In meiner Kindheit gab es Amerikaner. In fast jeder Bäckerei. Es waren flache, halbkugelförmige Backwaren, die auf der glatten Seite entweder mit Zuckerguss oder mit Schokolade bestrichen waren. Manchmal auch halb und halb. Black and white, Amerikaner eben. In meiner süddeutschen Kleinstadt gab es keine echten Amerikaner. Die lernte ich erst auf einer Reise mit meinen Eltern in einem Restaurant kennen. Zwei adrette Offiziere, einer setzte mir seine Militärmütze auf, machte ein Foto mit seiner Polaroid und schenkte es mir. Später kam Susi zu uns, die Austauschschülerin meiner älteren Schwester. Ich fragte sie keck: »Have you Dollars?«, und hatte das erste Mal einen Dollarschein in der Hand, der damals ungefähr vier Mark kostete. Das war auch die Zeit, in der ich Mickymaushefte, vor allem aber die Abenteuer von Donald Duck verschlang. Im Radio hörte man neben deutschen Interpreten öfter Schlagersänger aus den USA, die in einem drolligen Deutsch sangen. Der Höhepunkt dieser Welle war »Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus«, gesungen von Elvis Presley. Auch Kennedy war noch gut beraten, mit seinem »Ich bin ein Berliner« die Herzen der Deutschen in deren eigener Sprache zu erobern. Aber es war ein Abgesang. Die Band, welche abends in den Kellerräumen der nahegelegenen Volksschule proben durfte, übte schon damals auf Englisch.
Ähnlich war es bei den Kinofilmen. Deutsche Schmonzetten waren zwar beliebt, aber amerikanische Western und Monumentalfilme wie »Ben Hur« oder »Die Brücke am Kwai« setzten ganz neue Maßstäbe. Als das Fernsehen für die breite Masse erschwinglich wurde, waren auch in diesem Medium Serien wie »Bonanza«, »Auf der Flucht« oder »Dallas« für eine ganze Generation prägend. Apropos prägend: Es muss in diesen 60er und 70er Jahren gewesen sein, als sich die Bezeichnung »Your Honor« für »Herr Richter« durch die wörtliche Synchronisierung so festsetzte, dass bis heute viele Angeklagte ihren deutschen Richter mit »Euer Ehren« ansprechen. Anfang der 2000er Jahre wurde es schick, in Vorträgen und Korrespondenzen englische Floskeln unterzubringen. Ich bekam einen Brief von einem Makler, in dem ein ominöses »imho« auftauchte, gerne wurde auch ein BTW ins Spiel gebracht, und seit dem Siegeszug des Internets machte sich das LOL breit.
Mit der Einführung des Privatfernsehens 1984 bekamen amerikanische Medienformate einen dominierenden Einfluss. US-Filme und TV-Serien wurden – schon aus Kostenersparnis – im großen Stil eingekauft, amerikanische Fernsehshows wurden für deutsche Zuschauer aufbereitet.
Als 1968 die Studentenbewegung begann und weltweit gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner protestiert wurde, schmälerte das den kulturellen Einfluss der USA kaum. Die Aufarbeitung der verdrängten Naziverbrechen, die Entlarvung von Altnazis in Politik, Justiz und Universitäten, die Ablehnung der Eltern als schweigende Mitwisser oder Täter förderte die Suche nach neuen Identitäten. Auf ein solches Land konnte man unmöglich stolz sein. Es war jene Generation, welche sich im Ausland lieber als Holländer oder Schweizer ausgab, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wurde. Rebellen gab es schließlich auch in Amerika, Bob Dylan, Joan Baez, Jimmy Hendrix waren unverdächtige Idole, Alternativen zum deutschen Mief. Wer jung und unpolitisch war, begeisterte sich für das angenehm sorgenfreie Leben im sonnigen Kalifornien, welches die »Beach Boys« und die »Mamas und Papas« besangen.
