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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wisse die Wege

Din­kel-Gewürz­kek­se, Gemü­se­sup­pe, Lun­gen­kraut-Trank, Gal­gant-Wur­zel­pul­ver – es gibt fast alles unter dem Namen »Hil­de­gard«, sogar ein kom­plet­tes Fasten­kur­pa­ket zu einem recht stol­zen Preis. Die Welt der Pro­duk­te, die die­sen Namen tra­gen, ist mitt­ler­wei­le unüber­sicht­lich gewor­den. Sogar eige­ne Shops hat die Hei­li­ge – zumin­dest hei­ßen sie so wie sie. Auch im ursprüng­lich rein pro­te­stan­ti­schen Ber­lin hat sie Spu­ren hin­ter­las­sen, sei es nun als Namens­ge­be­rin einer katho­li­schen Kir­che oder in Form von heil­kund­li­chen Arzt­pra­xen. Und wer die Heil­kraft der Natur in Form von Kräu­tern pra­xis­nah ken­nen­ler­nen will, kann das zum Bei­spiel auf einer Kräu­t­er­wan­de­rung in einem Ber­li­ner Wald machen.

Was macht heu­te die Fas­zi­na­ti­on einer Frau aus, die vor über 925 Jah­ren in Ber­mers­heim vor der Höhe gebo­ren wur­de, wo ihre adli­ge Fami­lie leb­te? Ihre post­hu­me Popu­la­ri­tät ist tat­säch­lich enorm. Im Namen der Äbtis­sin, Dich­te­rin, Visio­nä­rin, Theo­lo­gin, Natur- und Heil­kund­le­rin haben Men­schen in unsi­che­ren Zei­ten schon lan­ge die inne­re Ein­kehr, die »Aus­zeit« ent­deckt und besu­chen bereit­wil­lig Klö­ster, Abtei­en, Klö­ster- und Kräu­ter­gär­ten. Will man mehr über die 2012 durch Papst Bene­dikt XVI hei­lig­ge­spro­che­ne Hil­de­gard und ihre Wir­kungs­stät­ten erfah­ren, so macht man das am besten in ihrer Hei­mat im heu­ti­gen Rhein­hes­sen, und wo bes­ser als in Bin­gen am Mit­tel­rhein. Das »Muse­um am Strom« am Rhein­ufer – mitt­ler­wei­le zum Tou­ri­sten­ma­gnet »Kul­tur­ufer« auf­ge­peppt – zeigt eine sehr anschau­li­che Dau­er­aus­stel­lung über Leben und Werk Hil­de­gards. Im Außen­be­reich lockt der »Hil­de­gar­ten« und gibt Zeug­nis ab über Hil­de­gards Leh­re von der Heil­kraft der Pflan­zen. Das kann gewöh­nungs­be­dürf­tig sein, wenn man zum Bei­spiel von »war­mem Blut und schwar­zer Gal­le« liest, es ist Hil­de­gards ganz eige­ne »Magie der Pflan­zen«, die sie in der legen­dä­ren Schrift »Phy­si­ca« fest­ge­hal­ten hat, von der das Muse­um sogar das Ori­gi­nal besitzt. Was Hil­de­gards Lebens­räu­me betrifft, so zeu­gen Model­le histo­ri­scher Klö­ster mit Hil­de­gard-Bezug von der ein­sti­gen Pracht der Anla­gen, in der sie leb­te. Har­mo­nisch ange­strahl­te Kir­chen­fen­ster, die dort aus­ge­stellt wer­den, ver­brei­ten fast so etwas wie Besinn­lich­keit. Und auf einem ist sie abge­bil­det, da malt sie Noten auf ein Papier, obwohl nie­mand weiß, wie sie eigent­lich genau aus­ge­se­hen hat. Und wäh­rend man so sin­nie­rend durch die Aus­stel­lung wan­delt, wird man im Hin­ter­grund von lei­ser mit­tel­al­ter­li­cher Kir­chen­mu­sik beschallt, die Hil­de­gard viel­leicht sogar sel­ber kom­po­niert hat, denn das konn­te das Mul­ti­ta­lent näm­lich auch. Und Schrei­ben natür­lich: »Wis­se die Wege des Her­ren (Liber Sci­vi­as)« war eines der Leit­mo­ti­ve Hil­de­gards und zugleich auch der Titel ihres aller­er­sten Haupt-Wer­kes aus dem Jahr 1151 oder 1152, in dem sie ihre Visio­nen mit Illu­stra­tio­nen nie­der­ge­schrie­ben hat.

