Es gab in der Welt, spätestens seit dem Völkermord an 6 Millionen Juden durch das Hitlerregime, trotz längerer Widerstände, insbesondere durch die damalige englische Kolonialmacht in Palästina, zunächst ein zunehmendes Verständnis und internationale Unterstützung für die Gründung der Teilstaaten Israel und Palästina. Das Existenzrecht beider Staaten wurde seit dem beschlossenen Teilungsplan von 1948 durch keine UN-Resolution jemals bestritten. Im Unterschied zur Art und Weise der Durchsetzung dieses Planes, der nicht im Konsens mit der arabischen Seite erfolgte. Das war m. E. der Geburtsfehler dieser leidvollen Geschichte. Die israelische Expansionspolitik, weit über den Teilungsplan hinaus, sahen u. a. auch viele jüdische Überlebende, wie etwa Hannah Arendt und Albert Einstein, sehr früh außerordentlich kritisch, nicht zu schweigen von der gesamten arabischen Welt und schließlich auch den Parteiführungen der staatssozialistischen Länder, die, nach anfänglicher Waffenhilfe bei Israels Gründung, später die arabisch-palästinensische Seite durch Diplomatie und Waffenlieferungen unterstützten, während es die westliche Regierungen, insbesondere die USA für die israelische Seite tun.
Während die israelischen Regierungen das Narrativ pflegten, ihr Staat sei rechtmäßig aufgrund ihrer einstigen Vertreibung aus dem antiken Israel, der leidvollen Unterdrückung in der Diaspora, schließlich durch den Völkermord Hitlerdeutschlands gerechtfertigt, und dann aus dem Kampf gegen die kriegerische, arabisch-palästinensische Seite hervorgegangen, pflegte die gegnerische Seite das Narrativ, die israelische Politik sei von Anbeginn an eine »Nakba«, ein Katastrophe, die zur Vernichtung und ethnischen Vertreibung der Palästinenser aus ihren uralten Siedlungsgebieten führte, ja sogar, auch eine Völkermordpolitik bis heute war und ist.
Dieser Konflikt eskalierte bekanntlich seit dem 15. Oktober 2023 erneut in unvorstellbarer Härte, nach dem jüngsten terroristischen Angriff der Hamas, mit weit über tausend israelischen Toten und über Zweihundert verschleppten Geiseln. Daraufhin forderte der Knesset-Abgeordnete Ariel Kallner: »Im Moment gibt es nur ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von 1948 in den Schatten stellen wird. Nakba in Gaza und Nakba für jeden, der es wagt, sich anzuschließen!« Diese Prophezeiung hat sich leider bewahrheitet.
Es ist offenbar gerade in Deutschland aufgrund seiner unendlich belasteten Geschichte sehr schwierig, in diesem Dauerkonflikt eindeutig Partei zu ergreifen. Schnell wird die Keule des Antisemitismus oder des Philosemitismus geschwungen. Dennoch dämmert es auch hier vielen, dass durch einseitige Schuldzuweisungen und einer ewigen Politik »Auge um Auge, Zahn um Zahn« kein Interessenausgleich und Frieden für alle Seiten gefunden werden kann, für einen blutig-tragischen Konflikt, der nun schon seit fast 80 Jahren andauert und auf beiden Seiten Tausende Tote, unendliches Leid und schreckliche Zerstörungen angerichtet hat.
Es gilt m.E. auch hierzulande besser zu verstehen, dass sich beide Parteien, mit vielen möglichen Differenzierungen auf allen Seiten, in einer tragischen Konfliktverstrickung, einer sogenannten »Kollusion« befinden. Darunter versteht man das unbewusste Zusammenspiel von »Partnern«, hinsichtlich eines gemeinsamen Unterbewusstseins: Beide Seiten haben, aufgrund ihrer jeweilig eigenen, traumatischen Unterdrückungserfahrungen, berechtigte Ängste, in ihrer physischen Existenz von der jeweils anderen Seite bedroht oder sogar vernichtet zu werden. Deshalb kommt es immer wieder zu gegenseitig destruktiven, blutigen »Lösungsversuchen«, die sich aber als völlig kontraproduktiv für beide Seiten erwiesen haben.
