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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wo liegt Güst?

Es lag schon lan­ge in der Luft. Bereits ein Jahr vor der Mau­er­öff­nung hat­te ein wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter des Mini­ste­ri­ums für Che­mi­sche Indu­strie in einer klei­nen pri­va­ten Run­de ver­kün­det: Die DDR ist plei­te. Wir woll­ten es nicht glau­ben, obwohl wir merk­ten: Die aro­ma­tisch­sten Toma­ten, die es bis heu­te je gab, die unga­ri­schen, waren nicht mehr zu haben. Toi­let­ten­pa­pier war sowie­so in einem Land mit Papier­kon­tin­gent für Kul­tur­schaf­fen­de ein Pro­blem, aber wenn es schon die Scheu­er­lap­pen aus Lum­pen und das Hun­de­fut­ter aus Fleisch­ab­fäl­len nicht mehr gab, dann war das bedenklich.

Das Jahr ging ins Land. Es galt, eine Urlau­ber­bro­schü­re für die schö­ne Regi­on um Schleiz her­um zu erstel­len. Die zwei für Kul­tur und Tou­ris­mus zustän­di­gen net­ten Mit­ar­bei­te­rin­nen der SED-Kreis­lei­tung saßen dabei, als wir die Kon­zep­ti­on bespra­chen. Aber kei­ne Schwei­ne­zucht­an­la­ge mit den abge­stor­be­nen Bäu­men dane­ben und auch nicht die übli­chen Indu­strie­ab­bil­dun­gen zur Demon­stra­ti­on der Wirt­schafts­er­fol­ge bit­te, war­fen wir schüch­tern ein und sahen uns erstaunt an, dass kein Ein­spruch von den uns zuge­ord­ne­ten Polit-Damen kam. Wenig spä­ter stell­te sich her­aus, dass die­se gelern­ten Ver­käu­fe­rin­nen sich weit­sich­tig je einen Gemü­se­la­den gesi­chert hat­ten, den sie in abseh­ba­rer Zeit über­neh­men woll­ten. Dazu ist es ja dann auch gekommen.

Da mein Mann und ich im Staat­li­chen Muse­um Schloss Burgk tätig waren, konn­ten wir unse­ren Urlaub nicht in der Sai­son neh­men. Durch gute Kon­tak­te zum Kul­tur­bund, in dem mein Mann Mit­glied war, hat­ten wir ab Ende Okto­ber einen Platz in des­sen Feri­en­heim »Hein­rich Hei­ne« in Schier­ke im Harz erhal­ten, einem einst noblen Haus, in dem noch viel Plüsch an frü­he­re Zei­ten erin­ner­te. Das Essen war vor­züg­lich und wur­de auch nach 1990 bei Rei­sen in die neu dazu­ge­kom­me­nen west­li­chen Bun­des­län­der kaum übertroffen.

Bei­na­he wäre der Urlaub geschei­tert, denn für Schier­ke in der abge­rie­gel­ten Grenz­zo­ne brauch­te man einen Pas­sier­schein von der Poli­zei des Hei­mat­or­tes. Der war von den dor­ti­gen Genos­sen falsch aus­ge­füllt wor­den. Ich glau­be, in mei­nem Geburts­da­tum war ein Zah­len­dre­her. Nur mit gro­ßen Über­re­dungs­kün­sten gelang es, doch in dem Ort blei­ben zu kön­nen. Im Nach­hin­ein dach­ten wir uns: Ein Jahr frü­her hät­te das nicht geklappt.

Irgend­wie hör­ten wir, dass die Gren­zen offen sei­en. Es begann eine wah­re Völ­ker­wan­de­rung die Stra­ße zum Brocken hin­auf. Wir kamen aller­dings nicht weit. Rechts und links am Schlag­baum saßen mit beton­ter Läs­sig­keit zwei Sol­da­ten und fixier­ten uns. Nie­mand trau­te sich, ihnen zu nahe zu kom­men. Unser Men­schen­pulk ver­harr­te eine Wei­le dort, um zu beob­ach­ten und zu taxie­ren, ob sich doch etwas tat und man etwas wagen könn­te. Aber die zwei Grenz­schüt­zer hiel­ten gut sicht­bar eine nach oben auf­ge­stütz­te Waf­fe in der Hand. Also doch nicht offen, dach­ten wir, und: wie denn auch.

