Vor etlichen Jahren machten wir ein kleines Buch mit dem Titel »Was von der DDR blieb«. Da es im Eulenspiegel Verlag herauskam, war es nicht ganz bierernst gemeint. Das Cover zeigte eine Wasserfläche, also Land unter, aus dem die Spitzen des Berliner Fernsehturms und eines Kranes ragten. Natürlich eines aus Eberswalde. Denn Hafenkräne aus Eberswalde löschten Schiffe in vielen Häfen dieser Welt: Sie waren eine Weltmarke. Allein im Hamburger Hafen waren es 78. Der achtzig Zentimeter große Schriftzug war Heimat, auch wenn es diese nicht mehr gab. Das volkseigene Schwermaschinenbau-Kombinat Tagebau-Ausrüstungen, Krane und Förderanlagen (TAKRAF) war nach der »Wende« zerschlagen worden, die Kräne drehten sich aber weiter.
Die einzelnen Betriebsteile machten mit neuem Eigentümer und unter anderem Namen weiter. Irgendwie. Anfang Juni bekamen wir eine Mail aus Eberswalde mit dem Cover eben jenes Eulenspiegel-Buches, ergänzt um die handschriftliche Zeile: »Kranbau Eberswalde 30.06.2023«. Die Absenderin bat »im Namen der letzten überlebenden Mitarbeiter des einst großen Kranbaus Eberswalde« um Aktualisierung bei einer Nachauflage: »Wir haben am 21. April Insolvenz anmelden müssen.« Und mit Sarkasmus schloss sie: »Es bleibt noch der Fernsehturm.«
»Wir« hieß Kocks Ardelt Kranbau GmbH.
Nun, der Fernsehturm stand in den neunziger Jahren auch zur Disposition und blieb einzig aufgrund der Intervention der Antennenbetreiber stehen. Andernfalls hätte St. Walter das gleiche Schicksal erfahren wie der Palast der Republik, das Ahornblatt auf der Fischerinsel und viele Plattenbauten. Wer sich aber noch erinnert: Auf Berliner Ansichtskarten und in Bildbänden, die in den ersten Jahren jenes Dezenniums publiziert wurden, gab es den Fernsehturm schon nicht mehr. Zumindest dort hatte man ihn bereits abgetragen.
Nun also auch der Traditionsbetrieb in Eberswalde.
Den Urtyp des Krans stammte von einem Student. Anders als heute bestanden damals produktive Beziehungen zwischen Kunsthochschulen und der Wirtschaft. Martin Kelm hatte 1957 für seine Abschlussarbeit als Formgestalter – heute heißt das hochstapelnd Designer – den Auftrag erhalten, eine Kranserie für den VEB Kranbau Eberswalde zu entwickeln. Die Verteidigung der Diplomarbeit erfolgte im Beisein des Chefkonstrukteurs aus Eberswalde, Hermann Werth. Und der bescheinigte ihm: »Was Herr Kelm hier gemacht hat, ermöglicht uns erstmals eine automatisierte Fertigung der Kranstützen mittels Verschweißung und erzielt einen Produktivgewinn von mindestens dreißig Prozent. Durch die grundsätzliche neue Gesamtgestaltung dieser Kran-Serie bringt das dem Betrieb rein ökonomisch betrachtet rund vierzig bis fünfzig Prozent Gewinn gegenüber dem derzeit noch gebauten vergleichbaren Modell.« Neben dem ökonomischen Gebrabbel bekannte der Eberswalder Chefstatiker selbstkritisch: »Ich wundere mich, dass uns Technikern diese Lösungen nicht selbst eingefallen sind. Da muss erst ein Außenseiter, ein angehender Formgestalter, kommen und uns zeigen, was wir verbessern können.«
Der Student Kelm bekam sein Diplom »Mit Auszeichnung«, Eberswalde ein jahrzehntelanges Erfolgsmodell und die DDR einen Exportschlager. Der Kranbau Eberswalde wurde auf dem Feld der Hafenkrane Weltmarktführer.
