Wirtschaftskriminalität ist allgegenwärtig und verursacht größere Schäden als alle übrigen Verbrechensarten – außer vielleicht Kriegen. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der unentdeckt bleibenden Delikte im Bereich der Wirtschaft besonders hoch ist. Erkennbar ist sie nur an den Symptomen der wirtschaftlichen Dauerkrise.
Doch nach öffentlicher und veröffentlichter Meinung sind es keineswegs die profitmaximierenden Herren in Nadelstreifen, die mit der »Tatwaffe Unternehmen« die innere Sicherheit der Staaten und Staatengemeinschaften gefährden. Gefährlich sind – sagen die Ordnungspolitiker, und viele glauben es nur allzu gern – die Ausländer, Asylsuchenden, die illegalen Zuwanderer und Schwarzarbeiter. Der ehemalige Innenminister Kanther: »Wer in Deutschland von Kriminalität redet, der muss von den Ausländern reden.« Vielleicht auch von korrupten Beamten. Das sorgt für Wahlkampfstimmung. Mit dem Thema Wirtschaftskriminalität dagegen ist offenbar kein Staat zu machen. Keine der großen Parteien zeigte sich bisher geneigt, die nachweisliche Gefährdung von Sozialstaat und Demokratie durch Wirtschaftskriminalität im Wahlkampf aufzugreifen.
Neuerdings wird vonseiten der Wirtschaft massiv versucht, Delikte, die Arbeiter und Angestellte zum Schaden ihres Arbeitgebers begehen, als Wirtschaftskriminalität darzustellen. Doch der Arbeitnehmer, der seinen Arbeitgeber beklaut, seine Versicherung betrügt, ist kein Wirtschaftskrimineller, er ist ein Dieb oder Betrüger.
Bei Wirtschaftskriminalität handelt es sich in der Regel um Kapitalbeschaffungs-, Kapitalverwertungs- und Kapitalsicherungskriminalität. Das aber heißt, es handelt sich um Bereicherungskriminalität der reichen, der etablierten »Oberwelt«. Sie ist die ganz alltägliche, für sensationelle Berichterstattung nur selten geeignete Kriminalität des Kapitals, die Kriminalität der Wirtschaft.
Die Wirtschaft ist – was gern vergessen oder als ganz selbstverständlich hingenommen wird – nach wie vor eine demokratiefreie Zone. In ihr herrscht Eigentumsrecht, nicht demokratisches Stimmrecht, hier gilt nach wie vor das Fürsten- oder Führerprinzip, nicht die repräsentative und schon gar nicht die direkte Demokratie. Freie Wirtschaft steht also in einem strukturellen Widerspruch zur sozialen und demokratischen Rechtsstaatlichkeit. Ein Widerspruch, der durch Tarifautonomie und andere Formen des ungleichen – aber gesetzlich geregelten – Tauziehens von Verbänden und Parteien um die richtigen Grenzwerte des Sozialen und Ökologischen nur unzureichend überbrückt werden kann. Die jeweiligen Grenzen der unternehmerischen Betätigungsfreiheit werden auf demokratischer Grundlage in Gesetzen festgeschrieben. Aber:
- Wirtschaftskriminalität ignoriert diese demokratisch zustande gekommenen Gesetze und macht grundsätzlich alles und alle zu ihren Opfern, um – neben den legalen – zusätzliche illegale Profite zu erzielen. Sie richtet sich in erster Linie gegen konkurrierende Wirtschaftsunternehmen, aber auch gegen Geschäftspartner, gegen Kapitalanleger, gegen Versicherungen, also gegen das Kapital selbst. Wenn das Argument Gehör findet, dass Wirtschaftskriminalität eine Gefahr darstelle, dann allenfalls mit Blick auf die Bedrohung der Einzelkapitale selbst oder auch auf das System.
- Wirtschaftskriminalität richtet sich auch gegen Arbeitnehmer. Denn die Kriminalität des Kapitals gegen das Kapital zerstört Arbeitsplätze, soziale Sicherungssysteme, ganze Sozialordnungen. Zu ihren Opfern gehören neben den Arbeitern und Angestellten auch die nicht immer mit diesen identischen Verbraucher, Patienten, Klienten, Verkehrsteilnehmer, Beschäftigte und Nutzer von Kultureinrichtungen, Beschäftigte und Mitglieder von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Kirchen.
- Wirtschaftskriminalität untergräbt daher auch nahezu unbemerkt die fundamentalen Rechts- und Sicherheitsgarantien der Gesellschaft. Sie ruiniert Staat und Kommunen, denn sie räubert – oft auch durch Wegsehen oder gar mit aktiver Unterstützung korrumpierter Politiker und höherer Beamter – die Staats- und Sozialkassen aus. Und sie setzt damit die für einen sozialen, demokratischen und ökologisch verantwortlichen Rechtsstaat unentbehrliche politische Steuerungskapazität bis zum Grad ihrer Unwirksamkeit herab. So verkümmert soziale, demokratische und ökologische Politik zu symbolischer Gesetzgebung, reduziert sich auf unverbindliche Versprechen, provoziert mit ihrer Untätigkeit und Unwirksamkeit die Sehnsucht nach dem starken Staat, am Ende gar dem Polizei- und Führerstaat.