Während die jüdische Seite das Projekt des Zionismus, in Anlehnung an den europäischen, insbesondere deutschen Nationalismus und Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, entwickelte und so eine erneute Besiedlung Israels, aufgrund der unsäglichen Katastrophen in der Diaspora präferierte, ging es der zionistischen Bewegung, verständlicher Weise darum, endlich aus der mörderischen Not der Diaspora, der langen Geschichte antijüdischen Diskriminierungen, der Pogrome, schließlich des Völkermordes an den Juden auf diese Weise endlich zu entkommen, um eine „sichere Heimstatt“ zu errichten. Aber in einer Rede von 1938 sagte der zukünftige erste Präsident Israels David Ben Gurion sehr freimütig: »Verschließen wir nicht die Augen vor der Wahrheit: Politisch gesehen sind wir die Aggressoren, und sie verteidigen sich. Dieses Land ist ihres, weil sie darin wohnen, während wir herkommen, um uns darin niederzulassen. Und von ihrem Gesichtspunkt aus, haben wir vor, sie aus ihrem eigenen Land zu vertreiben.« Diese Erkenntnis ist durch das herrschende nationalistische Narrativ in Israel immer verdrängt worden.
Anderseits versuchte die arabisch-palästinensische Seite, sich gleichfalls mit kriegerischen Mitteln zu wehren, um sich dadurch aus der Unterdrückung durch die westlichen Kolonialmächte, insbesondere Englands und Frankreichs, sowie später von den einwandernden Juden zu befreien, und gleichfalls schließlich einen eigenen unabhängigen nationale Entwicklungsweg zu beschreiten. Hierdurch durchkreuzten sich beide ursprünglichen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und verbanden sich zu einer bisher unauflösbaren, tragischen Kollusion, deren mythologisierte Triebkräfte aus einem vergleichbaren, existenziellen Bewusstsein gespeist wurden und werden: der Angst, dass die eigene Existenz durch die Gegenseite infrage gestellt und gar vernichtet werden könnte.
Diese Kollusion wurde dadurch verstärkt, dass das westliche Staatenbündnis, auch nicht ohne alte imperiale Eigeninteressen in dieser Region, die israelische Seite schließlich mit allen Mitteln unterstützte, während die östliche Seite eher die arabische Partei ergriff. Beide instrumentalisierten diese Parteinahmen für ihre eigenen Herrschaftszwecke.
Hinzu kamen auch immer die entscheidenden, inneren, nationalen Interessen der Herrschenden beider Seiten: Sie konnten durch die ritualisierten Narrative bisher ihre jeweilig eigenen Bevölkerungen für die gewaltsamen Konfrontationen instrumentalisieren und als »Kanonenfutter« in die fortlaufenden kriegerischen Auseinandersetzungen bewegen, weil Juden und Palästinensern suggeriert wurde, dass es dabei um die Sicherung ihrer eigenen nationale Existenz ginge. Aber die radikalen Nationalisten auf allen Seiten zogen und ziehen daraus zugleich jeweiligen Machtgewinn und auch erhebliche materielle Vorteile. Wobei es sich hier, von Anfang an, um einen asymmetrischen Konflikt und Krieg handelte, denn Israel und seine westlichen Verbündeten waren stets militärisch und finanziell haushoch überlegen. Daraus erwuchs sicherlich auch in linken Teilen Israels eine Sehnsucht und Verantwortung, aus dieser Stärke heraus nach einer friedlichen, ausgleichenden Lösung zu suchen. Leider gelang es nicht, das mühsam ausgehandelte Oslo-Abkommen zu verwirklichen, das die Existenzrechte beider Seiten anerkannte, aber dann, nicht zuletzt durch den Mord an Yitzhak Rabin, durch einen israelischen Fanatiker, schließlich wieder zu Fall gebracht wurde.
Wo könnte, trotz allem, eine zukünftige Lösung für diese furchtbar tragische und blutige Dauerkonfrontation gefunden werden, an denen gerade auch die Deutschen, aufgrund ihrer Geschichte, ganz besonderes Interesse haben müssten? Ich stimme in folgenden Gedankengängen grundsätzlich mit dem israelisch-amerikanischen Philosophen Omri Boehm überein, die er unlängst in Wien, wenn auch nicht ohne Proteste, u. a. in einem Fernsehinterview äußerte:
- Da die Geburt des israelischen und palästinensischen Staates, einst im Teilungsplan von 1948 von den Vereinten Nationen erarbeitet und beschlossen, schon damals illusionär und auf Sand gebaut war, weil weder die arabische noch die israelische Seite, sich an diesen Plan gebunden fühlten, sondern umgehend gegeneinander Kriege führten, in dessen langem Verlauf dieser Teilungsplan ad absurdum geführt wurde. Das ist schon deshalb so, weil territorial für die palästinensische Seite nur noch ein kleiner Flickenteppich, aufgrund der jüdischen Siedlungen, bis heute im Westjordanland und im zerstörten Gaza-Streifen übrigblieb. Der Geburtsfehler dieses Teilungsplanes, der quasi eine territorial separierte Zweistaatenlösung implizierte, mit Jerusalem als gemeinsamem Verwaltungszentrum ist gescheitert und, muss deshalb m.E. langfristig durch eine neue Verfassungslösung in Israel ersetzt werden, die eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft von Palästinensern und jüdische Israelis, mit jeweilig föderalen Sonderschutzrechten einschließt, eine völkerrechtliche Konstruktion, wie es sie schon überall auf der Welt gibt, in der es eine Vielzahl von multiethnischen und multireligiösen Staatsverfassungen gibt. Die Lösung einer solchen, zukünftigen Friedenslösung scheint nicht ohne ein neues Mandat der Vereinten Nationen möglich zu sein, und bedarf anschließend der Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit auf israelischer und palästinensischer Seite. Diese Lösung geht von den Realitäten aus, da weder ein palästinensischer noch eine jüdischer Separatstaat in dieser Region auf friedliche Weise lebensfähig und möglich ist, weil beide Völker und Religionen dort seit vielen Jahrhunderten, mehr oder weniger, gesiedelt oder erneut gelebt haben und deshalb existenziell aufeinander angewiesen sind.
