­zel kommt; ursprüng­lich der Bespre­cher, der Beschwö­rer, der mit fei­er­lich-okkul­ten Wör­tern Hei­lung verspricht.

Ohne Mehr­zahl-Mög­lich­keit sind wei­ter­hin fol­gen­de, das Rede­recht mei­nen­de Flos­keln: das Wort ergrei­fen; jemand ins Wort fal­len; sich zu Wort mel­den; aufs Wort parie­ren; einem das Wort ent­zie­hen; schließ­lich: das letz­te Wort haben.

Zurück zur Meta­pher vom geschlif­fe­nen Wort. Die­se geht auf eine alte Rede­wei­se vom Glatt­schlei­fen der Wör­ter zurück, und wir haben sogar eine bild­li­che Dar­stel­lung. Im Buch Schel­men­zunft von 1512 wird näm­lich der Schlei­fer an einer rie­si­gen Dreh­schei­be gezeigt, wel­che direkt an sei­nem Mund das her­aus­strö­men­de Wort glatt schmir­gelt. So glatt, dass man als­dann mit schö­nen Wor­ten, die schmei­chelnd ins Ohr hin­ein­ge­hen, betö­ren kann. Geschlif­fen zu reden hat­te damals, anders als heu­te, den Neben­sinn von Ver­füh­rung, Lug und Trug. So hat Luther es benutzt.

Heu­te gibt es die Mei­ster des wor­ding; sie ver­su­chen, eine ihren Zie­len die­nen­de Sprach­re­ge­lung zu fin­den. Wor­ding: ange­pass­te For­mu­lie­rung, vor­ge­ge­be­ner Sprach­ge­brauch – es ist der moder­ne Begriff für das, was die mit­tel­al­ter­li­che Wen­dung mein­te. Kanz­ler Schrö­der lie­fer­te dafür ein berüch­tig­tes Bei­spiel: Wir sind gewillt, »eine fried­li­che Lösung im Koso­vo mit mili­tä­ri­schen Mit­teln durch­zu­set­zen«, d. h. wir füh­ren kei­nen Krieg, son­dern bom­ben für den Frie­den (24. März 1999).

Anders gedeu­tet: Unter dem Schleif­stein der Wort­drechs­ler kön­nen Wör­ter und Begrif­fe zu Pro­pa­gan­da­mit­teln wer­den. Geschlif­fe­ne Lügen- und Ver­ne­be­lungs­wör­ter von Atom­rui­ne bis Zeit­nah sind nach­zu­le­sen in einem Buch von Kai Bier­mann über »Sprach­lü­gen, Unwor­te und Neu­sprech«, Frank­furt a. M. 2013.