Vielleicht ist es mit der Sprache so ähnlich wie mit den Artefakten kolonialer Raubkunst, über die deutsche und andere europäische Museen immer noch in nicht überschaubarer Zahl verfügen. Die Debatte über die Restitution der in der Kolonialzeit geraubten Gegenstände läuft zwar schon seit rund 60 Jahren, aber nur allmählich kommt eine Rückführung in Gange und dann manchmal nur als »Dauerleihgabe«, wie bei den 23 Gegenständen, die im Sommer 2022 vom ethnologischen Museum in Berlin dem Nationalmuseum in der namibischen Hauptstadt Windhoek ausgehändigt wurden.
Bei der Forderung nach Rückgabe geht es den Beraubten in der Regel nicht um bloße Besitzansprüche, was allerdings schon allein zur Begründung des Anspruchs genügen sollte, sondern in Anbetracht der historischen, kulturellen und ästhetischen Bedeutung auch um Fragen der eigenen Identität.
Um diese menschliche und kulturelle Identität geht es aber auch den indigenen Völkern, Gruppen und Gemeinschaften, wenn sie den Anspruch erheben, bei ihrem Namen gerufen zu werden, wenn sie verlangen, dass ihnen »auf Augenhöhe« begegnet wird. Was allerdings »in aller Konsequenz« bedeutet, »dass wir ihren eigenen Erzählungen von ihrem Ursprung, ihrer Religion, Weltanschauung und Geschichte mindestens genau so viel Gehör schenken wie den anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen« (Angeline Boulley im Nachwort zu Firekeeper’s Daughter, ihrem lesenswerten Roman über die Ojibwe-Gemeinschaft, der sie angehört, auf Michigans Oberer Halbinsel). Entdecker, Eroberer, Kolonisatoren, Konquistadoren, Missionare haben mit ihrer Benennung, Wortbildung und Wortwahl ganze indigene Völkerschaften anonymisiert, ihre autochthone Sprache ignoriert. Diese Hybris wirkt bis heute fort, verschmutzt unser Denken.
Afrika, anschwärzen, Dritte Welt, Eingeborene, Eskimo, farbig, gemischtrassig, Hottentotten, Indianer, Indianerkrapfen, Kaffernbüffel, Kameruner, Kolonie, Mohr, Mohrenkopf, mongoloid, Naturvolk, Neger, Negerkuss, Pizza Hawaii, Rasse, schwarz, Schwarzafrika, Schwarzfahrer/Schwarzfahren, Völkerball, Zigeuner, Zigeunerschnitzel.
Der Journalist Matthias Heine hat seinem 2019 im Dudenverlag erschienenen Buch Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht im vergangenen Herbst das Buch über Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache nachgeschoben. Er stellt rund 80 Wörter vor samt ihrer Geschichte und der aktuellen Kritik an ihnen. Seine jeweiligen Einschätzungen zu ihrer heutigen Verwendung betrachtet er dabei nicht als »Versuch, nun selbst als Sprachpolizei oder Anti-Sprachpolizei aktiv zu werden. Vielmehr sollen sie Menschen, die Freude an offenen Debatten haben, zum Weiterdenken anregen.«
Nehmen wir zum Beispiel »Afrika«: Der Name leitet sich, schreibt Heine, von »Afri« ab. So bezeichneten die Römer – ergo europäische Eindringlinge – die Bewohnerinnen und Bewohner der Regionen westlich des Nils, mit einem Wort also, das für schmutzig und primitiv steht.
Doch: Wer stört sich heute an »Afrika« als Name des Erdteils? Ich persönlich hatte bisher noch kein schlechtes Gewissen im Hinblick auf seine Verwendung. Allerdings: Die Firma Bahlsen führte 60 Jahre lang den Schokoladenkeks »Afrika« in ihrem Sortiment, weil von dort die Kakaobohnen stammten. 2020 schlug dann die Instagramm-Community zu, sah ein Rassismus-Problem, der Shitstorm brach los, #alltäglicherrassismus, und seit Juni 2021 heißt der Keks »Perpetuum«. Nachzulesen bei Heine.
