Vor zwei Wochen, am 8. März, meldeten die Nachrichtenagenturen die Entführung von fast 300 Schülerinnen und Schülern durch bewaffnete Männer aus einer Grundschule in der Stadt Kuriga im Nordwesten Nigerias. Die Massenentführung, die sich am Morgen des Vortags ereignet hatte, war in kurzer Zeit die dritte in der von marodierenden aufständischen Islamisten und kriminellen Banden terrorisierten Region. Insgesamt verschwanden über 500 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder.
Der aktuelle Vorfall erinnert an die Verschleppung von fast 280 vor allem christlicher Schülerinnen aus einem Mädcheninternat in der nigerianischen Stadt Chibok durch die islamistische Gruppe Boko Haram im April 2014, vor fast genau zehn Jahren also. Laut Amnesty International waren im vergangenen Jahr noch immer rund 100 Schülerinnen nicht zurückgekehrt. Seit damals entführte Boko Haram Tausende Menschen, anfangs vor allem im Nordosten Nigerias, ab 2020 auch im Nordwesten. Häufiger Anlass der Entführungen sind Lösegeld-Erpressungen, jedoch werden Mädchen und Frauen ebenso regelmäßig zu Zwangsehen und Männer zur Arbeit auf den Feldern oder im Bergbau gezwungen.
Der Name Boko Haram bedeutet in etwa »Westliche Bildung ist Sünde«. Die gezielten Überfälle auf Bildungseinrichtungen scheinen diese Übersetzung zu bestätigen. Die Gruppierung hat sich nicht nur in Nigeria ausgebreitet, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, sondern auch in den Nachbarstaaten. 2023 berichtete die Bundesregierung bei einer Anhörung dem Parlamentsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, dass in dieser Region »Millionen Menschen unter den Folgen von Terrorismus, Kriminalität, Gewalt und fehlenden Perspektiven leiden und dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind«.
Dennoch wird Nigeria mit diesem Problem alleingelassen – man darf getrost hinzufügen, dass dies auch für die anderen Sahel-Länder gilt –, es ist für die Welt »so gut wie unsichtbar«, wie es Dominic Johnson, seit 1990 Afrika-Redakteur der taz, am 11. März in einem Kommentar formulierte. Denn: »In den Zeiten des Horrors von Gaza erregen ein paar Hundert verschwundene Kinder im tiefsten Nigeria kaum Aufmerksamkeit.«
Wo aber die aktualitätsversessene Schlagzeilenindustrie ihren Fokus schon bald auf das nächste Ereignis richtet, da hilft die Literatur mit ihrem »längerem Atem« und ihren Geschichten »nach wahren Begebenheiten«. Schon vor zehn Jahren hat die Literaturkritikerin Sigrid Löffler konstatiert, dass »die Literatur der Welt in Bewegung« geraten ist: »Eine neue, nicht-westliche Literatur ist entstanden, die zumeist von Migranten und Sprachwechslern aus ehemaligen Kolonien und Krisenregionen geschrieben wird.« Zu ihnen gehören inzwischen auch Djaïli Amadou Amal, Autorin und Frauenrechtsaktivistin aus Kamerun, und Lolá Ákínmádé Åkerström, in der nigerianischen Millionenstadt Lagos geboren und mit ihrer Familie in Stockholm lebend.
Im Herzen des Sahel heißt das aktuelle Buch von Amal. In Frankreich 2021 nach dem Erfolg ihres Erstlings Die ungeduldigen Frauen zur Autorin des Jahres gewählt, erhielt Amal 2022 die Ehrendoktorwürde der Sorbonne. Sie hat am eigenen Leib erfahren, worüber sie schreibt. Als muslimische Fulbe, einem ehemals nomadischen Hirtenvolk, mit 17 Jahren zwangsverheiratet, hat sie die Unterdrückung der Frau durchlebt. 2012 gründete sie die Vereinigung »Femmes du Sahel«, die sich für die Bildung von Frauen und gegen geschlechtsspezifische Gewalt einsetzt.
Ihr Roman spielt im hohen Norden Kameruns, in der Region »Extrême-Nord«, die im Westen an Nigeria, im Osten an den Tschad angrenzt. Hier lebt die Hauptperson Faydé mit Mutter und mehreren Brüdern in einem kleinen Dorf in den Bergen. Pure Existenznot und der Kampf ums Überleben prägen ihren Alltag wie auch den der übrigen Dorfbewohnerinnen und -bewohner in dieser postkolonialen Welt. Die Tage sind sengend heiß. Seit vier Monaten hat es nicht geregnet, fünf weitere werden folgen, bis die ersten Tropfen fallen. Die dürren Blätter der Akazien sind vergilbt, die Kräuter von der Sonne verbrannt. Die Felder reichen bis zum Fuß des Gebirges, Sorghum, eine Hirse-Art, bedeckt den Boden, doch die Hirse trägt keine Körner mehr.
»Immer mehr junge Männer verlassen das Dorf auf der Suche nach einem besseren Leben oder schlicht zum Überleben. Mit den Feldern haben sie ihre Eltern, Frauen und kleinen Kinder zurückgelassen, die nicht die nötige Kraft besitzen, sie zu bewirtschaften. Doch selbst wenn sie stark genug wären, hätten sie noch immer mit dem sich wandelnden Klima zu kämpfen. Das Klima wird immer wüstenhafter.«
Alle wollen nach Maroua, in die nur rund 20 Kilometer entfernte Hauptstadt der Region mit über 200 000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Auch Faydé tut diesen Schritt, ebenso ihre Freundinnen. Sie werden Dienstmädchen in den Häusern der herrschenden Klasse, der wohlhabenden Schwarzen Oberschicht. Als rechtlose Hausangestellte, teils ohne Papiere, sind sie deren Dünkel und Machtmissbrauch, ihrer Willkür und ihren sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Sie arbeiten für ein bisschen besseres Leben und um Geld nach Hause schicken zu können, das ihren Familien im Dorf das Überleben ermöglicht. Bis es dann eines Tages kein Dorf mehr gibt. Die Häuser wurden bei einem Überfall von Boko Haram dem Erdboden gleichgemacht, die Menschen niedergemetzelt, bis auf die wenigen, die rechtzeitig fliehen konnten. Und diese wollen weiterleben, sei es in Flüchtlingslagern, in anderen Dörfern oder in der großen Stadt. Angst ist ein Luxus, und für Träume ist kein Platz.
»In allen Spiegeln ist sie schwarz«, ich finde, das ist ein wunderschöner Titel, den Åkerström für ihren Roman gewählt hat. Er handelt von drei Frauen: einer Marketing- und Diversitätsexpertin, einer Flugbegleiterin und einer Geflüchteten aus Somalia. Drei Schicksale, die sich in Stockholm überschneiden, drei Geschichten über das Leben und die Lebensrealität Schwarzer Frauen in einer weißen Gesellschaft und über die »großen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität«.
Djaïli Amadou Amal: Im Herzen des Sahel, aus dem Französischen übersetzt von Ela zum Winkel, Orlanda Verlag, Reihe Afrika bewegt, Berlin 2023, 252 S., 22 €. – Lolá Ákínmádé Åkerström: In allen Spiegeln ist sie schwarz, aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer, Orlanda Verlag, Reihe Welt bewegt, Berlin 2023, 24 €. – »Die neue Weltliteratur« von Sigrid Löffler erschien 2014 im Verlag C.H. Beck.