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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wir waren viel draußen

Der erste Genie­streich ist der Titel; der zwei­te, dass der Text hält, was die Über­schrift ver­spricht, und der drit­te sind die Fußnoten.

Es beginnt harm­los. Drei Freun­din­nen tref­fen sich in der Woh­nung der einen, im ach­ten Stock mit Blick auf den Lui­sen­städ­ti­schen Kanal in Ber­lin. Sie gucken aus dem Osten von oben auf den Westen her­ab und machen damit das Gegen­teil davon, was gemein­hin auf den Spei­se­zet­teln der Redak­tio­nen steht. Aber ganz so ein­fach ist es nicht, der Westen inter­es­siert die Freun­din­nen heu­te nicht, sie gehen nach dem Rau­chen ins Wohn­zim­mer – und mit der Beschrei­bung der elter­li­chen Woh­nun­gen beginnt das Buch. Schrank­wand und Couch­gar­ni­tur, lila Leucht­stoff­röh­ren und eige­nes Zim­mer geben den Grund­ton; Cabi­net und Wein­brand­boh­nen die Ober­tö­ne. Zu Hau­se eben. Zu Hau­se ist Ort, zu Hau­se ist Zeit.

Die drei sol­len sich Näch­te um die Ohren schla­gen und über den idea­len Staat nach­den­ken, lau­tet der Auf­trag des Ver­la­ges. Ein sol­ches Unter­fan­gen ist nüch­tern nicht zu mei­stern. Die Orte und die schön­gei­sti­gen Geträn­ke sol­len wech­seln, so ist der Plan. Dass es einen sol­chen gibt, weist die drei nicht nur als Freun­din­nen, son­dern auch als Kol­le­gin­nen aus. Sie sind Schrift­stel­le­rin­nen, ihre Bücher sei­en jeder Frau und jedem Mann ans Herz gelegt! War­um? Weil ihre Tex­te unter­hal­ten ohne Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur zu sein, weil sie berüh­ren, ohne trä­nen­rüh­rig vor sich her zu schwie­meln, und ins­be­son­de­re, weil, was sie zu Papier brin­gen, über den Anlass ihres Schrei­bens hin­aus­geht. Die gro­ße Geste, das groß­mäu­li­ge Schwa­dro­nie­ren im Feuil­le­ton ist ihre Sache nicht. Aber die genaue Beob­ach­tung, das dia­lek­ti­sche Beden­ken unse­rer Welt und der fein zise­lier­te Text – da kom­men sie sich, da kom­men wir uns nahe.

Es beginnt harm­los, in einem wohl­tu­end leich­ten Ton. Annett: »An dem Abend (Syl­ve­ster) nah­men sich fast alle Gäste vor, mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren. Da habe ich gedacht: Och nö, dann fang ich mal an. Ich war die Ein­zi­ge, die ihren Vor­satz ein­ge­löst hat.« Das Lako­ni­sche machts. In die­sen Zei­len stecken Humor und Witz – bit­te nicht ver­wech­seln –, Iro­nie und etwas, was sel­ten gewor­den ist: Selbst­iro­nie. Die Damen, die eine gebo­ren in Dres­den, die näch­ste in Mag­de­burg, die drit­te in Rostock, alle in Ber­lin zu Hau­se, erzäh­len sich ihr Leben und ihre Träu­me. Sie neh­men ernst und auf die Schip­pe. Oft ist nicht sicher, wie sie etwas genom­men haben wol­len, las­sen es in der Schwe­be, und uns bleibt das Ver­gnü­gen, uns unse­ren Reim selbst machen zu dür­fen. Und ein Ver­gnü­gen ist es alle­mal. Und wenn die drei dann, im zwei­ten Kapi­tel, in der zwei­ten Nacht, all die Kli­schees über Ost­frau­en aus­packen, die gemein­hin über Land gei­stern, wird es wun­der­sam irrwitzig.

Ich wer­de einen Teu­fel tun und hier aus­brei­ten, was alles zwi­schen den Deckeln des Buches zu fin­den ist – das sol­len Sie selbst ent­decken. Aber eini­ge Kost­pro­ben müs­sen sein: In einer Nacht, sie trin­ken Gin Tonic, neh­men sich die Autorin­nen das Flug­blatt der Lila Offen­si­ve zum 4. Novem­ber 1989 vor. Sei­ne Aktua­li­tät erstaunt, bes­ser: erschüt­tert. »Die Ost­frau­en, beson­ders die geschie­de­nen, hat­ten mit der staat­li­chen Ein­heit die Arsch­kar­te gezo­gen.« Ihren Stand von vor 1990 wie­der­her­zu­stel­len, wird trotz Gen­dern in die­ser ver­schwie­mel­ten Repu­blik auch in näch­ster Zeit nicht gelin­gen. Schon allein des­halb, weil der Denk­an­satz der Lila Offen­si­ve radi­kal war und davon aus­ging, dass die Ver­än­de­rung der Gesell­schaft nur von Frau­en und Män­nern gemein­sam vor­an­ge­trie­ben wer­den kann. Ein ähn­li­ches Bild bei der Dis­kus­si­on des Ver­fas­sungs­ent­wur­fes des Run­den Tisches. Gegen die­sen Ent­wurf liest sich das Grund­ge­setz der BRD mit sei­nen ver­schwom­me­nen For­mu­lie­run­gen wie ein Miet­ver­trag fürs Wol­ken­kuckucks­heim. Schon allein, dass der Ent­wurf des Run­den Tisches Rech­te wie das auf Woh­nen, das Recht auf kosten­lo­se Bil­dung, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Betreu­ung im Alter fest­schreibt, ist natür­lich eine ost­deut­sche Frech­heit und stand den armen Brü­dern und Schwe­stern nicht zu. Die soll­ten erst mal arbei­ten ler­nen. Und zwar für Kapi­ta­li­sten. Denn dar­um geht es im Grun­de: um die Art und Wei­se von Pro­duk­ti­on und Akku­mu­la­ti­on; die­se bestimmt letzt­lich die Ver­fasst­heit des Staa­tes BRD.