TAKRAF war ein Weltkonzern, kämpfte global mit Krupp, Thyssen, MAN erfolgreich um Märkte und behauptete sich dort. Deshalb musste er nach dem Untergang der DDR zerschlagen und als Konkurrent ausgeschaltet werden. Nach zweieinhalb Jahren waren zwei Drittel der einst 34 TAKRAF-Betriebe dicht, von 58.000 Beschäftigten hatten lediglich 2000 ihren Arbeitsplatz behalten. Für eine D-Mark war der Kranbau Eberswalde von der Treuhand verscherbelt worden inklusive des mehrere Dutzend Millionen teuren Betriebsgeländes und der Patente. Den Zuschlag bekam »der 24 Jahre alte Sohn eines Kleinunternehmers, der 1990 seinen 25-Mann-Maschinenbaubetrieb in Düsseldorf zugemacht und als sogenannter Wirtschaftsspezialist bei der Treuhand angeheuert hatte«, so die Berliner Zeitung am 15. Mai 2023. Der Hochstapler bekam für eine D-Mark auch das Kirow-Werk in Leipzig, dem Weltmarktführer für Eisenbahndrehkrane, plus acht Millionen DM Zuschuss. »Allein Grund und Boden des Werkes waren über 40 Millionen DM wert gewesen.«
So etwas vergessen die Ostdeutschen nicht. Und nun wundern sie sich im Westen, wenn Menschen eine Partei wählen, deren Thüringer Häuptling Höcke 2019 erklärte: »Die Verelendung und Heimatzerstörung hier bei uns hat einen Namen. Dieser Name heißt Treuhand.« Denn alle anderen etablierten Parteien sind der Auffassung, dass das mit der Einheit im Großen und Ganzen gut gelaufen sei. Und eine Partei, die dem eigentlich widersprechen und die Massen gegen Verblödung und Sozialabbau mobilisieren müsste, schweigt und überlässt den braunen Rattenfängern das Feld.
Bisweilen liegt auch der Spiegel mit seinen Kassandrarufen richtig. 1993 prophezeite die Nachrichtenpostille im gewohnten Ton der Dramatisierung: »Im Osten Deutschlands braut sich was zusammen. Die Stimmung war schon lange schlecht, aber nie war sie so mies wie heute.« Das Blatt zitierte einen Büchsenmacher aus Suhl mit den Worten: »Früher hatten wir die Russen. Das war schlimm. Jetzt haben wir die Wessis. Das ist schlimmer.«
Vielleicht wählt dieser Büchsenmacher, so er denn noch lebt und wählen geht, Herrn Höcke, der ja auch Wessi ist wie Frau Weidel oder Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg. Vielleicht aber fragte er sich vernünftigerweise: Moment mal, was würde sich real für mich ändern, wenn diese Leute nun doch in Regierungsverantwortung kämen? Würde sich »das System«, das nicht nur ihn bisweilen an den Rand der Verzweiflung treibt, durch diese Leute grundsätzlich ändern? Mitnichten. Der Kapitalismus bliebe. Überall im Land. Und die Benachteiligung, Demütigung und Ausgrenzung Andersdenkender, Ausgebeuteter und Ausgeschlossner auch. Er wäre nur eine Spur nationalistischer, rassistischer, gewiss auch etwas antisemischer.
Doch noch einmal zu Eberswalde.
Anfang Juni verbreitete der regionale Fernsehsender Hoffnung: »Das insolvente Kranbauwerk Kocks Ardelt in Eberswalde ist so gut wie gerettet: Zwei Investoren haben am Montag Kaufverträge für das Werk unterschrieben. Das teilte der Insolvenzverwalter dem rbb mit. Damit der Kauf vollzogen werden kann, fehlt allerdings noch eine Bürgschaft von Bund und Land. Sie sollen Bankkredite für das Werk absichern.«
Es solle »erst mal mit einer etwas kleineren Mannschaft weitergehen«, hieß es aus dem Eberswalder Wirtschaftsdezernat.
Na dann ist ja alles in Butter.