Am näch­sten Abend gab der wun­der­ba­re Rund­funk-Jugend­chor Wer­ni­ge­ro­de im schö­nen, gro­ßen Saal des Heims ein Kon­zert. Auf der Toi­let­te hör­te ich: In Herz­berg ist die Gren­ze offen. Wo ist Herz­berg? Das Grenz­ge­biet wur­de, je näher man der Demar­ka­ti­ons­li­nie kam, auf den DDR-Land­kar­ten immer unge­nau­er und lücken­haf­ter. Den gan­zen Abend grü­bel­ten wir, an wel­chem Ort denn der Über­gang sei. Am näch­sten Tag bega­ben wir uns mit unse­rem Vier­takt-Wart­burg, der neue­sten Errun­gen­schaft der DDR-Auto­in­du­strie, blind­lings auf Fahrt, immer den Fahr­zeug­ko­lon­nen hin­ter­her und den pro­vi­so­ri­schen Papp­schil­dern mit hand­schrift­li­chen Druck­buch­sta­ben an Stra­ßen­kreu­zun­gen. Sie wie­sen nach GÜST. Wo ist der Ort Güst, frag­ten wir uns. Es ging aben­teu­er­lich durch den Wald. War dahin­ter die Gren­ze? Dann wie­der Stra­ße, dann Feld­weg, immer wie­der Stau und Stau. Die Span­nung stieg. Wann und wo und was wür­de uns erwarten?

End­lich gelang­ten wir zur Gren­ze, und GÜST ent­pupp­te sich als Akro­nym für Grenz-Über­gangs-STel­le. Wir fuh­ren wie die ande­ren vor­sich­tig lang­sam hin­über, immer gewär­tig, ange­hal­ten zu wer­den. Drü­ben war­te­te schon ein klei­nes Häuf­chen Schau­lu­sti­ger auf die Brü­der und Schwe­stern. Plötz­lich eil­ten ver­gnügt zwei älte­re Damen, Typ gut genähr­te Haus­frau im Sonn­tags­staat, vor unser Auto. Wir ent­spra­chen genau ihrer Ziel­grup­pe: ein etwas bes­se­res, grö­ße­res Auto, das sich aus der Schlan­ge der Trab­bis abhob, kein Kind drin und nicht mehr ganz so jung. Sie luden uns enthu­sia­stisch zu sich zum Weih­nachts­bra­ten ein. Ihre ver­dutz­ten Gesich­ter ver­ges­se ich nie, die sie bei unse­rer lächeln­den, aber strik­ten Ableh­nung zogen. Die Stra­ße führ­te übri­gens nicht nach Herz­berg, wie ich fälsch­lich ver­stan­den hat­te, son­dern nach Bad Harz­burg. Dort hat­ten die Geschäf­te flugs ihre Laden­hü­ter vor die Tür gestellt, um die har­ten Mün­zen, die wir Besu­cher alle von unse­ren West­tan­ten oder -omas bei uns tru­gen, in ihr ange­stamm­tes Land zurückzuführen.

Die »Wes­sis«, die sich inzwi­schen hier im Osten ange­sie­delt haben, erle­ben wir mitt­ler­wei­le als so gut inte­griert, dass sie nie­man­den stö­ren und man im All­tag ver­gisst, wo sie her­kom­men. Wenn wir mit unse­rem Audi in den Westen fah­ren, ver­däch­tigt uns kei­ner mehr, bedürf­ti­ge Ossis zu sein, die sich kei­ne Weih­nachts­gans lei­sten kön­nen – und uns wür­de auch nie­mand mehr zum Essen ein­la­den, nur weil wir Ossis sind.