Mein Lieb­lings­ka­pi­tel ist das Pro­to­koll der Klau­sur der fünf­ten Nacht, die am Tag ablief. Gum­mi­band­hop­send schwa­dro­nie­ren die Autorin­nen lau­nig über Dia­lek­tik. Die bei­den phi­lo­so­phi­schen Kate­go­rien Hop­se und Dia­lek­tik mit­ein­an­der zu ver­knüp­fen ist ver­we­gen und hat Hin­ter­sinn. Zwar hät­te ich mir bei dem The­ma ein wenig mehr Akku­ra­tes­se und Grund­wis­sen gewünscht ― es hol­pert doch ein bis­sel sehr durchs Gehe­ge –, doch Annett Grösch­ner sor­tiert zuwei­len ein biss­chen, was der Sache gut­tut. Einer­seits ist es erstaun­lich, wie wenig Autorin­nen über die Grund­la­gen ihres Den­kens wis­sen; and­rer­seits, wenn das Kapi­tel dazu bei­trägt, die Nase mal wie­der ins Buch zu stecken, dann ist was erreicht.

Es gibt auch Lieb­lings­fo­tos, das sind die vom Ende der zwei­ten Nacht: Die Frau­en tan­zen »ganz steif und nie­der­ge­drückt von der Schwer­kraft der Ver­hält­nis­se« die­se Ver­hält­nis­se weg. Hic rho­dus, hic salta!

Dass der Text ange­sichts der Ver­hält­nis­se ins Bana­le abrutscht, um über den Gebrauch des Pro­no­mens »man« nach­zu­den­ken, ist scha­de. Ein Blick in den Grimm hät­te genügt und die Ver­knüp­fung »man = Mann« ad absur­dum zu füh­ren und um die kon­kre­te Bedeu­tung »homo« = Mensch, zu wis­sen. Stammt aus dem alt­hoch­deut­schen, ist seit über zwei­tau­send Jah­ren Pra­xis und hat nichts mit Geschlecht zu tun.

Ähn­lich unprä­zi­se ist Peg­gy Mäd­ler, wenn sie schreibt, dass ihre Mut­ter Lehr­amt stu­dier­te. Das ging in der DDR nicht, weil es kei­ne Beam­ten gab. Nicht einen. Die DDR war eine Repu­blik der Arbei­ter und Ange­stell­ten. War­um ich so pin­ge­lig bin? Weil sol­che Bemer­kun­gen von Leu­ten, die durch genaue Unkennt­nis der Din­ge glän­zen, nach­ge­plap­pert und von ande­ren gern geglaubt wer­den, weil sie ins Welt­bild passen.

Was die drei Frau­en aber mit ihrem Buch lei­sten, ist nichts weni­ger, als sich in den Kanon derer ein­zu­rei­hen, die die Deu­tung über unser Leben zu uns zurück­ho­len. Dass tun sie mit Freu­de und Esprit und mit Ernst­haf­tig­keit und Fak­ten. Bleibt die Fra­ge nach der Behaup­tung: Wir waren viel drau­ßen. Ein Psy­cho­lo­ge erzähl­te Annett den Unter­schied zwi­schen Pati­en­ten aus dem Westen und Osten. Die West­pa­ti­en­ten legen sich auf die Couch und begin­nen auf ihre Mut­ter zu schimp­fen. Die Pati­en­ten aus dem Osten sagen: Mei­ne Kind­heit war nor­mal, wir waren viel draußen.

Als Annett nach dem Gespräch über den Ver­fas­sungs­ent­wurf resi­gniert fragt: »Was hats jenützt? Nüscht«, ant­wor­tet Peg­gy trot­zig: »Ach Mensch, wir unter­hal­ten uns hier und tra­gen das wei­ter, das ist über­haupt nicht weg!«

Nee, ist nicht weg!

Annett Grösch­ner, Peg­gy Mäd­ler, Wen­ke See­mann: Drei ost­deut­sche Frau­en betrin­ken sich und grün­den den idea­len Staat, Carl Han­ser Ver­lag 2024, 320 S., 22 €.