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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wie mit der AfD umgehen?

In Ossietzky 24/​2024 for­der­te Diet­her Dehm das Ende der Brand­mau­er gegen die AfD im par­la­men­ta­ri­schen Raum und eine Annä­he­rung zwi­schen AfD und BSW. Der Arti­kel von Dehm ist eine Pro­vo­ka­ti­on und bewirkt eine Ent­ta­bui­sie­rung. Das ist gut, denn eine lin­ke Posi­ti­on grün­det sich nicht auf Denk­ver­bo­te, son­dern auf die eige­ne Erkenntnisfähigkeit.

Die AfD ist im Osten bei 30 Pro­zent ange­kom­men, das ist beäng­sti­gend. Es braucht den Wil­len zur Kri­tik und Selbst­kri­tik. Ein »Paria­sta­tus« kann bei den Betrof­fe­nen Gefüh­le des Unge­wollt­s­eins her­vor­ru­fen und gera­de des­halb eine Radi­ka­li­sie­rung als rech­te (Trotz-)Reaktion bewir­ken. Hät­te man 2015/​16 anders mit der AfD umge­hen sol­len? Hät­te man die sich ent­wickeln­de Radi­ka­li­sie­rung ver­hin­dern kön­nen? Ist es rich­tig, Anträ­ge der AfD in den Par­la­men­ten grund­sätz­lich abzu­leh­nen, selbst wenn die AfD bekun­det, dass der Him­mel blau ist, wenn sie also Ver­nünf­ti­ges von sich gibt?

Die Auf­recht­erhal­tung eines Grund­re­spekts vor jedem Men­schen, also auch vor AfD-Anhän­gern, ist uner­läss­lich. Jedoch ent­bin­det das die Demo­kra­ten nicht, die­se Par­tei aus­zu­leuch­ten hin­sicht­lich der toxi­schen Neben­wir­kun­gen ihres Pro­gramms. Selbst wenn das deut­sche Kapi­tal aus ganz eigen­nüt­zi­gen Grün­den weit­ge­hend in einer Geg­ner­schaft zu die­ser Par­tei steht – wer ver­liert schon ger­ne Mil­lio­nen von Arbeits­kräf­ten um der »ras­si­schen Rein­heit« wil­len –, ist die Gefahr der Faschi­sie­rung unse­rer Gesell­schaft real.

Es gibt eine faschi­sti­sche Anfäl­lig­keit in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung. Der Hang zu auto­ri­tä­ren Hal­tun­gen ist unüber­seh­bar. Dies geht ein­her mit der erkenn­ba­ren Schwä­chung einer frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­hal­tung, eines Rück­gangs des »Leben und Leben las­sen«. War­um ist das so? Vie­le Men­schen leben in Zei­ten des Man­gels, die öffent­li­che Daseins­vor­sor­ge lässt immer mehr zu wün­schen übrig. Die kapi­ta­li­sti­sche Land­nah­me, die den Immo­bi­li­en­markt der Kapi­tal­ver­wer­tung unter­wor­fen hat, führ­te zu einer gna­den­lo­sen Umver­tei­lung von unten nach oben durch die Miet­preis­explo­sio­nen vor allem in den Groß­städ­ten. Vor­bei die Zei­ten, in denen der Staat mas­siv in den sozia­len Woh­nungs­bau inve­stier­te. Wir leben im neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus, des­sen Haupt­in­ten­ti­on die mög­lichst schran­ken­lo­se Berei­che­rung einer Min­der­heit ist, mit der Kon­se­quenz, dass das All­ge­mein­wohl, die Grund­be­dürf­nis­se der Mehr­heit, nur unzu­rei­chend berück­sich­tigt wird. Ver­bun­den ist dies mit einer Abwen­dung vie­ler Men­schen von den frü­her staats­tra­gen­den Par­tei­en CDU/​CSU und SPD, die noch in den 1990er Jah­ren zusam­men um die 80 Pro­zent der Wäh­ler­stim­men auf sich ver­ei­nigt hat­ten. Es ist ein Miss­trau­ens­vo­tum von so vie­len, und es ver­mit­telt eine Bot­schaft: Ihr, denen wir über 4 Jahr­zehn­te unser Ver­trau­en geschenkt haben, habt uns ent­täuscht, ihr ver­tre­tet nicht mehr unse­re Inter­es­sen, die auf eine gut funk­tio­nie­ren­de Infra­struk­tur, siche­re Ren­ten, eine anspre­chen­de Kran­ken­ver­sor­gung und ein Bil­dungs­sy­stem, das allen eine gewis­se Chan­cen­ge­rech­tig­keit ver­schafft, gerich­tet sind. Die­se Ent­wick­lung schwächt auch die Demo­kra­tie, da ja erkenn­bar ist, dass die Mehr­heit sich nicht durch­set­zen kann. Wer kon­ti­nu­ier­lich die Steu­er­be­la­stung für die Pri­vi­le­gier­ten absenkt, dem muss doch klar sein, dass dafür ande­re die Zeche zu zah­len haben. So ent­steht ein Kli­ma der Wut und Empö­rung, und es erschüt­tert die Glaub­wür­dig­keit des Gesell­schafts­sy­stems. Die­se Stim­mungs­la­ge ist der eigent­li­che Nähr­bo­den für das Anwach­sen rechts­extre­mer Par­tei­en, kei­nes­wegs also Aus­druck von deren Lösungs­kom­pe­tenz für drän­gen­de Pro­ble­me. Es ist bei­na­he ein Mei­ster­stück an Insze­nie­rung und Täu­schung, wenn sich eine Par­tei wie die AfD als Stim­me der Benach­tei­lig­ten erfolg­reich prä­sen­tiert. Man baut offen­sicht­lich dar­auf, dass die Men­schen das Par­tei­pro­gramm nicht lesen.