Die Anfän­ge Hil­de­gards sind bemer­kens­wert und zeu­gen noch heu­te von einer star­ken Per­sön­lich­keit. Der legen­dä­re Disi­bo­den­berg in Odern­heim am Zusam­men­fluss von Nahe und Glan liegt unge­fähr auf hal­ber Strecke des 2017 eröff­ne­ten Hil­de­gard-Pil­ger­wegs, den sport­li­che Men­schen an weni­gen Tagen auf 137 Kilo­me­tern von Bin­gen bis Idar-Ober­stein absol­vie­ren kön­nen. Er führt auf zehn Etap­pen – inklu­si­ve der Hil­de­gard­we­ge in Bin­gen und Rüdes­heim – an ihren wich­tig­sten Lebens­sta­tio­nen vor­bei, so auch am Disi­bo­den­berg. Dort befand sich ein Mönchs­klo­ster mit tra­di­tio­nell ange­schlos­se­ner Frau­en­klau­se, und in das hat­ten die Eltern Hil­de­gards – der Edel­freie Hil­d­e­bert von Ber­mers­heim und sei­ne Frau Mecht­hild – das Mäd­chen zur reli­giö­sen Erzie­hung durch die Mei­ste­rin Jut­ta von Spon­heim über­ge­ben. 1136 starb Jut­ta, und Hil­de­gard über­nahm ihre Nach­fol­ge. Und es war auch auf die­sem uralten Berg, wo Hil­de­gard angeb­lich durch gött­li­che Visi­on den Auf­trag erhal­ten hat­te, ihr Wis­sen auf­zu­schrei­ben. Für die Mensch­heit, für die Nach­welt, also auch für uns: »Schrei­be, was du siehst und hörst.« Das kann man glau­ben oder auch nicht – oder aber, es als eines der unzäh­li­gen Geheim­nis­se einer histo­risch ver­bürg­ten Frau­en­ge­stalt akzep­tie­ren. Es pas­sier­te immer viel, wenn Hil­de­gard ihre Visio­nen hat­te. Da ist von Blit­zen die Rede, von sehr viel Licht, heu­te ver­mu­ten For­scher, dass die­se Wahr­neh­mun­gen viel­leicht durch eine abnorm star­ke Migrä­ne oder eine ande­re Erkran­kung aus­ge­löst wur­den. Doch so genau will man das eigent­lich nicht wis­sen, es zer­stört ein wenig den Mythos, der in all den Jahr­hun­der­ten sein eige­nes Kraft­feld auf­ge­baut hat, bis hin zu einer ver­stärk­ten Kom­mer­zia­li­sie­rung des Namens eines Men­schen, der sich dage­gen nicht mehr weh­ren kann.

Man muss schon früh anrei­sen, um den Berg mit der Klo­ster­rui­ne für sich allein zu haben und die durch­aus kon­tem­pla­ti­ve Stim­mung zu erle­ben. Mau­er­re­ste zeu­gen von der ein­sti­gen Grö­ße der Anla­ge, die in die schö­ne Land­schaft ein­ge­bet­tet ist. Damals wur­de die klö­ster­li­che Har­mo­nie jedoch zunächst durch einen Streit mit Abt Kuno von Disi­bo­den­berg zunich­te gemacht, weil Hil­de­gard die klö­ster­li­che Aske­se lockern woll­te, womit die Bene­dik­ti­ner­mön­che nun über­haupt nicht ein­ver­stan­den waren. Der stren­ge Abt ging zunächst als Sie­ger her­vor, doch Hil­de­gard wur­de dann doch noch zu sei­ner Neme­sis, zur Kon­kur­ren­tin mit einem eige­nen Klo­ster. Die Abtren­nung des Frau­en­kon­vents vom Mönchs­klo­ster hat­te sich schon län­ger ange­bahnt. Und wohl im Jahr 1147 ver­ließ Hil­de­gard den Disi­bo­den­berg und grün­de­te schließ­lich auf dem Ruperts­berg in Bin­gen, dort, wo die Nahe in den Rhein mün­det, ihr eige­nes Klo­ster, das dann zu ihrer zen­tra­len Wir­kungs­stät­te wur­de. Aus dem Krach mit dem Abt und dem Damo­kles­schwert der Kon­vents­auf­lö­sung war also für sie etwas Gutes ent­stan­den. In der Zwi­schen­zeit hat­te Hil­de­gard zudem von Papst Eugen III. die erlö­sen­de Erlaub­nis erhal­ten, ihre Visio­nen nie­der­zu­schrei­ben: »Und ich sprach und schrieb die­se Din­ge nicht aus Erfin­dung mei­nes Her­zens oder irgend­ei­ner ande­ren Per­son, son­dern durch die gehei­men Myste­ri­en Got­tes, wie ich sie ver­nahm und emp­fing von den himm­li­schen Orten.«