Der deutsche Selbsthass begünstigte die kulturelle Vorherrschaft der USA, das amerikanische Englisch wurde zu einem scheinbar neutralen Ersatz für die kompromittierte eigene Sprache. Auf dem Berliner Tunix-Kongress im Audimax der TU 1979, einer Veranstaltung zahlreicher undogmatischer Organisationen, war neben anderen auch dieses Transparent zu sehen: »I hate my german language«. Nach dem Ende der DDR gab es bei einigen Linken die Befürchtung, dass ein neues großdeutsches Reich entstehen könnte. 1990 entstand das Bündnis »Radikale Linke«, welches unter der Devise »Nie wieder Deutschland« gegen die Wiedervereinigung und für die Auflösung des deutschen Volkes agitierte. Diese später als »Antideutsche« bezeichneten Gruppen bedienten sich vorzugsweise der englischen Sprache (»no tears for krauts«) und standen für die bedingungslose Unterstützung des Staates Israel und dessen Schutzmacht USA.
Mit dem Kalten Krieg begann ein reger Kulturaustausch, der die Westdeutschen im Kampf gegen Einflüsse von jenseits des Eisernen Vorhangs stählen sollte. Im Juni 1950 wurde in Westberlin der Kongress für kulturelle Freiheit gegründet, eine Vereinigung, die sich an europäische Intellektuelle richtete und maßgeblich vom US-Geheimdienst CIA finanziert wurde. Siegfried Lenz und Heinrich Böll waren die bekanntesten deutschen Vertreter.
Schon in den 50er Jahren gab es für deutsche Schüler die Möglichkeit, für ein Jahr an eine amerikanische Schule zu gehen. Bis heute ist es für 16- bis 17-Jährige, deren Eltern über die finanziellen Mittel verfügen, das beliebteste Gastland, zwischen 10.000 und 13.000 Jugendliche reisen jedes Jahr für einen Schulaufenthalt in die USA. In den letzten Jahren sind die Zahlen allerdings – vermutlich wegen Trump und Corona – zurückgegangen. An die 50 Organisationen sind auf diesem lukrativen Markt tätig, man muss mit Kosten zwischen 5000 und 20.000 Euro rechnen. Wer heute in Wirtschaft, Politik und Medien eine Führungsposition hat, war nicht selten in jungen Jahren auf einer amerikanischen High-School oder Universität. Der BMW-Vorstandsvorsitzende Oliver Zipse hat an amerikanischen Universitäten studiert, die grüne Außenministerin Baerbock war ebenso wie der Intendant des WDR, Tom Burow, Austauschschüler in den USA, letzterer war von 1994 bis 1999 Korrespondent der ARD in Washington. Ein Studienaufenthalt im Ausland macht sich gut im Lebenslauf, vor allem wenn dieser »transatlantisch« geprägt ist. Bereits vor 1989 gab es einflussreiche Organisationen, die eine enge Bindung an die westliche Führungsmacht propagierten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden weitere Netzwerke, die sich vor allem um junge Politiker bemühten, die man für fähig hielt, in naher Zukunft Führungsämter einzunehmen. Früh hatte man erkannt, dass die grüne Partei zu einem wichtigen Faktor in der deutschen Parteienlandschaft werden könnte. Die Rechnung ging auf. In dem jetzigen Dreierbündnis der Regierung sind die Grünen die strammsten Atlantiker.
Wohl kaum ein Land ist uns heute so vertraut wie Amerika, obwohl es viel weiter weg ist als Belgien oder Ungarn. Es sind nicht nur die unzähligen Filme und Serien, welche uns dieses Land penetrant so nahebringen, als wären wir ein Teil davon. Jede Nachrichtensendung, jede Zeitungsausgabe berichtet uns täglich an hervorragender Stelle über alles, was dort geschieht. Es wird ausführlich über Sportarten und Sportler informiert, die in Europa weitgehend unbekannt sind, ebenso über den Tod von US-Schauspielern oder Sängern, von denen man noch nie gehört hat. Es gibt ihn, diesen verzückten Blick auf Amerika, jenen rüpelhaften großen Bruder, dem man wegen seines unwiderstehlichen Charmes alles verzeiht. Für viele scheint Amerika eine Art Wahlheimat zu sein, freilich ohne Wahlrecht. Seit Kennedy, spätestens aber seit Obama, sind die meisten Deutschen glühende Anhänger der Demokraten. Eigentlich sind wir die besseren Amerikaner.