In die­sem Zusam­men­hang ist auch eine wei­te­re neue Par­tei ent­stan­den, das Bünd­nis Sahra Wagen­knecht (BSW), deren Grün­dung man als den Ver­such der Auf­lö­sung einst gefe­stig­ter Iden­ti­tä­ten umschrei­ben könn­te. Die Begrif­fe »links« und »rechts« hät­ten sich über­holt, so Wagen­knecht. Offen­sicht­lich ist das all­ge­mei­ne Bewusst­sein dar­über, was die Begrif­fe »links« und »rechts« bedeu­ten, in Auf­lö­sung begrif­fen. Ich ver­ste­he unter »Links­sein« im Kern das Bemü­hen um Befrei­ung des Men­schen aus allen For­men der Knechtung.

In die­sem Punkt ist das rech­te Den­ken dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt. Viel­falt und das Recht auf freie Ent­fal­tung sind den Rech­ten ein Gräu­el. Sie wol­len eine homo­ge­ni­sier­te Gesell­schaft, das Ver­schie­den­s­ein gera­de­zu aus­mer­zen. Rech­te Par­tei­en an der Macht, das heißt Fun­da­men­tal­an­grif­fe auf die Mei­nungs­viel­falt, die Pres­se­frei­heit und die Unab­hän­gig­keit der Gerich­te. Rechts sein hat die Repres­si­on und den Wil­len zur Gleich­schal­tung der Men­schen in sich, es ist ein Wesens­merk­mal. Was den Sozi­al­staat betrifft, so wis­sen wir um die extrem neo­li­be­ra­le Aus­rich­tung der AfD, die letzt­lich den Sozi­al­staat angreift. Sie will Arbeit­neh­mer­rech­te schwä­chen durch die For­de­rung nach Auf­he­bung eines ein­heit­li­chen Tarif­ver­tra­ges für alle Beschäf­tig­ten. Hin­zu kommt noch, dass die AfD das Streik­recht ein­schrän­ken will. Aber ist die AfD nun eine Gefahr von der Art, dass sie vom Ver­fas­sungs­ge­richt ver­bo­ten wer­den müsste?

Die Befür­wor­ter eines Ver­bots ver­wei­sen auf die grau­en­haf­ten Erfah­run­gen in Deutsch­land. Was ist die rote Linie, die dann bei Über­schrei­tung zwin­gend ein Ver­bots­ver­fah­ren aus­lö­sen müss­te? Mei­ner Mei­nung ist sie dort, wo wie­der die Huma­ni­tät fron­tal ange­grif­fen wird. Wir erin­nern uns, dass in der Wei­ma­rer Repu­blik der fana­ti­sche Anti­se­mi­tis­mus der Nazi­füh­rung immer wie­der ver­harm­lost wur­de: So schlimm wer­de es schon nicht kom­men, wenn sie sich den Sach­zwän­gen des all­täg­li­chen Regie­rens aus­set­zen müss­ten. Eine Fehl­ein­schät­zung, wie wir heu­te wis­sen kön­nen. Die Kon­se­quenz die­ses umfas­sen­den Zivi­li­sa­ti­ons­bruchs war ein »Nie wie­der«. Nie wie­der Krieg, nie wie­der Faschis­mus. Wir erle­ben, dass vor kur­zem auf einem Par­tei­tag der baye­ri­schen AfD ganz offi­zi­ell ein Remi­gra­ti­ons­pro­gramm, das Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land betref­fen wür­de, gefor­dert wur­de. Wer das blo­ße Anders­sein zum Pro­blem erklärt, greift den huma­nen Kern einer Gesell­schaft an. Des­halb betref­fen die Attacken auf Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund letzt­lich alle, die nicht ein Leben in Anpas­sung und Unter­ord­nung leben möch­ten. Die­se Posi­tio­nen sind ein Angriff auf die frei­heit­li­che Ord­nung und die Demo­kra­tie. Soll­te dies nicht eine ent­schie­de­ne Gegen­re­ak­ti­on der Mehr­heit in die­sem Land erfor­der­lich machen, um zu zei­gen, dass mit aller Kraft die Mensch­lich­keit geschützt wird, auch mit der Kon­se­quenz eines Ver­bots­ver­fah­rens der AfD? Wer Höckes Argu­men­ta­ti­on zu die­sem The­ma genau liest, der spürt doch, wie nahe die­ser »Geist« am alten Nazi­ungeist ist.