Nehmen wir in dem Zusammenhang »anschwärzen«, im Sinne von »verleumden«. »Jahrhundertelang in der angegebenen Weise gebraucht«, schreibt Heine, habe »allem Anschein nach niemand« bei seiner Verwendung »an die natürliche Hautfarbe von Menschen« gedacht. 2020 jedoch habe der Sprachratgeber des Berliner Diversity-Landesprogramms empfohlen, »anschwärzen« durch »nachsagen/melden/denunzieren« zu ersetzen: wegen der »negativen Konnotationen«, die mit dem Wort »schwarz« verbunden seien. Eine ähnliche Diskussion gibt es weiter hinten im ABC bei den Stichworten rund um »schwarz«.
Und als drittes Beispiel – für alle 80 reicht der Platz nicht – zu dem vom Ravensburger Verlag (»Der junge Häuptling Winnetou«) bis in die Kindergärten, dort vor allem während der Karnevalszeit, viel diskutierten Begriff »Indianer«. Hier ist Heines Fazit: »Seit 200 Jahren wird Indianer für die Ureinwohner Nordamerikas verwendet. Auch der Hinweis, dass ein Wort ›veraltet‹ sei, beinhaltet keine moralische Wertung und rechtfertigt keine Empörung gegenüber Menschen, die noch Indianer sagen. Wenn Sie tatsächlich einmal einem Indianer begegnen, sollten Sie ihn als Mitglied seines Stammes anreden.« Die geschichtliche Wirklichkeit jenseits der Romantisierung, die Ausrottung ganzer Stämme, die Unterdrückung und Misshandlung von Native Americans stehen auf einem anderen Blatt.
Ein weiterer großer Teil von »kaputten« Wörtern dreht sich um Begriffe aus der Alltagssprache, von fast jedem schon einmal verwendet:
Abtreibung, Altes Testament, Asylant, behindert, bemannt, Damen und Herren, Ehrenmord, Flüchtling, Einmannpackung, Fräulein, Heimat, Jude, Judaslohn, Liliputaner, nicht sesshaft, obdachlos, Schamlippen, taubstumm, Wasserkopf, Weißrussland, Zwerg.
Heine: »Es gibt viele Wörter, die als problematisch, diskriminierend oder gestrig gelten. Manche funktionieren gar nicht mehr, andere finden je nach Kontext und eigener Haltung Verwendung.« Leserinnen und Leser werden dem Autor sicherlich nicht in allen Belangen zustimmen, ob man »das eigentlich noch sagen kann oder nicht«. Richtig ist aber die Feststellung: »Wer das Buch gelesen hat, kann eine fundierte Meinung entwickeln und erhält Sicherheit auf einem heiklen Terrain«, stellt es doch Gewohntes in Frage, übt sich in Dekonstruktion, wie die Philosophen sagen würden, und regt somit die Diskursfreude an.
Ich fragte mich während der Lektüre, wie das eigentlich mit der Bezeichnung »Germanen« ist, dem schon in der Zeit »vor Christus« – dies ebenfalls ein Stichwort bei Heine – gebräuchlichen Sammelnamen für verschiedene Völker und Stämme in Europa. Schließlich war »Germani« eine Erfindung der römischen Eroberer. Die so benannten Völkerschaften kannten keine für ihre Gesamtheit geltende Bezeichnung. Aber noch nicht einmal aus dem Stamm der Bajuwaren wehte bisher ein Shitstorm durchs Land.
Matthias Heine: Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache, Dudenverlag, Berlin 2022, 301 S., 22 €. – Zum Weiterlesen: Fischer: Die Hamburger Südsee-Expedition (Ossietzky 10/2022); Arndt: Rassistisches Erbe (Ossietzky 15/2022).