Wie viele Buchstaben braucht eine Sprache? Ganz verschieden, im Deutschen sind es mit ß und Umlauten zusammen genau 30. Englisch liegt im Standardbereich bei 26 letters, Italienisch kommt sparsam mit 21 lettere dell’ alfabeto aus, weil JKWXY nicht gebraucht werden. Die kyrillischen Alphabete mit ihren Zischlauten brauchen ca. 33 bukwi, historisch fußen sie auf den 24 grammata der Griechen.
Die genialen Erfinder unserer Grundbuchstaben aber sprachen semitisch. Es waren phönizische Handelsvölker des Mittelmeers, die eine Lautschrift nur aus Konsonanten schufen und dafür 22 Zeichen aus der ägyptischen Priesterschrift, einer Bilderschrift, bezogen. Vokale waren nicht wichtig, weil die Wortbedeutung im Semitischen am Konsonantenstamm haftet.
Einige der alten Symbol-Bilder können wir im späteren Schriftzeichen noch gut erahnen. Zum Beispiel der Buchstabe A, vom semitischen ’aleph (Ochse): Er ist leicht als Sinnbild eines Stierkopfes zu erkennen. Noch leichter erkennen wir es beim O, semitisch ‘ajin (Auge). Griechische Stämme, die in Nachbarschaft zu den Phöniziern lebten, benötigten aber außer Zeichen für Mitlaute auch mehrere Vokalbuchstaben zwecks Eindeutigkeit; da sie den Knacklaut ’aleph nicht kannten, nahmen sie dies Zeichen zum Beispiel für ihr A = Alpha.
Seit der Entstehung der Buchstaben und dem Werden der chinesischen Schrift sind 3500 Jahre vergangen. Wie kurz der Zeitraum ist, den wir Menschen durch schriftliche Zeugnisse überschauen, könnte man sich an einem Berg von 1000 m Höhe klarmachen. Nur die obersten acht bis zehn Meter werden durch geschriebene Überlieferung beleuchtet, alles darunter ist dunkles Terrain, das lediglich spekulativ und rückrechnend erschlossen werden kann. Lange vor der Schrift gab es die gesprochene Sprache. Aber irgendwann drängte es unsere Vorfahren, kurze Mitteilungen zu fertigen und über die Ernten Protokoll zu führen. Das war der Anfang des Schreibens.
Um der Etymologie unseres Wörtchens näher zu kommen, sollten wir auf die alten Schriftzeichen im Sprachraum Germania schauen, auf das Buchstaben-System von ungeklärter Herkunft: die Runen. Nach seinen ersten sechs Buchstaben nennt man dies Alphabet F-u-th-a-r-k, analog zum Abece. Ob außer Priestern und einigen Schriftkundigen viele Germanen lesen konnten, ist ungewiss. Nach Auffassung der alten Runenmeister dienten die Staben vor allem der Verständigung mit dem Übernatürlichen. Die Symbole fußen großenteils auf den griechischen Mustern und wurden auf einem bisher nicht erforschten Weg aus dem Süden importiert. Berühmt wurde die Inschrift auf dem Goldhorn von Gallehus in Schleswig, wo sich ein gewisser Leugast mit der Nachricht verewigte: Ek (d. h. ich) hornu tawido, habe das Horn gemacht.
Warum Buch-Staben? Der kräftige senkrechte Strich der eingeritzten Runen im Holz oder Stein hieß Stab, altnord. stafr oder runastafr. Die zum Schreiben im Buch verwendeten lateinischen Zeichen hießen Buch-Staben, im Unterschied nämlich zu den Run-Staben.
The letter kills … To gramma apoktinei … Der Buchstabe tötet – aber der Geist macht lebendig, so schrieb Paulus an die Gemeinde der Korinther. Daraus entstand später die Wendung vom (toten) Buchstaben des Gesetzes und der abfällige Begriff der Buchstabengläubigkeit. Damit ist ja eine Form von Engstirnigkeit gemeint, die bei gewissen Anhängern einer Buchreligion – oder auch einer kodifizierten Ideologie – auftritt. Sie können als rabiate Eiferer oder als stille Schriftgelehrte gelten. Zum Beispiel seien die Zeugen Jehovas genannt, die uns auf der Straße bescheiden-höflich missionierend begegnen und die auf eine buchstäbliche Wiederherstellung des Paradieses auf Erden hoffen. (Zuvor aber würden die Ungläubigen in einem apokalyptischen Strafgericht vernichtet.) Auf dem Weltmarkt der Religionen hat Buchstabengläubigkeit seit drei Jahrzehnten Konjunktur, bei protestantischen Fundamentalisten ebenso wie im Islam.
Die Buchstaben sind an solcher Gläubigkeit unschuldig. Sie wurden erfunden zur Übermittlung von Mitteilungen, prägend waren hier wohl Händler mit ihren Warenlisten. Während das gesprochene Wort aus Lauten besteht, ist das geschriebene auf Buchstaben oder andere Zeichen angewiesen. Bilderzeichen zum Beispiel – die benutzt nicht nur das Chinesische, auch unser Straßenbild spricht in Piktogrammen, in (Verkehrs-)Zeichen anstatt in langen Gebots- und Verbotssätzen. Der Vorteil solcher Kommunikation: Dieselbe Zeitung wird in den verschiedensten Idiomen Chinas gleichermaßen verstanden. Doch für Lexika und Telefonbücher ist die ABC-Sortierung nach dem Alphabet praktischer (obwohl ich nicht weiß, wie chinesische Verzeichnisse das handhaben).
Zum Schluss eine kuriose Entdeckung, die wir dem Dudenbüchlein Unnützes Sprachwissen entnehmen: Ist eignet-
lcih die Bcuhstbaenrehenifloge in eneim Wrot uniwchitg? – Ja, so ist es! Denn nach einer Studie aus Cambridge erfasst das Gehirn ein Wort als Ganzes; Hauptsache ist, dass der erste und letzte Buchstabe an der richtigen Stelle stehen. So ist es doch nur folgerichtig, wenn auf die Rechtschreibung an deutschen Schulen kein gesteigerter Wert mehr gelegt wird.