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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wirtschaftsverbrechen

Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät ist all­ge­gen­wär­tig und ver­ur­sacht grö­ße­re Schä­den als alle übri­gen Ver­bre­chens­ar­ten – außer viel­leicht Krie­gen. Exper­ten gehen davon aus, dass die Zahl der unent­deckt blei­ben­den Delik­te im Bereich der Wirt­schaft beson­ders hoch ist. Erkenn­bar ist sie nur an den Sym­pto­men der wirt­schaft­li­chen Dauerkrise.

Doch nach öffent­li­cher und ver­öf­fent­lich­ter Mei­nung sind es kei­nes­wegs die pro­fit­ma­xi­mie­ren­den Her­ren in Nadel­strei­fen, die mit der »Tat­waf­fe Unter­neh­men« die inne­re Sicher­heit der Staa­ten und Staa­ten­ge­mein­schaf­ten gefähr­den. Gefähr­lich sind – sagen die Ord­nungs­po­li­ti­ker, und vie­le glau­ben es nur all­zu gern – die Aus­län­der, Asyl­su­chen­den, die ille­ga­len Zuwan­de­rer und Schwarz­ar­bei­ter. Der ehe­ma­li­ge Innen­mi­ni­ster Kan­ther: »Wer in Deutsch­land von Kri­mi­na­li­tät redet, der muss von den Aus­län­dern reden.« Viel­leicht auch von kor­rup­ten Beam­ten. Das sorgt für Wahl­kampf­stim­mung. Mit dem The­ma Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät dage­gen ist offen­bar kein Staat zu machen. Kei­ne der gro­ßen Par­tei­en zeig­te sich bis­her geneigt, die nach­weis­li­che Gefähr­dung von Sozi­al­staat und Demo­kra­tie durch Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät im Wahl­kampf aufzugreifen.

Neu­er­dings wird von­sei­ten der Wirt­schaft mas­siv ver­sucht, Delik­te, die Arbei­ter und Ange­stell­te zum Scha­den ihres Arbeit­ge­bers bege­hen, als Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät dar­zu­stel­len. Doch der Arbeit­neh­mer, der sei­nen Arbeit­ge­ber beklaut, sei­ne Ver­si­che­rung betrügt, ist kein Wirt­schafts­kri­mi­nel­ler, er ist ein Dieb oder Betrüger.

Bei Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät han­delt es sich in der Regel um Kapi­tal­be­schaf­fungs-, Kapi­tal­ver­wer­tungs- und Kapi­tal­si­che­rungs­kri­mi­na­li­tät. Das aber heißt, es han­delt sich um Berei­che­rungs­kri­mi­na­li­tät der rei­chen, der eta­blier­ten »Ober­welt«. Sie ist die ganz all­täg­li­che, für sen­sa­tio­nel­le Bericht­erstat­tung nur sel­ten geeig­ne­te Kri­mi­na­li­tät des Kapi­tals, die Kri­mi­na­li­tät der Wirtschaft.

Die Wirt­schaft ist – was gern ver­ges­sen oder als ganz selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­men wird – nach wie vor eine demo­kra­tie­freie Zone. In ihr herrscht Eigen­tums­recht, nicht demo­kra­ti­sches Stimm­recht, hier gilt nach wie vor das Für­sten- oder Füh­rer­prin­zip, nicht die reprä­sen­ta­ti­ve und schon gar nicht die direk­te Demo­kra­tie. Freie Wirt­schaft steht also in einem struk­tu­rel­len Wider­spruch zur sozia­len und demo­kra­ti­schen Rechts­staat­lich­keit. Ein Wider­spruch, der durch Tarif­au­to­no­mie und ande­re For­men des unglei­chen – aber gesetz­lich gere­gel­ten – Tau­zie­hens von Ver­bän­den und Par­tei­en um die rich­ti­gen Grenz­wer­te des Sozia­len und Öko­lo­gi­schen nur unzu­rei­chend über­brückt wer­den kann. Die jewei­li­gen Gren­zen der unter­neh­me­ri­schen Betä­ti­gungs­frei­heit wer­den auf demo­kra­ti­scher Grund­la­ge in Geset­zen fest­ge­schrie­ben. Aber:

  • Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät igno­riert die­se demo­kra­tisch zustan­de gekom­me­nen Geset­ze und macht grund­sätz­lich alles und alle zu ihren Opfern, um – neben den lega­len – zusätz­li­che ille­ga­le Pro­fi­te zu erzie­len. Sie rich­tet sich in erster Linie gegen kon­kur­rie­ren­de Wirt­schafts­un­ter­neh­men, aber auch gegen Geschäfts­part­ner, gegen Kapi­tal­an­le­ger, gegen Ver­si­che­run­gen, also gegen das Kapi­tal selbst. Wenn das Argu­ment Gehör fin­det, dass Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät eine Gefahr dar­stel­le, dann allen­falls mit Blick auf die Bedro­hung der Ein­zel­ka­pi­ta­le selbst oder auch auf das System.
  • Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät rich­tet sich auch gegen Arbeit­neh­mer. Denn die Kri­mi­na­li­tät des Kapi­tals gegen das Kapi­tal zer­stört Arbeits­plät­ze, sozia­le Siche­rungs­sy­ste­me, gan­ze Sozi­al­ord­nun­gen. Zu ihren Opfern gehö­ren neben den Arbei­tern und Ange­stell­ten auch die nicht immer mit die­sen iden­ti­schen Ver­brau­cher, Pati­en­ten, Kli­en­ten, Ver­kehrs­teil­neh­mer, Beschäf­tig­te und Nut­zer von Kul­tur­ein­rich­tun­gen, Beschäf­tig­te und Mit­glie­der von Sozi­al­ver­bän­den, Gewerk­schaf­ten, Kirchen.
  • Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät unter­gräbt daher auch nahe­zu unbe­merkt die fun­da­men­ta­len Rechts- und Sicher­heits­ga­ran­tien der Gesell­schaft. Sie rui­niert Staat und Kom­mu­nen, denn sie räu­bert – oft auch durch Weg­se­hen oder gar mit akti­ver Unter­stüt­zung kor­rum­pier­ter Poli­ti­ker und höhe­rer Beam­ter – die Staats- und Sozi­al­kas­sen aus. Und sie setzt damit die für einen sozia­len, demo­kra­ti­schen und öko­lo­gisch ver­ant­wort­li­chen Rechts­staat unent­behr­li­che poli­ti­sche Steue­rungs­ka­pa­zi­tät bis zum Grad ihrer Unwirk­sam­keit her­ab. So ver­küm­mert sozia­le, demo­kra­ti­sche und öko­lo­gi­sche Poli­tik zu sym­bo­li­scher Gesetz­ge­bung, redu­ziert sich auf unver­bind­li­che Ver­spre­chen, pro­vo­ziert mit ihrer Untä­tig­keit und Unwirk­sam­keit die Sehn­sucht nach dem star­ken Staat, am Ende gar dem Poli­zei- und Führerstaat.
  • Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät nimmt kei­ne Rück­sicht auf Gren­zen und Regu­lie­run­gen; sie beu­tet die Men­schen aus – und die Natur. Wenn wir vom Geset­zes­bruch der Wirt­schaft spre­chen, muss dar­an erin­nert wer­den, dass die Ver­tre­ter der Wirt­schaft vom Staat Rechts­si­cher­heit, Schutz und Frei­heit des Eigen­tums ver­lan­gen. In Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart haben sie sich immer wie­der Geset­ze wie Maß­an­zü­ge zuschnei­den las­sen. Die­se Geset­ze fin­den sich vor allem im Sozi­al- und Wirt­schafts­recht. Aus der Sicht derer, die über kein oder nur unbe­deu­ten­des Kapi­tal ver­fü­gen, ermög­li­chen oder för­dern die mei­sten die­ser Geset­ze die völ­lig lega­le Berei­che­rung auf ihre Kosten und – teil­wei­se – auch die Aus­plün­de­rung der mit­tel­stän­di­schen Schich­ten durch Kre­dit­ge­ber und Monopolisten.

Der den Unter­neh­mern näher als den Arbeit­neh­mern ste­hen­de bür­ger­li­che Rechts­staat lega­li­sier­te und lega­li­siert – trotz über­wun­de­nem Drei­klas­sen­wahl­recht und zuge­las­se­ner Gewerk­schaf­ten, auch trotz pro­pa­gier­ter sozia­ler Mit­tel­stands­po­li­tik – heu­te noch Wirt­schafts­me­tho­den, die von den mei­sten Opfern, und nicht nur von die­sen, als Ver­bre­chen erlit­ten und gewer­tet wer­den. Die Arbei­ter­be­we­gung hat­te der lega­len Aus­beu­tung sozi­al­staat­lich-demo­kra­ti­sche Gren­zen gezo­gen. Nach­dem aber die klas­sen­be­wuss­te Arbei­ter­be­we­gung und der Real­so­zia­lis­mus besiegt sind, wit­tert Kapi­tal­macht wie­der Mor­gen­luft. Nun soll auch noch die gewinn­schmä­lern­de »Gefäl­lig­keits­de­mo­kra­tie« abge­baut wer­den, die die Unter­neh­mer den Sozi­al­po­li­ti­kern aller Par­tei­en (außer der kapi­tal­from­men FDP) anla­sten. Dazu muss das Glo­ba­li­sie­rungs­ar­gu­ment her­hal­ten, der soge­nann­te inter­na­tio­na­le Wett­be­werb. Gemeint ist aller­dings nicht der Lei­stungs­wett­be­werb zwi­schen kon­kur­rie­ren­den Unter­neh­men um bes­se­re Pro­duk­te, son­dern die Sen­kung der in den ursprüng­li­chen Indu­strie­na­tio­nen erreich­ten Demo­kra­tie-, Sozi­al- und Umwelt­stan­dards. Glo­ba­li­sie­rungs- und Wett­be­werbs­ar­gu­men­te rei­chen offen­sicht­lich aus, um zu recht­fer­ti­gen, dass kosten­wirk­sa­me Grund­prin­zi­pi­en der Ver­fas­sung, Errun­gen­schaf­ten der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on, näm­lich die Unver­letz­lich­keit der Men­schen­wür­de, die Men­schen­rech­te und die freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, dem Inter­es­se einer pro­fi­ta­ble­ren Kapi­tal­ver­wer­tung unter­wor­fen wer­den. Sie rei­chen auch aus, Chan­cen­gleich­heit oder auch nur Chan­cen­ge­rech­tig­keit, den Schutz der Gesund­heit und das Recht auf Bil­dung, die eigent­lich auch den kol­lek­ti­ven Unter­neh­mer­inter­es­sen die­nen, den indi­vi­du­el­len Unter­neh­mer­frei­hei­ten unterzuordnen.

