Will Russland Europa überrollen?
Um die Fragen zu beantworten, ob Russland imperialistisch, ob es nationalistisch ist, ob es expandieren oder gar Europa überrollen wolle, reicht es nicht, sich in abstrakten Definitionen zu ergehen, wie das gegenwärtig in der anti-russischen Propaganda geschieht. Notwendig ist, von der Wahrnehmung des Gewordenen auszugehen und die Analyse des Konkreten zu versuchen. Das soll hier in aller Kürze in ein paar Thesen geschehen.
Erstens: Russland ist nicht Europa. Russland ist aber auch nicht Asien. Russland ist das Gebiet zwischen Europa und Asien – ökonomisch, kulturell, politisch, geografisch. Von dieser Situation müssen wir ausgehen, wenn wir Russland verstehen und mit ihm kooperieren wollen. Diese Zwittersituation bestimmt den Charakter dieses Landes.
Alle Versuche, dieses Gebiet für Europa, im weiteren Sinne für den Westen zu vereinnahmen, sind in der Geschichte fehlgeschlagen. Das gilt in den letzten Jahrhunderten für die Versuche Napoleons, für die Versuche der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg, für die Versuche Hitlers; und es gilt auch für den Versuch, den die Amerikaner nach dem Zerfall der Sowjetunion unternommen haben, das Land ökonomisch zu erobern. Diese Tatsachen beschreiben den Grundkonflikt zwischen Europa, dem Westen und Russland, von dem bei der weiteren Betrachtung auszugehen ist.
Zweitens: Russland ist kein Nationalstaat europäischer Prägung, genauer, kein einheitlicher Nationalstaat unter ökonomischer Dominanz, der als geschäftsführender Ausschuss des Kapitals die optimalen Bedingungen für dessen Expansion schafft. Russland ist ein Vielvölkerstaat, ein Vielvölkerorganismus, dessen bestimmendes Organisationsprinzip die Integration verschiedener Völker durch das Moskauer Zentrum ist.
Drittens schließlich: Russland hat keinen Kapitalismus nach westlichem Muster hervorgebracht, auch in der Sowjetzeit nicht, auch heute nicht, sondern eben eine hybride Mischung von staatlichem Monopolkapitalismus zum einen und autarken Selbstversorgungsstrukturen, man könnte geradezu sagen, Ressourcenverwaltungsstrukturen zum anderen. Böswillige Stimmen sprechen von Russland als einer Tankstelle der Welt mit Zugang zum Finanzmarkt.
Mein Bild für dies alles ist ein Wagenrad mit Nabe und Speichen, in dem Zentralismus hier und herrschaftsferne Elemente da durch personalistische Beziehungen im Gleichgewicht gehalten werden. Traditionell waren das die zaristische Selbstherrschaft zum einen und autonome, tendenziell sogar anarchische Strukturen in der Weite des Landes zum anderen, aktuell sind es der Präsident und private oligarchische Strukturen und Regionen. Theoretisch kann diese Struktur Bonapartismus genannt werden, aktuell auch autoritärer Liberalismus. Der Präsident als »Schiedsrichter«, der den Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufrechterhält. Gewissermaßen Wahlmonarchie. Wer in Russland unterwegs ist, kann diesen Widerspruch zwischen autoritärem Zentrum und geradezu anarchischem Liberalismus täglich erleben, wenn es heißt: Russland ist groß, Moskau ist weit.
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Ankündigung, die Putin bei seinem Amtsantritt 2001 vorlegte. Er benannte zwei Ziele:
Erstens: Er wolle die innere die Stabilität des Staates wiederherstellen, die sich unter Jelzin im Zuge der Privatisierung und Kolonisierung des Landes durch die USA aufgelöst hatte. Putin kündigte eine »Diktatur des Gesetzes« an – eine eigene Ordnung statt fremder.
Zweitens: Er wolle Russland als Integrationsknoten in Eurasien wiederherstellen, wie es seiner historischen Rolle entspräche. Damit griff er weit hinter die Sowjetunion in die Geschichte des russischen Zarismus zurück. Das war eine konservative und zugleich progressive Orientierung. Mein Stichwort dafür ist: autoritäre Modernisierung.
