Der erste Geniestreich ist der Titel; der zweite, dass der Text hält, was die Überschrift verspricht, und der dritte sind die Fußnoten.
Es beginnt harmlos. Drei Freundinnen treffen sich in der Wohnung der einen, im achten Stock mit Blick auf den Luisenstädtischen Kanal in Berlin. Sie gucken aus dem Osten von oben auf den Westen herab und machen damit das Gegenteil davon, was gemeinhin auf den Speisezetteln der Redaktionen steht. Aber ganz so einfach ist es nicht, der Westen interessiert die Freundinnen heute nicht, sie gehen nach dem Rauchen ins Wohnzimmer – und mit der Beschreibung der elterlichen Wohnungen beginnt das Buch. Schrankwand und Couchgarnitur, lila Leuchtstoffröhren und eigenes Zimmer geben den Grundton; Cabinet und Weinbrandbohnen die Obertöne. Zu Hause eben. Zu Hause ist Ort, zu Hause ist Zeit.
Die drei sollen sich Nächte um die Ohren schlagen und über den idealen Staat nachdenken, lautet der Auftrag des Verlages. Ein solches Unterfangen ist nüchtern nicht zu meistern. Die Orte und die schöngeistigen Getränke sollen wechseln, so ist der Plan. Dass es einen solchen gibt, weist die drei nicht nur als Freundinnen, sondern auch als Kolleginnen aus. Sie sind Schriftstellerinnen, ihre Bücher seien jeder Frau und jedem Mann ans Herz gelegt! Warum? Weil ihre Texte unterhalten ohne Unterhaltungsliteratur zu sein, weil sie berühren, ohne tränenrührig vor sich her zu schwiemeln, und insbesondere, weil, was sie zu Papier bringen, über den Anlass ihres Schreibens hinausgeht. Die große Geste, das großmäulige Schwadronieren im Feuilleton ist ihre Sache nicht. Aber die genaue Beobachtung, das dialektische Bedenken unserer Welt und der fein ziselierte Text – da kommen sie sich, da kommen wir uns nahe.
Es beginnt harmlos, in einem wohltuend leichten Ton. Annett: »An dem Abend (Sylvester) nahmen sich fast alle Gäste vor, mit dem Rauchen aufzuhören. Da habe ich gedacht: Och nö, dann fang ich mal an. Ich war die Einzige, die ihren Vorsatz eingelöst hat.« Das Lakonische machts. In diesen Zeilen stecken Humor und Witz – bitte nicht verwechseln –, Ironie und etwas, was selten geworden ist: Selbstironie. Die Damen, die eine geboren in Dresden, die nächste in Magdeburg, die dritte in Rostock, alle in Berlin zu Hause, erzählen sich ihr Leben und ihre Träume. Sie nehmen ernst und auf die Schippe. Oft ist nicht sicher, wie sie etwas genommen haben wollen, lassen es in der Schwebe, und uns bleibt das Vergnügen, uns unseren Reim selbst machen zu dürfen. Und ein Vergnügen ist es allemal. Und wenn die drei dann, im zweiten Kapitel, in der zweiten Nacht, all die Klischees über Ostfrauen auspacken, die gemeinhin über Land geistern, wird es wundersam irrwitzig.
Ich werde einen Teufel tun und hier ausbreiten, was alles zwischen den Deckeln des Buches zu finden ist – das sollen Sie selbst entdecken. Aber einige Kostproben müssen sein: In einer Nacht, sie trinken Gin Tonic, nehmen sich die Autorinnen das Flugblatt der Lila Offensive zum 4. November 1989 vor. Seine Aktualität erstaunt, besser: erschüttert. »Die Ostfrauen, besonders die geschiedenen, hatten mit der staatlichen Einheit die Arschkarte gezogen.« Ihren Stand von vor 1990 wiederherzustellen, wird trotz Gendern in dieser verschwiemelten Republik auch in nächster Zeit nicht gelingen. Schon allein deshalb, weil der Denkansatz der Lila Offensive radikal war und davon ausging, dass die Veränderung der Gesellschaft nur von Frauen und Männern gemeinsam vorangetrieben werden kann. Ein ähnliches Bild bei der Diskussion des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches. Gegen diesen Entwurf liest sich das Grundgesetz der BRD mit seinen verschwommenen Formulierungen wie ein Mietvertrag fürs Wolkenkuckucksheim. Schon allein, dass der Entwurf des Runden Tisches Rechte wie das auf Wohnen, das Recht auf kostenlose Bildung, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Betreuung im Alter festschreibt, ist natürlich eine ostdeutsche Frechheit und stand den armen Brüdern und Schwestern nicht zu. Die sollten erst mal arbeiten lernen. Und zwar für Kapitalisten. Denn darum geht es im Grunde: um die Art und Weise von Produktion und Akkumulation; diese bestimmt letztlich die Verfasstheit des Staates BRD.
Mein Lieblingskapitel ist das Protokoll der Klausur der fünften Nacht, die am Tag ablief. Gummibandhopsend schwadronieren die Autorinnen launig über Dialektik. Die beiden philosophischen Kategorien Hopse und Dialektik miteinander zu verknüpfen ist verwegen und hat Hintersinn. Zwar hätte ich mir bei dem Thema ein wenig mehr Akkuratesse und Grundwissen gewünscht ― es holpert doch ein bissel sehr durchs Gehege –, doch Annett Gröschner sortiert zuweilen ein bisschen, was der Sache guttut. Einerseits ist es erstaunlich, wie wenig Autorinnen über die Grundlagen ihres Denkens wissen; andrerseits, wenn das Kapitel dazu beiträgt, die Nase mal wieder ins Buch zu stecken, dann ist was erreicht.
Es gibt auch Lieblingsfotos, das sind die vom Ende der zweiten Nacht: Die Frauen tanzen »ganz steif und niedergedrückt von der Schwerkraft der Verhältnisse« diese Verhältnisse weg. Hic rhodus, hic salta!
Dass der Text angesichts der Verhältnisse ins Banale abrutscht, um über den Gebrauch des Pronomens »man« nachzudenken, ist schade. Ein Blick in den Grimm hätte genügt und die Verknüpfung »man = Mann« ad absurdum zu führen und um die konkrete Bedeutung »homo« = Mensch, zu wissen. Stammt aus dem althochdeutschen, ist seit über zweitausend Jahren Praxis und hat nichts mit Geschlecht zu tun.
Ähnlich unpräzise ist Peggy Mädler, wenn sie schreibt, dass ihre Mutter Lehramt studierte. Das ging in der DDR nicht, weil es keine Beamten gab. Nicht einen. Die DDR war eine Republik der Arbeiter und Angestellten. Warum ich so pingelig bin? Weil solche Bemerkungen von Leuten, die durch genaue Unkenntnis der Dinge glänzen, nachgeplappert und von anderen gern geglaubt werden, weil sie ins Weltbild passen.
Was die drei Frauen aber mit ihrem Buch leisten, ist nichts weniger, als sich in den Kanon derer einzureihen, die die Deutung über unser Leben zu uns zurückholen. Dass tun sie mit Freude und Esprit und mit Ernsthaftigkeit und Fakten. Bleibt die Frage nach der Behauptung: Wir waren viel draußen. Ein Psychologe erzählte Annett den Unterschied zwischen Patienten aus dem Westen und Osten. Die Westpatienten legen sich auf die Couch und beginnen auf ihre Mutter zu schimpfen. Die Patienten aus dem Osten sagen: Meine Kindheit war normal, wir waren viel draußen.
Als Annett nach dem Gespräch über den Verfassungsentwurf resigniert fragt: »Was hats jenützt? Nüscht«, antwortet Peggy trotzig: »Ach Mensch, wir unterhalten uns hier und tragen das weiter, das ist überhaupt nicht weg!«
Nee, ist nicht weg!
Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat, Carl Hanser Verlag 2024, 320 S., 22 €.