Erinnern Sie sich noch an die »herrlichen Zeiten« Anfang dieses Jahrhunderts? Der heutige Bekenntniszwang gegenüber Russ(inn)en im In- und Ausland besagt ja: Wer sich in Russland gegen den Krieg ausspricht und wer sich als Russin/Russe im Westen nicht explizit gegen den Krieg und die russische Regierung positioniert, gefährdet seine bzw. ihre Existenz.
Vor etwa 20 Jahren wurde das in den USA nicht ganz unähnlich geregelt. Wer nicht die Fahne herausgehängt hat zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak mit hunderttausenden Toten, bekam es mit der patriotischen Nachbarschaft zu tun, und wer friedensbewegt war, bekam auch mal Besuch von Polizei und Geheimdiensten. Derweil wurden Champagner auf der Straße ausgekippt und Pommes Frites von »French Fries« in »Freedom Fries« umbenannt, um die »feigen französischen Froschfresser« zu bestrafen, die sich nicht an der völkerrechtswidrigen Irak-Aggression beteiligen wollten. Zugleich bejubelte in der BRD Angela Merkel die Vorbereitungen und Durchführungen des US-Überfalls (wovon sie sich bis heute – trotz aller IS-Folgen – nicht distanziert hat), und der größte Teil der sog. seriösen Medien behandelte fast alle, die den Irak nicht bombardieren wollten, als »anti-amerikanisch«. Kurz vor dem Angriffskrieg gegen den Irak sagte der US-Präsident George W. Bush am 7. März 2003: »Wenn es um unsere Sicherheit geht, brauchen wir keine Erlaubnis von irgendjemandem, auch eine Zustimmung des UN-Sicherheitsrates nicht.« Wer sich die Mühe macht, mal die damalige Kriegsberichterstattung in den niveauvollsten Sendern wie CNN oder auch in der New York Times mit den heute in der EU zensierten RT-Formaten der Jetzt-Zeit zu vergleichen (vgl. rtde.site), wird sich sehr wundern über den Unterschied und deren jeweilige politisch-justizielle Behandlung. Seltsam, dass sich an diese Höhepunkte der »westlichen Wertegemeinschaft« und »regelbasierten Friedensordnung« 2002/03 so wenige Menschen erinnern können. Erstaunlich, wie sich die Zeiten ändern und doch auch gleichen. »With us or with the Terrorists« sagte noch G. W. Bush. Das heißt heute: Entweder du vertrittst zu 100 Prozent Nato-Narrative, oder du bist »Putin-Fan« (also »Faschist«, versteht sich).
50 Jahre nach der Kuba-Krise weiß eigentlich jeder, was die USA tun würden, wenn z.B. russische oder chinesische und kubanische Truppen zusammen mit Truppen aus Mexiko an der texanischen Grenze der USA Militärpräsenz zeigen würden. Im Oktober 1962 blockierten US-Kriegsschiffe sowjetische Schiffe, die Waffen nach Kuba transportierten, und Präsident Kennedy hatte vorher erklärt, dass ein Durchbrechen der Blockade die Eröffnung eines Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion bedeuten würde. Da Kuba gerade ein Jahr vorher (1961) von den USA überfallen wurde, hatte es jedes Recht zur Verteidigung gegenüber dem Aggressor. Der Schweizer Historiker Daniele Ganser zitiert aus einem der inzwischen freigegebenen Regierungsprotokollen aus dem Weißen Haus unter Kennedy. In einer der ersten Sitzungen des Krisenstabs am 16. Oktober 1962 zwischen 18:30 und 19:55h empörte sich der US-Präsident laut Protokoll dermaßen über die sowjetischen Raketen auf Kuba, dass er sagte: »Das ist gerade so, als wenn wir plötzlich beginnen würden, eine größere Zahl von Mittelstreckenraketen in der Türkei zu stationieren. Ich denke mal, das wäre verdammt gefährlich.« Daraufhin meldet sich sein Nationaler Sicherheitsberater McGeorge Bundy: »Na ja, aber genau das haben wir getan, Mr. Präsident« (vgl. Daniele Ganser: Illegale Kriege, 5. Aufl., Zürich 2017, S. 114f./347). Trotzdem konnte sich der Angreifer sogar noch als Opfer inszenieren (ein lehrreicher Film hierzu aus US-Regierungssicht ist übrigens trotz alledem: »Thirteen Days«; dt. Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=ywbLVeGQbHs). Die Lösung der sog. Kuba-Krise 1962 könnte ein wichtiges Lehrstück für momentane internationale Beziehungen darstellen.
Manchmal fällt einem dazu nur noch Karl Kraus ein – oder Erich Kästner:
Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner? (1930)
Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.
Noch immer räumt ihr dem Guten und Schönen
den leeren Platz überm Sofa ein.
Ihr wollt euch noch immer nicht dran gewöhnen,
gescheit und trotzdem tapfer zu sein.
Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,
mit der ihr das trockene Brot beschmiert.
Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:
»Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!«
Ihr streut euch Zucker über die Schmerzen
und denkt, unter Zucker verschwänden sie.
Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen
und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.
Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, dass ich’s hübsch zusammenreime,
und denkt, dass es dann zusammenhält?
Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weiß.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.
Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen
und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!
Doch tut es rasch. Ihr müsst euch beeilen.
Sonst werden die Sorgen größer als ihr.
Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben.
Im Osten zimmern sie schon den Sarg.
Ihr möchtet gern euren Spaß dran haben …?
Ein Friedhof ist kein Lunapark.