Diese Ansage war aber mitnichten ein imperiales Programm im Sinne einer kolonialen Ausweitung der Herrschaft russischen Kapitals, gar einer Eroberung Europas. Es war ein Programm der Restaurierung zur Wiederherstellung der staatlichen Souveränität des Landes und seiner integrativen Rolle im eurasischen Raum. Es war ein defensives Programm der Rückkehr Russlands zu sich selbst, das jedoch, das ist zu betonen, die aktive Kooperation mit der sich herausbildenden multipolaren Welt mit einschloss.
Man erinnere sich an die Liebeswerbung Putins 2001 im deutschen Bundestag. Von Expansion keine Spur. Auch die folgenden Jahre sind nicht von russischer Expansion gekennzeichnet, sondern, im Gegenteil, durch ständig wiederholte Angebote der Kooperation zur Herausbildung einer multipolaren, neuen Neuordnung im Rahmen der Vereinten Nationen. Expandiert und tendenziell kolonisiert haben dagegen die EU, die Nato, die USA, also die westlichen Mächte bis direkt vor die Tür Russlands. Dies alles beschreibt, wenn man hinter die Propaganda schaut, eine defensive Grundposition, in der Russland sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion befindet.
Putin steht also als Person mit seinem Antritt dafür, Russland nicht weiter zu einer Kolonie der amerikanischen Expansion und zum Teil der amerikanischen One-World-Konzeption werden zu lassen, wie es unter Jelzin gelaufen war, sondern Russland, im Gegenteil, zum Impulsgeber für die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstehende, multipolare Weltordnung zu machen, die den amerikanisch dominierten One-World-Globalismus ablösen könnte. Das ist die politische Dimension der neueren Geschichte.
Die Ukraine spielt darin die Rolle, die Brzezinski ihr zugewiesen hat, nämlich Stoßkeil dagegen zu sein, dass Russland wieder ein Imperium werden könne. Dazu kann man sagen: Man kann Russland in seiner Integrationsrolle durchaus Imperium nennen. Aber es ist kein Imperialismus westlichen Typs, der sich auf Kapitalexport und aggressive militärische Dominanz über kolonisierte Gebiete außerhalb des eigenen Staatsgebietes stützt. Russland ist ein integratives Modell, das kolonisierte Gebiete in seinen Organismus integriert hat, während es nach außen hin kooperiert. Es ist ein Modell, das in der Sowjetzeit dazu geführt hat, in der Auseinandersetzung mit dem Westen/USA in massiver Weise antikoloniale bzw. nachkoloniale Bewegungen zu unterstützen. Daran hat sich die Sowjetunion zweifellos übernommen. Jetzt wirkt diese Politik der Union jedoch als Unterstützung aus diesen Ländern auf Russland zurück; viele dieser Länder tragen den Sanktionskrieg gegen Russland nicht mit.
Aber in dem Maße, in dem die Ansage des nachsowjetischen Russlands, Impulsgeber für die Herausbildung einer multipolaren Welt sein zu wollen, vom Westen nicht nur nicht gehört wurde, sondern genau dieser Impuls, diese Rolle Russlands im Interesse der Aufrechterhaltung der One-World-Dominanz vom Westen systematisch bekämpft wurde, hat sich die Situation hergestellt, die wir heute haben, nämlich: dass Russland sich wehrt, dass es seine Souveränität verteidigt, dass es sich abschottet gegen den Globalisierungsanspruch des Westen, während es gleichzeitig seine Türen für die Entwicklung multipolarer Beziehungen öffnet.
Was die skizzierte Entwicklung mit der inneren Situation Russlands macht, ob es sie öffnet oder weiter ins Autoritäre treibt, ist eine zweite, sehr wichtige Frage. Diese Frage muss man stellen – aber im Bewusstsein der äußeren Bedrohung, der Russland vom Westen her ausgesetzt ist.
Der vorliegende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Referats, das bei einem »Webinar« im Rahmen der Friedensbewegung am 07.07.2022 unter dem Titel »Russland – autokratisch, nationalistisch, imperialistisch?« vorgetragen wurde.
Dazu Kai Ehlers: »Russland – Herzschlag einer Weltmacht«, über www.kai-ehlers.de.