»Lerne, lerne, lerne«, das waren die Worte, mit denen mich üblicherweise mein Großvater verabschiedete, wenn ich gemeinsam mit meinem Studienfreund Sonntagabends ins südhessische Darmstadt aufbrach. Die nächste Studienwoche wartete; oft mussten noch Übungen vervollständigt werden – aber manchmal hatten wir auch noch Zeit, den späten Sonntagabend in einer nahe der »Orangerie« gelegenen Kneipe zu diskutieren oder einfach abzuhängen.
Mein Großvater war ein stiller, etwas hagerer Mensch, der ursprünglich den Schreinerberuf erlernt hatte. Nach 8 Jahren Kriegsgefangenschaft auf der Krim kam er schließlich zu seiner Frau zurück – der gemeinsame Sohn (mein Vater) war inzwischen 12 Jahre; er hatte aber bei der Wiederbegegnung keine Erinnerung mehr an meinen Großvater. Über den Krieg hat Großvater nie mehr geredet; meine Großmutter meinte einmal, sie hätten über die ganze Gefangenschaft – wenn überhaupt – nur wässrige Tomatensuppe in ihre Blechtassen geschüttet bekommen. Mein Großvater hatte als Kind eine eher krakelige Schrift, weshalb er in die letzte Bank in der Dorfschule verwiesen wurde. Zwar konnte er ausgezeichnet rechnen, aber sein Wesen war – da er von zierlicher Statur und eher den kleinen Dingen zugewandt war – nicht dazu geeignet, ihn in die Reihen der Lieblingsschüler aufrücken zu lassen.
Mein Großvater mütterlicherseits war in Norwegen gelandet – in einem Dorf jenseits des Aufmerksamkeitshorizontes der Kommandierenden. Sie hatten es irgendwie geschafft, so zu tun, als wäre kein Krieg. Freundschaften entstanden, und der Sohn der Familie, wo dieser Großvater sich selbst stationiert hatte, kam bald nach dem Krieg als Gast in unser hessisches Bauerndorf, das ihm als Basislager diente, um von dort aus sein Studium in Heidelberg zu betreiben.
Aber dann hatte ich meinen väterlichen Großvater doch einmal nach dem Krieg gefragt; auf der Treppe, er war inzwischen pensioniert. Er schaute mich mit etwas gläsernen Augen an und blickte dann aus dem Fenster – lange. Dann sagte er diese Worte zu mir: »Wir waren zu dumm …«
Er war inzwischen prämierter Taubenzüchter und hatte den Tauben einen geräumigen Schlag über seiner Werkstatt gezimmert. Oft ging ich mit ihm abends zum Füttern – da zeigte er mir die Geheimnisse seines Zuchterfolgs. Neben Kräutern und anderem Allerlei mischte er den Körnern immer ein paar Tropfen selbstgemachten Sirup bei – davon gab es dann für uns beide auch immer einen Löffel. Auch wurde er zu einem gern gemochten Sänger – hatte er doch schon als Junge neben den Zahlen auch die Noten lesen gelernt.
Inzwischen hatte ich einiges in Erfahrung gebracht; insbesondere, wie schnell die – teils herkommandierten – Nazi-Anhänger in unserem kleinen Dorf damals die Oberhand gewannen. Dann kam der Krieg, und nach Kriegsende regenerierte sich das Dorf hauptsächlich in Eigenregie.
Erst über 30 Jahre nach meinem Gespräch mit meinem Großvater auf der Treppe – beide Großväter sind lange gestorben – bringt mich der damalige Radebeuler Pfarrer Michael Schleinitz in Berührung mit Arbeiten von Dietrich Bonhoeffer. In dem Essay »Nach Zehn Jahren« – der wie durch ein Wunder im Dach versteckt von den Durchsuchungen der Gestapo unentdeckt blieb – entwickelt Bonhoeffer eine tiefgehende Deutung von dem, was er als »Dummheit« bezeichnet. Er beschreibt, wie sich Macht, Einfluss und Kontrolle dadurch manifestieren, indem durch ein spezifisches Verhalten andere Menschen quasi »infiziert« werden. Jede äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Natur, schlägt die Menschen mit Dummheit. Darin sind auch intellektuelle Menschen eingeschlossen, die dadurch sogar eine außerordentliche Beweglichkeit entwickeln können. Keine der neueren Wissenschaften – ob Psychologie, Soziologie oder auch die Neurowissenschaft – hat dieses Phänomen bisher erfassen können. Erst langsam zeichnen sich neue Perspektiven ab.
Mit einem Mal erinnerte ich mich wieder an die Worte meines Großvaters. Ich bin nicht sicher, ob er jemals von Dietrich Bonhoeffer gehört hatte. Ich selbst fühlte mich plötzlich durch Bonhoeffers Worte und durch das Leben meines Großvaters auf neue Weise berührt und tief verbunden.
Dummheit lässt sich, so Bonhoeffer, nicht durch Belehrung oder Erklärung beseitigen. Vielmehr wird dem Menschen durch Macht und »bedeutsame Worte« seine eigene Selbständigkeit sukzessive geraubt, und er wird dadurch – unabhängig von seinem Intellekt – zum Dummen. Nur ein Akt der eigenen, inneren Befreiung hilft aus der Dummheit heraus.
Ich lese heute viele Texte, die das Böse oder das Dumme anderen Menschen zuschreiben. Auch beziehen sich Politiker wieder zusehends auf »moralische Grundsätze« zur Rechtfertigung ihres Handelns.
Eher wenige Texte berichten von der Möglichkeit der eigenen Befreiung. Das sind dann aber immer Quellen echter Inspiration. Politikern fällt es dabei genauso schwer, die Notwendigkeit ihrer eigenen Entwicklung und die Diskussion ihrer eigenen Widersprüche als etwas Positives zu bewerten. Dass dies so schwer ist und oft zur Herabsetzung unserer Politiker genutzt wird, dazu trägt auch unsere derzeitige Medienkultur bei.
Wir können aber dennoch Hoffnung haben. Dass die Menschheit Menschen wie Dietrich Bonhoeffer hervorgebracht hat, ist kein Zufall. Vielleicht gelingen uns ja vermehrt Momente der Besinnung, die etwas von dem zur Erscheinung bringen, was jeder von uns in sich birgt: nämlich nicht den intellektuell gewieften Taktiker, sondern den »schlichten, einfachen, geraden Menschen« (Bonhoeffer). Denn unsere eigene Widerstandskraft scheint durch die Kraft von etwas zu leben, was jenseits des Trubels dieser Zeit – regelrecht in einer anderen Welt – liegt; nämlich der Fähigkeit, uns gegenseitig berühren zu können. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Ideen und Einsichten von Dietrich Bonhoeffer und vielen anderen am Leben zu erhalten. Vielleicht war alles, was bisher auf diesem Planeten geschehen ist, nicht umsonst. Die Antwort dazu liegt dabei in jedem von uns verborgen. Frieden ist da, sobald wir es zulassen, im Gegenüber das entdecken, was uns selbst bereichern könnte. Auf den dann nötigen zweiten Schritt scheint es aber anzukommen. Den müssen wir dann selbst tun.
(Zugedacht an Michael Schleinitz und Gerald Hüther)