Dinkel-Gewürzkekse, Gemüsesuppe, Lungenkraut-Trank, Galgant-Wurzelpulver – es gibt fast alles unter dem Namen »Hildegard«, sogar ein komplettes Fastenkurpaket zu einem recht stolzen Preis. Die Welt der Produkte, die diesen Namen tragen, ist mittlerweile unübersichtlich geworden. Sogar eigene Shops hat die Heilige – zumindest heißen sie so wie sie. Auch im ursprünglich rein protestantischen Berlin hat sie Spuren hinterlassen, sei es nun als Namensgeberin einer katholischen Kirche oder in Form von heilkundlichen Arztpraxen. Und wer die Heilkraft der Natur in Form von Kräutern praxisnah kennenlernen will, kann das zum Beispiel auf einer Kräuterwanderung in einem Berliner Wald machen.
Was macht heute die Faszination einer Frau aus, die vor über 925 Jahren in Bermersheim vor der Höhe geboren wurde, wo ihre adlige Familie lebte? Ihre posthume Popularität ist tatsächlich enorm. Im Namen der Äbtissin, Dichterin, Visionärin, Theologin, Natur- und Heilkundlerin haben Menschen in unsicheren Zeiten schon lange die innere Einkehr, die »Auszeit« entdeckt und besuchen bereitwillig Klöster, Abteien, Klöster- und Kräutergärten. Will man mehr über die 2012 durch Papst Benedikt XVI heiliggesprochene Hildegard und ihre Wirkungsstätten erfahren, so macht man das am besten in ihrer Heimat im heutigen Rheinhessen, und wo besser als in Bingen am Mittelrhein. Das »Museum am Strom« am Rheinufer – mittlerweile zum Touristenmagnet »Kulturufer« aufgepeppt – zeigt eine sehr anschauliche Dauerausstellung über Leben und Werk Hildegards. Im Außenbereich lockt der »Hildegarten« und gibt Zeugnis ab über Hildegards Lehre von der Heilkraft der Pflanzen. Das kann gewöhnungsbedürftig sein, wenn man zum Beispiel von »warmem Blut und schwarzer Galle« liest, es ist Hildegards ganz eigene »Magie der Pflanzen«, die sie in der legendären Schrift »Physica« festgehalten hat, von der das Museum sogar das Original besitzt. Was Hildegards Lebensräume betrifft, so zeugen Modelle historischer Klöster mit Hildegard-Bezug von der einstigen Pracht der Anlagen, in der sie lebte. Harmonisch angestrahlte Kirchenfenster, die dort ausgestellt werden, verbreiten fast so etwas wie Besinnlichkeit. Und auf einem ist sie abgebildet, da malt sie Noten auf ein Papier, obwohl niemand weiß, wie sie eigentlich genau ausgesehen hat. Und während man so sinnierend durch die Ausstellung wandelt, wird man im Hintergrund von leiser mittelalterlicher Kirchenmusik beschallt, die Hildegard vielleicht sogar selber komponiert hat, denn das konnte das Multitalent nämlich auch. Und Schreiben natürlich: »Wisse die Wege des Herren (Liber Scivias)« war eines der Leitmotive Hildegards und zugleich auch der Titel ihres allerersten Haupt-Werkes aus dem Jahr 1151 oder 1152, in dem sie ihre Visionen mit Illustrationen niedergeschrieben hat.
Die Anfänge Hildegards sind bemerkenswert und zeugen noch heute von einer starken Persönlichkeit. Der legendäre Disibodenberg in Odernheim am Zusammenfluss von Nahe und Glan liegt ungefähr auf halber Strecke des 2017 eröffneten Hildegard-Pilgerwegs, den sportliche Menschen an wenigen Tagen auf 137 Kilometern von Bingen bis Idar-Oberstein absolvieren können. Er führt auf zehn Etappen – inklusive der Hildegardwege in Bingen und Rüdesheim – an ihren wichtigsten Lebensstationen vorbei, so auch am Disibodenberg. Dort befand sich ein Mönchskloster mit traditionell angeschlossener Frauenklause, und in das hatten die Eltern Hildegards – der Edelfreie Hildebert von Bermersheim und seine Frau Mechthild – das Mädchen zur religiösen Erziehung durch die Meisterin Jutta von Sponheim übergeben. 1136 starb Jutta, und Hildegard übernahm ihre Nachfolge. Und es war auch auf diesem uralten Berg, wo Hildegard angeblich durch göttliche Vision den Auftrag erhalten hatte, ihr Wissen aufzuschreiben. Für die Menschheit, für die Nachwelt, also auch für uns: »Schreibe, was du siehst und hörst.« Das kann man glauben oder auch nicht – oder aber, es als eines der unzähligen Geheimnisse einer historisch verbürgten Frauengestalt akzeptieren. Es passierte immer viel, wenn Hildegard ihre Visionen hatte. Da ist von Blitzen die Rede, von sehr viel Licht, heute vermuten Forscher, dass diese Wahrnehmungen vielleicht durch eine abnorm starke Migräne oder eine andere Erkrankung ausgelöst wurden. Doch so genau will man das eigentlich nicht wissen, es zerstört ein wenig den Mythos, der in all den Jahrhunderten sein eigenes Kraftfeld aufgebaut hat, bis hin zu einer verstärkten Kommerzialisierung des Namens eines Menschen, der sich dagegen nicht mehr wehren kann.
