Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wagte sich am 10. Januar aus der Deckung und warf sich wacker verbal mit einem Leitartikel hinter den abgefahrenen grünen Zug aufs Gleis. Danach folgten mehrere Leserbriefe im gleichen Tenor: Baerbocks drei Jahre lang praktizierte »feministische Außenpolitik« sei nicht nur peinlich gewesen, sondern habe »deutschen Interessen« geschadet. Unmittelbarer Anlass für diese Abrechnung war der Auftritt der Außenministerin in weißen Jeans in Damaskus, als ihr der Gastgeber demonstrativ den Handschlag verweigerte. Baerbock dazu? Sie habe »deutlich gemacht, dass man dieses Verhalten missbillige, sagte sie hinterher« (FAZ, 10. Januar). Wer ist »man«? Und: War nicht auch diese Reaktion anmaßend und übergriffig? Undiplomatisch war sie auf jeden Fall.
Helene »Leni« Berner (1904-1992) erzählte mir einmal, wie verärgert Friedrich Wolf war, als sie ihm die Kleiderordnung als Diplomat beibrachte. Sie hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren einen Modesalon in Berlin betrieben, doch eigentlich war sie Kundschafterin der sowjetischen Militäraufklärung, und ihr florierendes Geschäft am Ku’damm diente einzig dazu, Nachrichten von der Kundschaft zu gewinnen. Ihre Kundinnen waren mit Männern aus der politischen Klasse verheiratet und darum erstklassige Quellen. Kapitan (= Hauptmann) Berner kam 1945 mit der Roten Armee nach Berlin zurück und war vier Jahre lang in der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) tätig. 1949, nach Gründung der DDR, rekrutierte die DDR-Führung die Antifaschistin Berner als Etikette-Lehrerin im Außenministerium. Sie hatte schließlich mal einen Modesalon geführt, hieß es zur Begründung. Zehn Jahre lang war sie dann »Leiterin der Abteilung Schulung« im Ministerium, wie sich ihre Funktion nannte.
Der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf sollte als erster Botschafter der DDR nach Warschau gehen, widerwillig zwar, aber er ging. Sein Unmut zeigte sich auch in der zum Amt gehörenden Kleiderordnung, die ihm Leni Berner kundig beibrachte. Wolf weigerte sich, so sagte sie mir, einen bürgerlichen Frack oder einen Cut zu tragen. Solche Rudimente höfischen Verhaltens lehnte er prinzipiell ab. Trat der Sozialismus nicht an mit der Absicht, die kapitalistische Ausbeuterordnung in allen ihren Teilen zu überwinden? Und nun sollte er deren Regeln auch noch folgen? Am Ende unterwarf sich der Kommunist Wolf der Parteidisziplin und damit der verlangten Kleiderordnung, also den in der Diplomatie herrschenden bürgerlichen Umgangsformen …
Entweder gibt es im heutigen Auswärtigen Amt keine Person, die wie seinerzeit Leni Berner Einfluss auf den Dresscode der auswärtigen Repräsentanten des deutschen Staates nimmt, oder aber diese sind, anders als Friedrich Wolf, beratungsresistent. Vielleicht jedoch sind sie auch nur arrogant und blasiert, weil sie sich aufgrund ihres Amtes für allwissend und allmächtig halten, zumindest anderen überlegen fühlen. Man erinnere sich etwa an Außenminister-Dandy Heiko Maas, der im Juli 2019 ein von einem Wehrmachtsoldaten geraubtes Kunstwerk den Uffizien in Florenz mit Getöse zurückgab – mit schwarzer Krawatte und im schwarzen Hemd. Schwarzhemden gehörten in Mussolinis Italien zur Uniform der Faschisten-Miliz. Italiens Regierung schwieg damals indigniert über diesen Affront.
Die grüne Nachfolgerin im Amte trat mit falscher Bekleidung wiederholt in ähnliche Fettnäpfe. Erinnert sei nur an ihre Visite im vergangenen Jahr in Beijing, wo sie mit einem legeren Hosenanzug und anderen unhöflichen Gesten die Gastgeber verärgerte.
