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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wo die Angst Luxus ist

Vor zwei Wochen, am 8. März, mel­de­ten die Nach­rich­ten­agen­tu­ren die Ent­füh­rung von fast 300 Schü­le­rin­nen und Schü­lern durch bewaff­ne­te Män­ner aus einer Grund­schu­le in der Stadt Kuri­ga im Nord­we­sten Nige­ri­as. Die Mas­sen­ent­füh­rung, die sich am Mor­gen des Vor­tags ereig­net hat­te, war in kur­zer Zeit die drit­te in der von maro­die­ren­den auf­stän­di­schen Isla­mi­sten und kri­mi­nel­len Ban­den ter­ro­ri­sier­ten Regi­on. Ins­ge­samt ver­schwan­den über 500 Men­schen, haupt­säch­lich Frau­en und Kinder.

Der aktu­el­le Vor­fall erin­nert an die Ver­schlep­pung von fast 280 vor allem christ­li­cher Schü­le­rin­nen aus einem Mäd­chen­in­ter­nat in der nige­ria­ni­schen Stadt Chi­bok durch die isla­mi­sti­sche Grup­pe Boko Haram im April 2014, vor fast genau zehn Jah­ren also. Laut Amne­sty Inter­na­tio­nal waren im ver­gan­ge­nen Jahr noch immer rund 100 Schü­le­rin­nen nicht zurück­ge­kehrt. Seit damals ent­führ­te Boko Haram Tau­sen­de Men­schen, anfangs vor allem im Nord­osten Nige­ri­as, ab 2020 auch im Nord­we­sten. Häu­fi­ger Anlass der Ent­füh­run­gen sind Löse­geld-Erpres­sun­gen, jedoch wer­den Mäd­chen und Frau­en eben­so regel­mä­ßig zu Zwangs­ehen und Män­ner zur Arbeit auf den Fel­dern oder im Berg­bau gezwungen.

Der Name Boko Haram bedeu­tet in etwa »West­li­che Bil­dung ist Sün­de«. Die geziel­ten Über­fäl­le auf Bil­dungs­ein­rich­tun­gen schei­nen die­se Über­set­zung zu bestä­ti­gen. Die Grup­pie­rung hat sich nicht nur in Nige­ria aus­ge­brei­tet, dem bevöl­ke­rungs­reich­sten Land Afri­kas, son­dern auch in den Nach­bar­staa­ten. 2023 berich­te­te die Bun­des­re­gie­rung bei einer Anhö­rung dem Par­la­ments­aus­schuss für Men­schen­rech­te und huma­ni­tä­re Hil­fe, dass in die­ser Regi­on »Mil­lio­nen Men­schen unter den Fol­gen von Ter­ro­ris­mus, Kri­mi­na­li­tät, Gewalt und feh­len­den Per­spek­ti­ven lei­den und drin­gend auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen sind«.

Den­noch wird Nige­ria mit die­sem Pro­blem allein­ge­las­sen – man darf getrost hin­zu­fü­gen, dass dies auch für die ande­ren Sahel-Län­der gilt –, es ist für die Welt »so gut wie unsicht­bar«, wie es Domi­nic John­son, seit 1990 Afri­ka-Redak­teur der taz, am 11. März in einem Kom­men­tar for­mu­lier­te. Denn: »In den Zei­ten des Hor­rors von Gaza erre­gen ein paar Hun­dert ver­schwun­de­ne Kin­der im tief­sten Nige­ria kaum Aufmerksamkeit.«

Wo aber die aktua­li­täts­ver­ses­se­ne Schlag­zei­len­in­du­strie ihren Fokus schon bald auf das näch­ste Ereig­nis rich­tet, da hilft die Lite­ra­tur mit ihrem »län­ge­rem Atem« und ihren Geschich­ten »nach wah­ren Bege­ben­hei­ten«. Schon vor zehn Jah­ren hat die Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin Sig­rid Löff­ler kon­sta­tiert, dass »die Lite­ra­tur der Welt in Bewe­gung« gera­ten ist: »Eine neue, nicht-west­li­che Lite­ra­tur ist ent­stan­den, die zumeist von Migran­ten und Sprach­wechs­lern aus ehe­ma­li­gen Kolo­nien und Kri­sen­re­gio­nen geschrie­ben wird.« Zu ihnen gehö­ren inzwi­schen auch Djaï­li Ama­dou Amal, Autorin und Frau­en­rechts­ak­ti­vi­stin aus Kame­run, und Lolá Ákín­má­dé Åker­ström, in der nige­ria­ni­schen Mil­lio­nen­stadt Lagos gebo­ren und mit ihrer Fami­lie in Stock­holm lebend.