- Dazu gehört zunächst als allererster Schritt der Stopp von Waffenlieferungen an alle Seiten, um diesen grausamen Krieg endlich zu beenden. Das schließt die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln ein. Wenn zwei sich blutig streiten, kann die Lieferung von Waffen an die jeweils andere Seite den Konflikt nur verlängern, aber niemals beenden. Das gilt in Israel, wie auch in der Ukraine und sonst wo auf der Welt,
- Es ist notwendig, dass Reste der Hamas mit verhältnismäßigen, quasi polizeilichen Mitteln, endgültig entwaffnet werden. Dabei darf sich aber eine weitere Vernichtung und etwa eine erneute Vertreibung der Bevölkerungsmehrheit der Palästinenser nicht wiederholen! Die humanitäre internationale Hilfe muss unverzüglich die Unterversorgung von Millionen Zivilisten, von Frauen und Kindern beenden und den Wiederaufbau gewährleisten Ansonsten kann dieser Dauerkonflikt niemals gestoppt werden, sondern gefährdet auch weiterhin die jüdischen Israelis von außen und innen, durch fortlaufende Gegenreaktionen aus allen Richtungen, wie wir sie schon seit Jahrzehnten erleben.
- Den Bevölkerungsmehrheiten beider Seiten muss, auch mit Hilfe der inneren Opposition und den Beschlüssen der internationalen Gemeinschaft, eindringlich klar gemacht werden, dass beide Völker gleiche Lebensrechte besitzen und sie nur zusammen, in friedlicher Koexistenz, mehr für die emanzipatorischen Existenzsicherungen von Juden und Palästinensern erreichen können als im ewigen Kampf gegeneinander. Sie müssen begreifen, dass die schlimmsten Feinde ihrer Existenz in der kompromisslosen Haltung ihrer jeweils politisch Herrschenden liegen und nicht in der Feindschaft zwischen ihren Völker, die sich beide, seit je her, nach Unabhängigkeit und friedlicher Entwicklung sehnen. Wer beiden Seiten wirklich helfen will, muss mitwirken diesen Teufelskreis, auch durch internationale Politik zu durchbrechen.
- Die internationale Gemeinschaft muss den Geburtsfehler des Teilungsplanes von 1948 korrigieren und ihre Verantwortung für eine friedliche und gleichberechtigte Entwicklung beider Völker in und um Israel auf neue Weise wahrnehmen, indem sie durch ein neues, robustes UN-Mandat eine föderale Ein-Staaten-Lösung beschließt und dadurch mithilft, die ökonomischen und politischen Lebensbedingungen beider Völker entscheidend zu verbessern, anstatt primär immer weiter Waffen in die jeweiligen Konfliktparteien zu pumpen. Beides gleichzeitig zu tun, hat sich als völlig kontraproduktiv für die Lösung des Konfliktes erwiesen. Eine politische Lösung kann nur von den Realitäten des Lebens beider Völker auf dem gleichen Territorium getragen sein.
Die Klagemauer als Reste des jüdischen Tempels und der Felsendom sowie die Al-Aksa-Moschee und die christliche Grabeskirche in Jerusalem symbolisieren die enge Verflechtung der Jahrtausende alten gemeinsamen und widersprüchlichen Geschichte von Juden, Arabern und Christen. Deshalb erscheint auch mir, langfristig, eine gemeinsame Staatsbürgerschaft, mit Schutzrechten für die jeweils anderen ethnischen und religiösen Bewohner Israels, die einzig sinnvolle Zukunftslösung, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Das wäre eine multiethnische und multireligiöse Lösung, unter dem Dach einer gemeinsamen Verfassung, wie sie in vielen Ländern der Erde bereits seit langem praktiziert wird und sich überall als zukunfts- und evolutionär ausbaufähig erwiesen hat.