Wie viel Wörter hat die deutsche Sprache? Schwer zu sagen. Konrad Duden glaubte im Jahr 1880, sein Werk Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache nennen zu dürfen. Wirklich »vollständig«? Die DUDEN-Redaktion erklärt heute, dass sie von Auflage zu Auflage drei- bis fünftausend neue Wörter aufnimmt. Meine gedruckte Ausgabe des WAHRIG 2012 verzeichnet über 25.000 Stichwörter, das Bertelsmann-Wörterbuch von 2004 hat aber das 8fache. Bertelsmanns Riesenanzahl kommt dadurch zustande, dass hier jede Menge Zusammensetzungen (Komposita) auftauchen. Und weil die Möglichkeit solcher Komposita unbegrenzt ist, gibt es letztlich unendlich viele Wörter. Solche Ungetüme wie Wohnraumkündigungsschutzgesetz (gut!) oder Bundeswehrattraktivitätssteigerungsgesetz (übel!) sorgen von Seiten des Gesetzgebers für immer neue Überraschungen.
Mit geschliffenen Worten reden – diese ab und an gebrauchte Redewendung war Grund zum Staunen und sodann Anlass für diese Wortgeschichte. Bei Martin Luther heißt es: »wie denn die Gottlosen jhr Wort wissen zu wetzen, zu scherfen, und zu schleifen« (Werke 3, 388). Das klingt vorwurfsvoll. Was könnte mit dem Schleifen von Worten ehedem gemeint gewesen sein? Scharf wie ein Messer oder glänzend wie ein geschliffener Diamant?
Dazu später. Zuerst einmal die Schwierigkeit beim Plural. Denn es gibt die Worte der Propheten und die Wörter eines Artikels – andersherum klingt es merkwürdig albern. Die Faustregel in ähnlichen Fällen lautet: Der Plural ohne Umlaut ist die feinere Form. Das sehen auch die Steinmetze so, die darauf bestehen, dass sie Grabmale und nicht Grabmäler herstellen.
So sind die »Worte« die gehobene Variante, wobei wir feine Sinnunterschiede beobachten. Zum einen kennen wir Wendungen wie: mit kräftigen Worten jemand ermahnen oder mit leeren Worten abspeisen, zwei inhaltsschwere Worte, nicht viele Worte machen. Wort dient hier als Träger einer Sinneinheit – in diesen Bereich gehört dann auch »du sprichst ein großes Wort gelassen aus« (Goethe, Iphigenie I,3). Zum andern gibt es das Wort als bedeutsame Erkenntnis und berühmte Formulierung – beispielsweise die »geflügelten Worte«. Dazu gehören unter anderem: die Worte des Dichters, die Worte der Hl. Schrift, ein wahres/treffendes Wort … Nun ja, keine Regel ohne Ausnahme. Denn das Sprichwort – gewiss auch eine Art geflügeltes Wort – hört auf den Plural Sprichwörter.
Unsere vielseitige Vokabel kann drittens etwas ausdrücken, das Beteuerung, Beschwörung, feierliches Ehrenwort bedeutet. Da gibt es freilich keinen Plural, der geht nicht bei Formeln wie: ich gebe dir mein Wort – das Ja-Wort am Altar – er verpfändet sein Wort (seine Ehre).
Dabei nähern wir uns dem Ursprungssinn von dem, was man als indoeuropäische Wurzel erschlossen hat: *ǔer- = feierlich sprechen, *ǔerd(om) = beschwörendes Wort. Das Gelübde heißt altindisch wratám. Interessant, dass der russische Arzt (wratsch) aus derselben Wurzel kommt; ursprünglich der Besprecher, der Beschwörer, der mit feierlich-okkulten Wörtern Heilung verspricht.
Ohne Mehrzahl-Möglichkeit sind weiterhin folgende, das Rederecht meinende Floskeln: das Wort ergreifen; jemand ins Wort fallen; sich zu Wort melden; aufs Wort parieren; einem das Wort entziehen; schließlich: das letzte Wort haben.
Zurück zur Metapher vom geschliffenen Wort. Diese geht auf eine alte Redeweise vom Glattschleifen der Wörter zurück, und wir haben sogar eine bildliche Darstellung. Im Buch Schelmenzunft von 1512 wird nämlich der Schleifer an einer riesigen Drehscheibe gezeigt, welche direkt an seinem Mund das herausströmende Wort glatt schmirgelt. So glatt, dass man alsdann mit schönen Worten, die schmeichelnd ins Ohr hineingehen, betören kann. Geschliffen zu reden hatte damals, anders als heute, den Nebensinn von Verführung, Lug und Trug. So hat Luther es benutzt.
Heute gibt es die Meister des wording; sie versuchen, eine ihren Zielen dienende Sprachregelung zu finden. Wording: angepasste Formulierung, vorgegebener Sprachgebrauch – es ist der moderne Begriff für das, was die mittelalterliche Wendung meinte. Kanzler Schröder lieferte dafür ein berüchtigtes Beispiel: Wir sind gewillt, »eine friedliche Lösung im Kosovo mit militärischen Mitteln durchzusetzen«, d. h. wir führen keinen Krieg, sondern bomben für den Frieden (24. März 1999).
Anders gedeutet: Unter dem Schleifstein der Wortdrechsler können Wörter und Begriffe zu Propagandamitteln werden. Geschliffene Lügen- und Vernebelungswörter von Atomruine bis Zeitnah sind nachzulesen in einem Buch von Kai Biermann über »Sprachlügen, Unworte und Neusprech«, Frankfurt a. M. 2013.