Obwohl die mei­sten Wirt­schafts- und Sozi­al­ge­set­ze auf die Inter­es­sen der Kapi­tal­eig­ner zuge­schnit­ten sind, wer­den sie demon­tiert und wenig respek­tiert. Wirt­schafts­ver­bre­chen, als der bewuss­te Ver­stoß gegen natio­na­le und – soweit im Ansatz vor­han­den – inter­na­tio­na­le Wirt­schafts- und Sozi­al­ge­set­ze, sind zu einem Kern­pro­blem der moder­nen sozi­al- und rechts­staat­lie­hen Demo­kra­tien gewor­den. Die Geset­ze sind nun ein­mal nicht mehr nur zum Schutz des bestehen­den kapi­ta­li­sti­schen Wirt­schafts­sy­stems da, der Sozi­al­staat ist nicht mehr nur »ideel­ler Gesamt­ka­pi­ta­list«, auch nicht mehr nur »Nacht­wäch­ter­staat«, der die Rei­chen vor Eigen­tums­fein­den, sei­en es Die­be oder Kom­mu­ni­sten, schützt.

Die Bun­des­re­pu­blik ist ein sozia­ler und demo­kra­ti­scher Rechts­staat. Die­ser Staat hat den Schutz wich­ti­ger, man soll­te hin­zu­fü­gen, auch über­le­bens­wich­ti­ger Rechts­gü­ter der Men­schen zu garan­tie­ren. Alle die­je­ni­gen, die die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung, die inne­re Sicher­heit oder das Wirt­schafts­sy­stem von der Stra­ße, den Werks­hal­len oder den Gewerk­schafts­zen­tra­len her bedroht glau­ben, soll­ten sich mit dem Gedan­ken ver­traut machen, dass die Gefahr mehr denn je von den demo­kra­tisch unkon­trol­lier­ten Chef­eta­gen unse­rer trans­na­tio­nal und an gel­ten­dem Recht vor­bei ope­rie­ren­den Unter­neh­men aus­geht. Denn wenn und soweit sich dort wirt­schafts­kri­mi­nel­le Prak­ti­ken zur Erzie­lung stän­dig grö­ße­rer Antei­le an ille­ga­len Gewin­nen durch­set­zen und nach den Geset­zen des Wett­be­werbs alle übri­gen Markt­teil­neh­mer in den Sog die­ses Stru­dels hin­ein­zie­hen, dann droht die­sem Wirt­schafts­sy­stem die Selbstzerstörung.

Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät, die unter dem wei­ten Man­tel staat­lich garan­tier­ter unter­neh­me­ri­scher Betä­ti­gungs­frei­heit statt­fin­det und sich unter wohl­wol­len­den Blicken von Finanz­ver­wal­tun­gen und Gerich­ten enor­me Wett­be­werbs­vor­tei­le und Extra-
pro­fi­te ver­schafft, geset­zes­treue Wett­be­wer­ber aus­schal­tet, rui­niert, pri­va­te Mono­po­li­sie­rung der Märk­te vor­an­treibt und die Kon­troll- und Regel­funk­tio­nen der Markt­me­cha­nis­men außer Kraft setzt, zer­stört die Grund­la­gen des poli­ti­schen Systems, auf das sich das Kapi­tal zu sei­ner meta­de­mo­kra­ti­schen Selbst­le­gi­ti­ma­ti­on beruft.

Die­ser Text ist ein gekürz­ter Aus­zug eines 1997 von Hans See und Eck­art Spoo, dem Grün­der die­ser Zeit­schrift, gemein­sam ver­fass­ten Arti­kels (der damals wie heu­te – mit den besten Geburts­tags­wün­schen – dem Schau­spie­ler Rolf Becker gewid­met ist). Wir drucken ihn anläss­lich des 30jährigen Bestehens der am 22. März 1991 in Hanau von Hans See und Die­ter Schenk gegrün­de­ten Bür­ger- und Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Busi­ness Crime Con­trol, aber auch wegen sei­ner hohen Aktua­li­tät hier ab. See und Spoo schrie­ben ihn als Ein­lei­tung zu dem von bei­den im Distel-Ver­lag her­aus­ge­ge­be­nen Doku­men­ta­ti­ons­band zum ersten Frank­fur­ter BCC-Kon­gress »Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät – Kri­mi­nel­le Wirt­schaft«. Die unge­kürz­te Ver­si­on kann man im Inter­net unter www.wirtschaftsverbrechen.de nachlesen.