Zu den absurdesten Streits des Jahres 2022 gehört die bis in die Linke hineinreichende deutsche Aufregung über den Gebrauch des Wortes »Wirtschaftskrieg« durch die Abgeordnete Sahra Wagenknecht in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag zu den Folgen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Der Streit ist nicht nur absurd, weil der vom Kinderbuchautor zum Wirtschaftslenker aufgestiegene Robert Habeck ihn gleich am Anfang dieses ökonomischen Feldzugs selbst genutzt hatte. Es ist auch deshalb absurd, weil im angelsächsischen Bereich – also der Befehlszentrale dieses Krieges – der Begriff mit völliger Selbstverständlichkeit gebraucht wird.
Der Brutalität, der Grenzen und der Zweischneidigkeit der Sanktionen als Waffe im Krieg gegen andere Nationen sind sich die herrschenden Kreise dort völlig im Klaren.
In einem ihrer wichtigsten Selbstverständigungsorgane, dem im London verlegten The Economist, erschien am 19. Februar 2022, also kurz vor dem russischen Eintritt in den damals schon seit acht Jahren tobenden Bürgerkrieg in der Ukraine, eine ausführliche Buchbesprechung. Das Blatt würdigte darin eine Neuerscheinung des an der New Yorker Cornell University lehrenden Nicholas Mulder. Die Cornell University ist eine der renommiertesten US-amerikanischen Privatuniversitäten, deren Wortmeldungen als Mitglied der sogenannten »Ivy League« gehört werden. Das Buch trägt einen Titel, dessen Nennung allein hierzulande gegen die neue Political Correctness verstoßen würde: »The Economic Weapon – The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War«, zu Deutsch also: »Die ökonomische Waffe – der Aufstieg der Sanktionen als Werkzeug des modernen Krieges«.
Was sich jetzt und vermutlich auch im Jahre 2023 praktisch in diesem »modernen Krieg« entfaltet, ist dort schon von diesem wichtigen Wirtschaftshistoriker theoretisch durchgearbeitet worden. Mulder ist kein Linker. Er hat keine Anklage gegen den Imperialismus geschrieben. Aber seine Ausführungen lassen keinen Zweifel aufkommen: Wirtschaftssanktionen sind historisch ein Beiprodukt der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus. Die zuweilen vorgebrachte unhistorische Behauptung, Sanktionen hätte es doch schon im Altertum gegeben, etwa in den Peloponnesischen Kriegen, weist er fundiert zurück. Im aufstrebenden Kapitalismus vor seiner imperialistischen Phase galt die sogenannte Rousseau-Portalis-Doctrine, die auf den Ausführungen von Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk über den »Gesellschaftsvertrag« aus dem Jahre 1762 fußten. Danach betraf ein Krieg nicht »die Beziehung zwischen einem Menschen und einem anderen, sondern die zwischen einem Staat und einem anderen«. Staaten könnten nur andere Staaten, nicht aber Menschen als Feinde haben. Entsprechend dieser Doktrin war es beispielsweise völlig selbstverständlich, dass während des Krimkrieges zwischen Großbritannien und Russland, der von 1854 bis 1856 dauerte, »Her Majesty’s Treasury« völlig selbstverständlich alle einmal mit der zaristischen Regierung eingegangenen Verpflichtungen penibel erfüllte.
Die Ausdehnung kriegerischer Handlungen auch auf ökonomische Beziehungen zwischen den Bürgern der befeindeten Nationen ist Mulder zufolge eine Erfindung aus der Zeit des US-amerikanischen Bürgerkrieges, bei dem die siegreichen Nordstaaten eine Blockade über die Baumwoll-Exporthäfen des Südens verhängt hatten, um sie ökonomisch zu schwächen. Beflügelt von diesem Erfolg etablierte sich um die vorletzte Jahrhundertwende dann die Systematisierung dieser Waffe im Krieg der kapitalistischen Nationen untereinander und gegen noch zu unterwerfende Nationen. Thayer Mahan, ein damals einflussreicher Vordenker der Seekriege erklärte frei heraus Sanktionen zu einer »Maßnahme, die genauso militärisch ist wie das Töten von Männern im Feld«.
Den Durchbruch der Sanktionen als Waffe im Krieg brachte der imperialistische Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 ein bis dahin für unvorstellbar gehaltenes Leid über die Menschen der kriegführenden Nationen brachte. Diese vier Jahre brachten auch andere Erfindungen im Töten von Menschen diesseits und jenseits der Frontlinien hervor – die Angriffe mit Flugzeugen im gegnerischen Hinterland etwa oder die Gaskriege. Mulder listet in seinem Werk die Folgen dieser damals auch neuen Waffen auf und kommt zu dem nüchternen Schluss: »Wenn wir die drei wichtigsten gegen Zivilisten gerichteten Waffen der Periode zwischen den Kriegen – Luftangriffe, Gaskrieg und ökonomische Blockaden – miteinander vergleichen, ist klar, dass die Wirkung der Blockaden bei Weitem die tödlichste ist. Im 1. Weltkrieg starben infolge der Hungerwellen und Krankheiten, die durch Blockaden verursacht wurden, in Zentraleuropa zwischen 300.000 und 400.000 Menschen und noch einmal eine halbe Million im Osmanischen Reich infolge der Englisch-Französischen Blockade.«
In dieser Traditionslinie liegen die Wirtschaftskriege des Wertewestens, die sich jetzt entfalten. Dabei war und ist auch eines klar: Wirtschaftskriege nach außen sind immer auch Wirtschaftskriege nach innen. Das materialisiert sich wie schon im 20. Jahrhundert auch im 21. Jahrhundert vor allem durch Inflationsprozesse, die von den Wirtschaftskriegen ausgelöst werden. Die deutsche Hyperinflation der 1920er Jahre ist genauso unerklärlich ohne den 1. Weltkrieg wie die Inflation der 1970er Jahre ohne den Vietnam-Krieg. Sogenannte kleine Kriege führen zu kleinen Inflationsschüben, große Kriege zu großen. Die jetzt diesem Volk aufgezwungene Inflation von rund 10 Prozent ist, wenn sich der Krieg gegen Russland oder gar China ausweitet, nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt