In Ossietzky 24/2024 forderte Diether Dehm das Ende der Brandmauer gegen die AfD im parlamentarischen Raum und eine Annäherung zwischen AfD und BSW. Der Artikel von Dehm ist eine Provokation und bewirkt eine Enttabuisierung. Das ist gut, denn eine linke Position gründet sich nicht auf Denkverbote, sondern auf die eigene Erkenntnisfähigkeit.
Die AfD ist im Osten bei 30 Prozent angekommen, das ist beängstigend. Es braucht den Willen zur Kritik und Selbstkritik. Ein »Pariastatus« kann bei den Betroffenen Gefühle des Ungewolltseins hervorrufen und gerade deshalb eine Radikalisierung als rechte (Trotz-)Reaktion bewirken. Hätte man 2015/16 anders mit der AfD umgehen sollen? Hätte man die sich entwickelnde Radikalisierung verhindern können? Ist es richtig, Anträge der AfD in den Parlamenten grundsätzlich abzulehnen, selbst wenn die AfD bekundet, dass der Himmel blau ist, wenn sie also Vernünftiges von sich gibt?
Die Aufrechterhaltung eines Grundrespekts vor jedem Menschen, also auch vor AfD-Anhängern, ist unerlässlich. Jedoch entbindet das die Demokraten nicht, diese Partei auszuleuchten hinsichtlich der toxischen Nebenwirkungen ihres Programms. Selbst wenn das deutsche Kapital aus ganz eigennützigen Gründen weitgehend in einer Gegnerschaft zu dieser Partei steht – wer verliert schon gerne Millionen von Arbeitskräften um der »rassischen Reinheit« willen –, ist die Gefahr der Faschisierung unserer Gesellschaft real.
Es gibt eine faschistische Anfälligkeit in weiten Teilen der Bevölkerung. Der Hang zu autoritären Haltungen ist unübersehbar. Dies geht einher mit der erkennbaren Schwächung einer freiheitlich-demokratischen Grundhaltung, eines Rückgangs des »Leben und Leben lassen«. Warum ist das so? Viele Menschen leben in Zeiten des Mangels, die öffentliche Daseinsvorsorge lässt immer mehr zu wünschen übrig. Die kapitalistische Landnahme, die den Immobilienmarkt der Kapitalverwertung unterworfen hat, führte zu einer gnadenlosen Umverteilung von unten nach oben durch die Mietpreisexplosionen vor allem in den Großstädten. Vorbei die Zeiten, in denen der Staat massiv in den sozialen Wohnungsbau investierte. Wir leben im neoliberalen Kapitalismus, dessen Hauptintention die möglichst schrankenlose Bereicherung einer Minderheit ist, mit der Konsequenz, dass das Allgemeinwohl, die Grundbedürfnisse der Mehrheit, nur unzureichend berücksichtigt wird. Verbunden ist dies mit einer Abwendung vieler Menschen von den früher staatstragenden Parteien CDU/CSU und SPD, die noch in den 1990er Jahren zusammen um die 80 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt hatten. Es ist ein Misstrauensvotum von so vielen, und es vermittelt eine Botschaft: Ihr, denen wir über 4 Jahrzehnte unser Vertrauen geschenkt haben, habt uns enttäuscht, ihr vertretet nicht mehr unsere Interessen, die auf eine gut funktionierende Infrastruktur, sichere Renten, eine ansprechende Krankenversorgung und ein Bildungssystem, das allen eine gewisse Chancengerechtigkeit verschafft, gerichtet sind. Diese Entwicklung schwächt auch die Demokratie, da ja erkennbar ist, dass die Mehrheit sich nicht durchsetzen kann. Wer kontinuierlich die Steuerbelastung für die Privilegierten absenkt, dem muss doch klar sein, dass dafür andere die Zeche zu zahlen haben. So entsteht ein Klima der Wut und Empörung, und es erschüttert die Glaubwürdigkeit des Gesellschaftssystems. Diese Stimmungslage ist der eigentliche Nährboden für das Anwachsen rechtsextremer Parteien, keineswegs also Ausdruck von deren Lösungskompetenz für drängende Probleme. Es ist beinahe ein Meisterstück an Inszenierung und Täuschung, wenn sich eine Partei wie die AfD als Stimme der Benachteiligten erfolgreich präsentiert. Man baut offensichtlich darauf, dass die Menschen das Parteiprogramm nicht lesen.
In diesem Zusammenhang ist auch eine weitere neue Partei entstanden, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), deren Gründung man als den Versuch der Auflösung einst gefestigter Identitäten umschreiben könnte. Die Begriffe »links« und »rechts« hätten sich überholt, so Wagenknecht. Offensichtlich ist das allgemeine Bewusstsein darüber, was die Begriffe »links« und »rechts« bedeuten, in Auflösung begriffen. Ich verstehe unter »Linkssein« im Kern das Bemühen um Befreiung des Menschen aus allen Formen der Knechtung.
In diesem Punkt ist das rechte Denken diametral entgegengesetzt. Vielfalt und das Recht auf freie Entfaltung sind den Rechten ein Gräuel. Sie wollen eine homogenisierte Gesellschaft, das Verschiedensein geradezu ausmerzen. Rechte Parteien an der Macht, das heißt Fundamentalangriffe auf die Meinungsvielfalt, die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Gerichte. Rechts sein hat die Repression und den Willen zur Gleichschaltung der Menschen in sich, es ist ein Wesensmerkmal. Was den Sozialstaat betrifft, so wissen wir um die extrem neoliberale Ausrichtung der AfD, die letztlich den Sozialstaat angreift. Sie will Arbeitnehmerrechte schwächen durch die Forderung nach Aufhebung eines einheitlichen Tarifvertrages für alle Beschäftigten. Hinzu kommt noch, dass die AfD das Streikrecht einschränken will. Aber ist die AfD nun eine Gefahr von der Art, dass sie vom Verfassungsgericht verboten werden müsste?