Im Kern allerdings geht es nicht um Kleidung und Verhalten, mit denen Baerbock demonstrativ mit diplomatischen Gepflogenheiten und Bräuchen bricht. Dahinter verbirgt sich eine Haltung der Anmaßung und Überheblichkeit. Und natürlich gestatten die Auftritte auch Rückschlüsse auf die vorhandene oder eben die fehlende Qualifikation, die jedes Amt erfordert. Speziell die nötigen Fähigkeiten fürs Auswärtige Amt, das sich, nebenbei, im Haus am Friedrichswerderschen Markt in Berlins Mitte befindet. Dort war bis 1989 der Sitz des Zentralkomitees der SED. Im Unterschied zum gegenüberliegenden Außenministerium der DDR, das sofort von den westdeutschen Okkupanten niedergerissen worden war, ließ man dieses Gebäude jedoch stehen. Vermutlich weil es in den dreißiger Jahren von der Reichsbank errichtet worden war. (Die Beteiligung dieser Institution an den Nazi-Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern – Stichwort Zahngold – hatte in Nürnberg zur Verurteilung auch des hier tätigen Reichsbankpräsidenten geführt. Das aber, wie gesagt, nur nebenbei. Es gibt selbstredend keine Verbindung zwischen der braunen Vergangenheit und der grünen Gegenwart des Hauses. Und ein Genius loci existiert auch nicht.)
Warum hat die politische Klasse der Bundesrepublik – deren Sprachrohr die FAZ ist – die offensichtliche Unfähigkeit der grünen Außenministerin oder des grünen Wirtschaftsministers Habeck nicht früher angesprochen? »Den Grünen wird zu Recht zugutegehalten, dass sie in der Ukraine entschlossener waren«, entschuldigt die FAZ, was – der diplomatischen Verhüllung entledigt – eigentlich heißt: Die grünen Transatlantiker haben den bedingungslosen Kriegskurs der Nato und deren Führungsmacht USA konsequenter als andere durchgesetzt. Das ist die einzige Erklärung, weshalb die von Anfang an erkennbar konzeptionslose grüne Außen- und Wirtschaftspolitik klaglos bis dato hingenommen worden war.
Die Diplomatie war (und ist noch immer) bei der Lösung des Ukraine-Konfliktes verabschiedet. Die oberste deutsche Diplomatin war führend auch daran beteiligt, dass aus dem Krieg des Westens gegen Russland propagandistisch »Putins Krieg« gemacht wurde. Die von ihr und ihrem Parteifreund Habeck verbreitete Mär, Russland habe Gas- und Öl-Lieferungen verweigert, hat sich inzwischen als Narrativ durchgesetzt. In Wahrheit haben maßgeblich die Grünen die Energie-Hähne zugedreht. Und als das den USA nicht rasch genug ging, sorgten diese dafür, dass die Ostsee-Pipelines gesprengt wurden.
Die politische Klasse hat Baerbocks Narreteien für eine »regelbasierte« Welt, ihr vorgebliches Engagement für Frauen- und Menschenrechte drei lange Jahre durchgehen lassen, solange davon nicht das Grundprinzip verletzt wurde, dass nämlich Außenpolitik der Durchsetzung nationaler Interessen zu dienen hat. Nationale Interessen sind vordringlich wirtschaftlicher Natur. Es geht nicht um Demokratie und Freiheit und andere Phrasen, nicht um die Belehrung anderer Staaten, wie diese zu leben und ihre Außenpolitik zu gestalten haben. Es geht einzig und allein um die Sicherung von Absatzmärkten und Rohstoffressourcen, also um Profitinteressen.
Der Baerbocksche Dilettantismus ignorierte diesen fundamentalen Zusammenhang. Wie eben »der Westen« es nicht begriffen hatte, dass die übrigen Staaten der Welt sich nicht mehr in ihre nationalen Belange reinreden lassen wollen. Selbstbewusst beginnen sie sich mit- und untereinander zu organisieren. Hätte die deutsche Außenpolitik beizeiten erkannt, dass es wirklich eine Zeitenwende gibt, und zwar eine globale, dann wäre diese auch nicht zu verhindern gewesen. Aber das AA hätte darauf wenigstens – in »deutschem Interesse« – strategisch reagieren können, sofern Intelligenz und diplomatisches Vermögen dort beheimatet gewesen wären.
Das halbe Jahrtausend eines kolonialen und postkolonialen Zeitalters geht zu Ende. Baerbocks grüne feministische Außenpolitik und Habecks grüne Wirtschaftspolitik sind darin nicht einmal Fußnoten gewesen. Oder um mit dem Satz des italienischen Fußballtrainers Trapattoni bei dessen Abrechnung mit der miserablen Spielweise seiner Mannschaft zu sprechen: »Die waren schwach wie eine Flasche leer!«