Man muss schon früh anreisen, um den Berg mit der Klosterruine für sich allein zu haben und die durchaus kontemplative Stimmung zu erleben. Mauerreste zeugen von der einstigen Größe der Anlage, die in die schöne Landschaft eingebettet ist. Damals wurde die klösterliche Harmonie jedoch zunächst durch einen Streit mit Abt Kuno von Disibodenberg zunichte gemacht, weil Hildegard die klösterliche Askese lockern wollte, womit die Benediktinermönche nun überhaupt nicht einverstanden waren. Der strenge Abt ging zunächst als Sieger hervor, doch Hildegard wurde dann doch noch zu seiner Nemesis, zur Konkurrentin mit einem eigenen Kloster. Die Abtrennung des Frauenkonvents vom Mönchskloster hatte sich schon länger angebahnt. Und wohl im Jahr 1147 verließ Hildegard den Disibodenberg und gründete schließlich auf dem Rupertsberg in Bingen, dort, wo die Nahe in den Rhein mündet, ihr eigenes Kloster, das dann zu ihrer zentralen Wirkungsstätte wurde. Aus dem Krach mit dem Abt und dem Damoklesschwert der Konventsauflösung war also für sie etwas Gutes entstanden. In der Zwischenzeit hatte Hildegard zudem von Papst Eugen III. die erlösende Erlaubnis erhalten, ihre Visionen niederzuschreiben: »Und ich sprach und schrieb diese Dinge nicht aus Erfindung meines Herzens oder irgendeiner anderen Person, sondern durch die geheimen Mysterien Gottes, wie ich sie vernahm und empfing von den himmlischen Orten.«
Wieder zurück in Bingen ist heute ist vom Kloster Rupertsberg nichts mehr zu sehen, zumindest oberirdisch. 1632 wurde es durch die Schweden zerstört, letzte Turm-, Grabkrypta- und Chorreste sind dann 1857 mitsamt Felsen, auf dem sie standen, für den Bau der Nahetal-Eisenbahn gesprengt worden. Doch Hildegard wollte immer noch nicht weichen: Fünf Arkadenbögen im heutigen Würthschen Haus sind geblieben, gut versteckt im heutigen Ortsteil Bingerbrück.
Und auf der anderen Rheinseite wacht in der Ferne die Benediktinerinnenabtei St. Hildegard seit 1904 über das Mittelrheintal, neben der berühmt-berüchtigten Drosselgasse ist es eines der Wahrzeichen von Rüdesheim, der Kontrast könnte größer nicht sein. Mittlerweile gehört das Kloster auch zum UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal. Es wird von einer Ordensgemeinschaft betrieben, die mittlerweile auch für ihren preisgekrönten Wein bekannt ist, der zur feucht-fröhlichen inneren Einkehr kistenweise aus dem Klostershop geschleppt wird. Der Verkauf ist jedoch wichtig, die Benediktinerschwestern bestreiten unter anderem mit dem Weinanbau ihren Lebensunterhalt. Schließlich folgen sie den Regeln des Heiligen Benedikt – heißt es auch in einer informativen Broschüre über Hildegard, die es im Klostershop zu kaufen gibt: »Nur dann sein sie wahrhaft Mönche (und Nonnen), wenn sie von ihrer Hände Arbeit leben.« Und im kleinen Garten des Klosters lächelt die Hildegard-Statue milde vor sich hin, während unten der Rhein in der Sonne in den schönsten Farben leuchtet. Doch irgendwann geht die Sonne unter, und dann wird es morbide. Etwas befremdlich ist das nämlich schon, die Sache mit Hildegards Reliquiensammlung – darunter auch der Arm des heiligen Rupert von Bingen –, die unweit des Klosters in der Eibinger Pfarrkirche hinter Glas besichtigt werden kann. Auch die Tatsache, dass Hildegards Schädel, Haar, Herz und Zunge in einem goldenen Schrein im Altarraum aufbewahrt werden, und man die Reliquien zudem jedes Jahr am 17. September feiert, ist zumindest gewöhnungsbedürftig. Memento Mori im ansonsten fröhlichen Rheinhessen, das so oft in Feierlaune ist.
Was nimmt der Besucher nun – außer Wein und den ein oder anderen Dinkelkeks – noch mit nach Hause? Religiöse Menschen müssen natürlich nicht mehr überzeugt werden. Andere kommen vielleicht ans Nachdenken. Eine »maßvolle Lebensordnung«, das macht auch ohne tiefen Glauben einen gewissen Sinn, ebenso eine Hildegard von Bingen als Denkanstoß für eigene Philosophien. Und ein gewisses Maß an Respekt für eine Frau, die sich in schwierigen Zeiten nie von ihrem tief empfundenen Glauben hat abbringen lassen. Die daraus etwas aufbaute, für das sie – außer Gottes Hilfe – keine männliche Unterstützung brauchte. Und um diese Biografie wohlwollend anzuerkennen, braucht man kein »Hildegard-Fastenkurpaket«. Eher Dinkelkekse als Stärkung für lange Wanderungen. Im Land der Hildegard.