- Wirtschaftskriminalität nimmt keine Rücksicht auf Grenzen und Regulierungen; sie beutet die Menschen aus – und die Natur. Wenn wir vom Gesetzesbruch der Wirtschaft sprechen, muss daran erinnert werden, dass die Vertreter der Wirtschaft vom Staat Rechtssicherheit, Schutz und Freiheit des Eigentums verlangen. In Vergangenheit und Gegenwart haben sie sich immer wieder Gesetze wie Maßanzüge zuschneiden lassen. Diese Gesetze finden sich vor allem im Sozial- und Wirtschaftsrecht. Aus der Sicht derer, die über kein oder nur unbedeutendes Kapital verfügen, ermöglichen oder fördern die meisten dieser Gesetze die völlig legale Bereicherung auf ihre Kosten und – teilweise – auch die Ausplünderung der mittelständischen Schichten durch Kreditgeber und Monopolisten.
Der den Unternehmern näher als den Arbeitnehmern stehende bürgerliche Rechtsstaat legalisierte und legalisiert – trotz überwundenem Dreiklassenwahlrecht und zugelassener Gewerkschaften, auch trotz propagierter sozialer Mittelstandspolitik – heute noch Wirtschaftsmethoden, die von den meisten Opfern, und nicht nur von diesen, als Verbrechen erlitten und gewertet werden. Die Arbeiterbewegung hatte der legalen Ausbeutung sozialstaatlich-demokratische Grenzen gezogen. Nachdem aber die klassenbewusste Arbeiterbewegung und der Realsozialismus besiegt sind, wittert Kapitalmacht wieder Morgenluft. Nun soll auch noch die gewinnschmälernde »Gefälligkeitsdemokratie« abgebaut werden, die die Unternehmer den Sozialpolitikern aller Parteien (außer der kapitalfrommen FDP) anlasten. Dazu muss das Globalisierungsargument herhalten, der sogenannte internationale Wettbewerb. Gemeint ist allerdings nicht der Leistungswettbewerb zwischen konkurrierenden Unternehmen um bessere Produkte, sondern die Senkung der in den ursprünglichen Industrienationen erreichten Demokratie-, Sozial- und Umweltstandards. Globalisierungs- und Wettbewerbsargumente reichen offensichtlich aus, um zu rechtfertigen, dass kostenwirksame Grundprinzipien der Verfassung, Errungenschaften der modernen Zivilisation, nämlich die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die Menschenrechte und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem Interesse einer profitableren Kapitalverwertung unterworfen werden. Sie reichen auch aus, Chancengleichheit oder auch nur Chancengerechtigkeit, den Schutz der Gesundheit und das Recht auf Bildung, die eigentlich auch den kollektiven Unternehmerinteressen dienen, den individuellen Unternehmerfreiheiten unterzuordnen.
Obwohl die meisten Wirtschafts- und Sozialgesetze auf die Interessen der Kapitaleigner zugeschnitten sind, werden sie demontiert und wenig respektiert. Wirtschaftsverbrechen, als der bewusste Verstoß gegen nationale und – soweit im Ansatz vorhanden – internationale Wirtschafts- und Sozialgesetze, sind zu einem Kernproblem der modernen sozial- und rechtsstaatliehen Demokratien geworden. Die Gesetze sind nun einmal nicht mehr nur zum Schutz des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems da, der Sozialstaat ist nicht mehr nur »ideeller Gesamtkapitalist«, auch nicht mehr nur »Nachtwächterstaat«, der die Reichen vor Eigentumsfeinden, seien es Diebe oder Kommunisten, schützt.
Die Bundesrepublik ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Dieser Staat hat den Schutz wichtiger, man sollte hinzufügen, auch überlebenswichtiger Rechtsgüter der Menschen zu garantieren. Alle diejenigen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die innere Sicherheit oder das Wirtschaftssystem von der Straße, den Werkshallen oder den Gewerkschaftszentralen her bedroht glauben, sollten sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Gefahr mehr denn je von den demokratisch unkontrollierten Chefetagen unserer transnational und an geltendem Recht vorbei operierenden Unternehmen ausgeht. Denn wenn und soweit sich dort wirtschaftskriminelle Praktiken zur Erzielung ständig größerer Anteile an illegalen Gewinnen durchsetzen und nach den Gesetzen des Wettbewerbs alle übrigen Marktteilnehmer in den Sog dieses Strudels hineinziehen, dann droht diesem Wirtschaftssystem die Selbstzerstörung.
Wirtschaftskriminalität, die unter dem weiten Mantel staatlich garantierter unternehmerischer Betätigungsfreiheit stattfindet und sich unter wohlwollenden Blicken von Finanzverwaltungen und Gerichten enorme Wettbewerbsvorteile und Extra-
profite verschafft, gesetzestreue Wettbewerber ausschaltet, ruiniert, private Monopolisierung der Märkte vorantreibt und die Kontroll- und Regelfunktionen der Marktmechanismen außer Kraft setzt, zerstört die Grundlagen des politischen Systems, auf das sich das Kapital zu seiner metademokratischen Selbstlegitimation beruft.
Dieser Text ist ein gekürzter Auszug eines 1997 von Hans See und Eckart Spoo, dem Gründer dieser Zeitschrift, gemeinsam verfassten Artikels (der damals wie heute – mit den besten Geburtstagswünschen – dem Schauspieler Rolf Becker gewidmet ist). Wir drucken ihn anlässlich des 30jährigen Bestehens der am 22. März 1991 in Hanau von Hans See und Dieter Schenk gegründeten Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control, aber auch wegen seiner hohen Aktualität hier ab. See und Spoo schrieben ihn als Einleitung zu dem von beiden im Distel-Verlag herausgegebenen Dokumentationsband zum ersten Frankfurter BCC-Kongress »Wirtschaftskriminalität – Kriminelle Wirtschaft«. Die ungekürzte Version kann man im Internet unter www.wirtschaftsverbrechen.de nachlesen.