Es ist ein Skan­dal, dass so vie­le Men­schen in die­sem Land, gera­de auch so vie­le Arbeit­neh­mer, ihre Hoff­nung auf eine bes­se­re Gesell­schaft auf die AfD pro­ji­zie­ren. Hier ist Wäh­ler­be­schimp­fung ange­bracht. Es gehört zu den Pflich­ten eines Bür­gers in einer Demo­kra­tie, ver­ant­wor­tungs­voll die ver­schie­de­nen Ange­bo­te der Par­tei­en zu sich­ten, und nach bestem Wis­sen und Gewis­sen für eine Par­tei zu optie­ren. Wir leben in einer Zeit der fort­ge­schrit­te­nen Bewusst­seins­auf­lö­sung, das heißt, es gibt so vie­le Men­schen in die­sem Land, die ihre eige­nen Inter­es­sen nicht defi­nie­ren kön­nen Ein Bei­spiel: Wir wis­sen, dass bei den letz­ten bay­ri­schen Land­tags­wah­len über 70 Pro­zent der Gewerk­schafts­mit­glie­der rech­te Par­tei­en, also CSU, Freie Wäh­ler, FDP und AfD, wähl­ten. War­um ist das so? Es wirkt das zer­set­zen­de Gift der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie, die vor allem auf Ver­ein­ze­lung zielt. Eine Lebens­form der Ich-AG, immer im Kon­kur­renz­kampf gegen den Mit­men­schen. Es scheint erfolg­reich zu sein, die kapi­ta­li­sti­sche Lebens­form tief im Unbe­wuss­ten der Men­schen zu ver­an­kern. Es ist zugleich ein Angriff auf die Wer­te der Auf­klä­rung, der das Ide­al eines zur Kri­tik fähi­gen Men­schen zugrun­de liegt. Dazu passt, dass in die­ser Gesell­schaft der Mar­xis­mus erfolg­reich aus­ge­schal­tet wer­den konn­te, dem es letzt­lich zu ver­dan­ken war, dass die Arbei­ter­klas­se vie­le Kämp­fe gegen das Kapi­tal erfolg­reich für sich ent­schei­den konnte.

Wir leben in einer Zeit der Ver­ro­hung, sie trägt Züge von Ent­mensch­li­chung. Die Not unse­rer Zeit erfor­dert eine radi­ka­le Umkehr. Ist das bür­ger­li­che Lebens­mo­dell mit­samt sei­nen Wer­ten und Zie­len dazu in der Lage? Für Mar­xi­sten ist offen­sicht­lich, dass im kapi­ta­li­sti­schen System der Mensch und sei­ne Bedürf­nis­se nicht im Mit­tel­punkt der gesell­schaft­li­chen Anstren­gun­gen ste­hen. Ich bin der Mei­nung, das wir­kungs­voll­ste Pro­gramm zur Ein­däm­mung und Über­win­dung der AfD ist, die legi­ti­men Bedürf­nis­se der Mehr­heit in unse­rem Land zur Kennt­nis zu neh­men und sich die­se zu eigen zu machen. Dies jedoch hät­te zwangs­läu­fig zur Fol­ge, die Ver­tei­lungs­fra­ge wie­der in das Zen­trum der poli­ti­schen Debat­te zu rücken. Es reicht nicht, die Schul­den­brem­se zu lockern. Wir wis­sen aus Erfah­rung, dass Staa­ten unter der Last von über­mä­ßi­gen Zins- und Til­gungs­zah­lun­gen gefähr­det wer­den. Man kann aber in aller Beschei­den­heit for­dern, sich zumin­dest wie­der der Steu­er­last, wie sie unter Hel­mut Kohl noch exi­stier­te, anzu­nä­hern. Das hie­ße, über eine Erhö­hung der Erb­schafts­steu­er, die Wie­der­ein­füh­rung der Ver­mö­gens­steu­er und die Ein­füh­rung einer Bör­sen­um­satz­steu­er, eine Erhö­hung des Spit­zen­steu­er­sat­zes sowie Kapi­tal­ertrags­steu­er nach­zu­den­ken, damit der Staat über­haupt wie­der hand­lungs­fä­hig sein kann.

Wir leben in einer Zeit, in der offen­bar wird, dass Debat­ten über sozia­le Gerech­tig­keit kei­nes­wegs nur für einen aka­de­mi­schen Zir­kel von Bedeu­tung sind. Die syste­misch beding­te Miss­ach­tung des Grund­rechts auf ein Leben in Wür­de birgt einen unge­heu­ren Spreng­stoff für unse­re Gesell­schaft in sich, der durch das Auf­kom­men der AfD sicht­bar gewor­den ist. Die­sen Spreng­stoff gilt es zu ent­schär­fen, am besten durch eine den Bedürf­nis­sen aller ver­pflich­te­te Poli­tik. Das wäre der Bruch mit der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie. Geschieht dies nicht, ist ein wei­te­res Anwach­sen der AfD nicht aus­ge­schlos­sen. Dann blie­be in der Tat nur – um zu ret­ten, was noch zu ret­ten ist – ein Ver­bot der AfD.