Wie­der zurück in Bin­gen ist heu­te ist vom Klo­ster Ruperts­berg nichts mehr zu sehen, zumin­dest ober­ir­disch. 1632 wur­de es durch die Schwe­den zer­stört, letz­te Turm-, Grab­kryp­ta- und Chor­re­ste sind dann 1857 mit­samt Fel­sen, auf dem sie stan­den, für den Bau der Nahe­tal-Eisen­bahn gesprengt wor­den. Doch Hil­de­gard woll­te immer noch nicht wei­chen: Fünf Arka­den­bö­gen im heu­ti­gen Würth­schen Haus sind geblie­ben, gut ver­steckt im heu­ti­gen Orts­teil Bingerbrück.

Und auf der ande­ren Rhein­sei­te wacht in der Fer­ne die Bene­dik­ti­ne­rin­nen­ab­tei St. Hil­de­gard seit 1904 über das Mit­tel­rhein­tal, neben der berühmt-berüch­tig­ten Dros­sel­gas­se ist es eines der Wahr­zei­chen von Rüdes­heim, der Kon­trast könn­te grö­ßer nicht sein. Mitt­ler­wei­le gehört das Klo­ster auch zum UNESCO-Welt­erbe Obe­res Mit­tel­rhein­tal. Es wird von einer Ordens­ge­mein­schaft betrie­ben, die mitt­ler­wei­le auch für ihren preis­ge­krön­ten Wein bekannt ist, der zur feucht-fröh­li­chen inne­ren Ein­kehr kisten­wei­se aus dem Klo­ster­shop geschleppt wird. Der Ver­kauf ist jedoch wich­tig, die Bene­dik­ti­ner­schwe­stern bestrei­ten unter ande­rem mit dem Wein­an­bau ihren Lebens­un­ter­halt. Schließ­lich fol­gen sie den Regeln des Hei­li­gen Bene­dikt – heißt es auch in einer infor­ma­ti­ven Bro­schü­re über Hil­de­gard, die es im Klo­ster­shop zu kau­fen gibt: »Nur dann sein sie wahr­haft Mön­che (und Non­nen), wenn sie von ihrer Hän­de Arbeit leben.« Und im klei­nen Gar­ten des Klo­sters lächelt die Hil­de­gard-Sta­tue mil­de vor sich hin, wäh­rend unten der Rhein in der Son­ne in den schön­sten Far­ben leuch­tet. Doch irgend­wann geht die Son­ne unter, und dann wird es mor­bi­de. Etwas befremd­lich ist das näm­lich schon, die Sache mit Hil­de­gards Reli­qui­en­samm­lung – dar­un­ter auch der Arm des hei­li­gen Rupert von Bin­gen –, die unweit des Klo­sters in der Eib­in­ger Pfarr­kir­che hin­ter Glas besich­tigt wer­den kann. Auch die Tat­sa­che, dass Hil­de­gards Schä­del, Haar, Herz und Zun­ge in einem gol­de­nen Schrein im Altar­raum auf­be­wahrt wer­den, und man die Reli­qui­en zudem jedes Jahr am 17. Sep­tem­ber fei­ert, ist zumin­dest gewöh­nungs­be­dürf­tig. Memen­to Mori im anson­sten fröh­li­chen Rhein­hes­sen, das so oft in Fei­er­lau­ne ist.

Was nimmt der Besu­cher nun – außer Wein und den ein oder ande­ren Din­kel­keks – noch mit nach Hau­se? Reli­giö­se Men­schen müs­sen natür­lich nicht mehr über­zeugt wer­den. Ande­re kom­men viel­leicht ans Nach­den­ken. Eine »maß­vol­le Lebens­ord­nung«, das macht auch ohne tie­fen Glau­ben einen gewis­sen Sinn, eben­so eine Hil­de­gard von Bin­gen als Denk­an­stoß für eige­ne Phi­lo­so­phien. Und ein gewis­ses Maß an Respekt für eine Frau, die sich in schwie­ri­gen Zei­ten nie von ihrem tief emp­fun­de­nen Glau­ben hat abbrin­gen las­sen. Die dar­aus etwas auf­bau­te, für das sie – außer Got­tes Hil­fe – kei­ne männ­li­che Unter­stüt­zung brauch­te. Und um die­se Bio­gra­fie wohl­wol­lend anzu­er­ken­nen, braucht man kein »Hil­de­gard-Fasten­kur­pa­ket«. Eher Din­kel­kek­se als Stär­kung für lan­ge Wan­de­run­gen. Im Land der Hildegard.