Die Befürworter eines Verbots verweisen auf die grauenhaften Erfahrungen in Deutschland. Was ist die rote Linie, die dann bei Überschreitung zwingend ein Verbotsverfahren auslösen müsste? Meiner Meinung ist sie dort, wo wieder die Humanität frontal angegriffen wird. Wir erinnern uns, dass in der Weimarer Republik der fanatische Antisemitismus der Naziführung immer wieder verharmlost wurde: So schlimm werde es schon nicht kommen, wenn sie sich den Sachzwängen des alltäglichen Regierens aussetzen müssten. Eine Fehleinschätzung, wie wir heute wissen können. Die Konsequenz dieses umfassenden Zivilisationsbruchs war ein »Nie wieder«. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Wir erleben, dass vor kurzem auf einem Parteitag der bayerischen AfD ganz offiziell ein Remigrationsprogramm, das Millionen Menschen in Deutschland betreffen würde, gefordert wurde. Wer das bloße Anderssein zum Problem erklärt, greift den humanen Kern einer Gesellschaft an. Deshalb betreffen die Attacken auf Menschen mit Migrationshintergrund letztlich alle, die nicht ein Leben in Anpassung und Unterordnung leben möchten. Diese Positionen sind ein Angriff auf die freiheitliche Ordnung und die Demokratie. Sollte dies nicht eine entschiedene Gegenreaktion der Mehrheit in diesem Land erforderlich machen, um zu zeigen, dass mit aller Kraft die Menschlichkeit geschützt wird, auch mit der Konsequenz eines Verbotsverfahrens der AfD? Wer Höckes Argumentation zu diesem Thema genau liest, der spürt doch, wie nahe dieser »Geist« am alten Naziungeist ist.
Es ist ein Skandal, dass so viele Menschen in diesem Land, gerade auch so viele Arbeitnehmer, ihre Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft auf die AfD projizieren. Hier ist Wählerbeschimpfung angebracht. Es gehört zu den Pflichten eines Bürgers in einer Demokratie, verantwortungsvoll die verschiedenen Angebote der Parteien zu sichten, und nach bestem Wissen und Gewissen für eine Partei zu optieren. Wir leben in einer Zeit der fortgeschrittenen Bewusstseinsauflösung, das heißt, es gibt so viele Menschen in diesem Land, die ihre eigenen Interessen nicht definieren können Ein Beispiel: Wir wissen, dass bei den letzten bayrischen Landtagswahlen über 70 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder rechte Parteien, also CSU, Freie Wähler, FDP und AfD, wählten. Warum ist das so? Es wirkt das zersetzende Gift der neoliberalen Ideologie, die vor allem auf Vereinzelung zielt. Eine Lebensform der Ich-AG, immer im Konkurrenzkampf gegen den Mitmenschen. Es scheint erfolgreich zu sein, die kapitalistische Lebensform tief im Unbewussten der Menschen zu verankern. Es ist zugleich ein Angriff auf die Werte der Aufklärung, der das Ideal eines zur Kritik fähigen Menschen zugrunde liegt. Dazu passt, dass in dieser Gesellschaft der Marxismus erfolgreich ausgeschaltet werden konnte, dem es letztlich zu verdanken war, dass die Arbeiterklasse viele Kämpfe gegen das Kapital erfolgreich für sich entscheiden konnte.
Wir leben in einer Zeit der Verrohung, sie trägt Züge von Entmenschlichung. Die Not unserer Zeit erfordert eine radikale Umkehr. Ist das bürgerliche Lebensmodell mitsamt seinen Werten und Zielen dazu in der Lage? Für Marxisten ist offensichtlich, dass im kapitalistischen System der Mensch und seine Bedürfnisse nicht im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Anstrengungen stehen. Ich bin der Meinung, das wirkungsvollste Programm zur Eindämmung und Überwindung der AfD ist, die legitimen Bedürfnisse der Mehrheit in unserem Land zur Kenntnis zu nehmen und sich diese zu eigen zu machen. Dies jedoch hätte zwangsläufig zur Folge, die Verteilungsfrage wieder in das Zentrum der politischen Debatte zu rücken. Es reicht nicht, die Schuldenbremse zu lockern. Wir wissen aus Erfahrung, dass Staaten unter der Last von übermäßigen Zins- und Tilgungszahlungen gefährdet werden. Man kann aber in aller Bescheidenheit fordern, sich zumindest wieder der Steuerlast, wie sie unter Helmut Kohl noch existierte, anzunähern. Das hieße, über eine Erhöhung der Erbschaftssteuer, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Einführung einer Börsenumsatzsteuer, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes sowie Kapitalertragssteuer nachzudenken, damit der Staat überhaupt wieder handlungsfähig sein kann.
Wir leben in einer Zeit, in der offenbar wird, dass Debatten über soziale Gerechtigkeit keineswegs nur für einen akademischen Zirkel von Bedeutung sind. Die systemisch bedingte Missachtung des Grundrechts auf ein Leben in Würde birgt einen ungeheuren Sprengstoff für unsere Gesellschaft in sich, der durch das Aufkommen der AfD sichtbar geworden ist. Diesen Sprengstoff gilt es zu entschärfen, am besten durch eine den Bedürfnissen aller verpflichtete Politik. Das wäre der Bruch mit der neoliberalen Ideologie. Geschieht dies nicht, ist ein weiteres Anwachsen der AfD nicht ausgeschlossen. Dann bliebe in der Tat nur – um zu retten, was noch zu retten ist – ein Verbot der AfD.