Im Her­zen des Sahel heißt das aktu­el­le Buch von Amal. In Frank­reich 2021 nach dem Erfolg ihres Erst­lings Die unge­dul­di­gen Frau­en zur Autorin des Jah­res gewählt, erhielt Amal 2022 die Ehren­dok­tor­wür­de der Sor­bon­ne. Sie hat am eige­nen Leib erfah­ren, wor­über sie schreibt. Als mus­li­mi­sche Ful­be, einem ehe­mals noma­di­schen Hir­ten­volk, mit 17 Jah­ren zwangs­ver­hei­ra­tet, hat sie die Unter­drückung der Frau durch­lebt. 2012 grün­de­te sie die Ver­ei­ni­gung »Femmes du Sahel«, die sich für die Bil­dung von Frau­en und gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt einsetzt.

Ihr Roman spielt im hohen Nor­den Kame­runs, in der Regi­on »Extrê­me-Nord«, die im Westen an Nige­ria, im Osten an den Tschad angrenzt. Hier lebt die Haupt­per­son Fay­dé mit Mut­ter und meh­re­ren Brü­dern in einem klei­nen Dorf in den Ber­gen. Pure Exi­stenz­not und der Kampf ums Über­le­ben prä­gen ihren All­tag wie auch den der übri­gen Dorf­be­woh­ne­rin­nen und -bewoh­ner in die­ser post­ko­lo­nia­len Welt. Die Tage sind sen­gend heiß. Seit vier Mona­ten hat es nicht gereg­net, fünf wei­te­re wer­den fol­gen, bis die ersten Trop­fen fal­len. Die dür­ren Blät­ter der Aka­zi­en sind ver­gilbt, die Kräu­ter von der Son­ne ver­brannt. Die Fel­der rei­chen bis zum Fuß des Gebir­ges, Sorg­hum, eine Hir­se-Art, bedeckt den Boden, doch die Hir­se trägt kei­ne Kör­ner mehr.

»Immer mehr jun­ge Män­ner ver­las­sen das Dorf auf der Suche nach einem bes­se­ren Leben oder schlicht zum Über­le­ben. Mit den Fel­dern haben sie ihre Eltern, Frau­en und klei­nen Kin­der zurück­ge­las­sen, die nicht die nöti­ge Kraft besit­zen, sie zu bewirt­schaf­ten. Doch selbst wenn sie stark genug wären, hät­ten sie noch immer mit dem sich wan­deln­den Kli­ma zu kämp­fen. Das Kli­ma wird immer wüstenhafter.«

Alle wol­len nach Maroua, in die nur rund 20 Kilo­me­ter ent­fern­te Haupt­stadt der Regi­on mit über 200 000 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern. Auch Fay­dé tut die­sen Schritt, eben­so ihre Freun­din­nen. Sie wer­den Dienst­mäd­chen in den Häu­sern der herr­schen­den Klas­se, der wohl­ha­ben­den Schwar­zen Ober­schicht. Als recht­lo­se Haus­an­ge­stell­te, teils ohne Papie­re, sind sie deren Dün­kel und Macht­miss­brauch, ihrer Will­kür und ihren sexu­el­len Über­grif­fen aus­ge­setzt. Sie arbei­ten für ein biss­chen bes­se­res Leben und um Geld nach Hau­se schicken zu kön­nen, das ihren Fami­li­en im Dorf das Über­le­ben ermög­licht. Bis es dann eines Tages kein Dorf mehr gibt. Die Häu­ser wur­den bei einem Über­fall von Boko Haram dem Erd­bo­den gleich­ge­macht, die Men­schen nie­der­ge­met­zelt, bis auf die weni­gen, die recht­zei­tig flie­hen konn­ten. Und die­se wol­len wei­ter­le­ben, sei es in Flücht­lings­la­gern, in ande­ren Dör­fern oder in der gro­ßen Stadt. Angst ist ein Luxus, und für Träu­me ist kein Platz.

»In allen Spie­geln ist sie schwarz«, ich fin­de, das ist ein wun­der­schö­ner Titel, den Åker­ström für ihren Roman gewählt hat. Er han­delt von drei Frau­en: einer Mar­ke­ting- und Diver­si­täts­exper­tin, einer Flug­be­glei­te­rin und einer Geflüch­te­ten aus Soma­lia. Drei Schick­sa­le, die sich in Stock­holm über­schnei­den, drei Geschich­ten über das Leben und die Lebens­rea­li­tät Schwar­zer Frau­en in einer wei­ßen Gesell­schaft und über die »gro­ßen The­men Migra­ti­on, Ras­sis­mus, Sexis­mus und Identität«.

 Djaï­li Ama­dou Amal: Im Her­zen des Sahel, aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt von Ela zum Win­kel, Orlan­da Ver­lag, Rei­he Afri­ka bewegt, Ber­lin 2023, 252 S., 22 €. – Lolá Ákín­má­dé Åker­ström: In allen Spie­geln ist sie schwarz, aus dem Eng­li­schen über­setzt von Yase­min Din­çer, Orlan­da Ver­lag, Rei­he Welt bewegt, Ber­lin 2023, 24 €. – »Die neue Welt­li­te­ra­tur« von Sig­rid Löff­ler erschien 2014 im Ver­lag C.H. Beck.