Der geniale Vorschlag kam von SPD-Innenministerin Nancy Faeser: Die Bundestagswahlen sollen künftig nur noch alle fünf Jahre stattfinden. Als demokratische Kompensation soll man im Gegenzug schon ab 16 Jahren wählen dürfen. Der lästige Gang zur Urne bleibt einem dann ein Jahr länger erspart, in den meisten Bundesländern ist das ohnehin schon der Fall. Solche Basteleien am Wahlrecht haben Tradition.
Im deutschen Kaiserreich gab es neben den Reichstagswahlen in jedem Teilstaat, fast alles konstitutionelle Monarchien, eigene Wahlen mit eigenständiger Wahlgesetzgebung. Das dominante Preußen mit seinem Dreiklassen-Wahlrecht hatte ein für heutige Verhältnisse arg plumpes System ersonnen, um das zarte Pflänzchen Demokratie klein zu halten. Die Wählerstimmen wurden unterschiedlich gewichtet. Drei Steuerklassen sorgten dafür, dass die Steuerleistung des Wählers darüber bestimmte, wie viel seine Stimme wert war. Wer wenig oder gar keine Steuern zahlte, dessen Stimme zählte daher bei der Wahl auch weniger. Zudem war die Wahl für die dritte Klasse nicht geheim. Die Wahlbeteiligung war daher vor allem in der unteren Klasse gering, was ja auch der Sinn der Sache war. Dazu kam, dass die Wahlen unter der Woche stattfanden, was für die arbeitende Bevölkerung ein zusätzliches Hindernis war, ebenso wie die weiten Wege, die die Landbevölkerung zurücklegen musste, um das nächste Wahllokal zu erreichen.
In den »modernen Demokratien« von heute werden raffiniertere Methoden angewendet, um den Wählerwillen in genehme Bahnen zu lenken. Fast alle Länder haben sogenannte »Sperrklauseln«, die einen bestimmten Prozentsatz der Wählerstimmen unter den Tisch fallen lassen. In Deutschland ist das die berüchtigte »Fünf-Prozent-Hürde«. Aber es geht noch besser: In der Türkei lag die Sperrklausel bei den Wahlen bis vor kurzem bei 10 Prozent, jetzt immer noch bei stolzen 7 Prozent. Bei der Europawahl hingegen liegt sie bei sehr demokratiefreundlichen 0,5 Prozent, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass die europäischen Parlamentarier zwar sehr gut bezahlt werden, aber die wahre Macht ohnehin bei den Regierungschefs liegt. Doch auch hier ist die derzeitige Regierung bestrebt, die Hürde auf wenigstens zwei Prozent zu erhöhen, vermutlich wegen der störenden Satirepartei »Die Partei« des Martin Sonneborn.
Natürlich darf heute jeder wählen gehen, offiziell wird dafür sogar heftig geworben. Dennoch sinkt die Wahlbeteiligung fast stetig, weil gerade diejenigen, die den unteren Klassen angehören, sich nicht mehr angesprochen fühlen. Womit wir wieder beim preußischen Klassenwahlrecht wären, diesmal freilich ganz ohne gesetzgeberische Maßnahme. Krokodilstränen über die niedrige Wahlbeteiligung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass einflussreiche Gruppen und die meisten Abgeordneten ein Interesse daran haben‚ »die Menschen draußen im Lande« auf Distanz zu halten.
In einigen Ländern gibt es eine Art Ping-Pong-Demokratie. Es existieren dann wie in den USA faktisch nur noch zwei Parteien, die sich mehr oder weniger regelmäßig mit dem Regieren abwechseln und deren Programmatik bis auf Kleinigkeiten wie Abtreibungsverbot oder Waffenbesitz nahezu identisch ist. In England wird bei den nächsten Wahlen sehr wahrscheinlich die Labour Party gewinnen, was aber für die Masse der Briten keinerlei Bedeutung haben wird. Den »Linksextremisten« Jeremy Corbyn hat man gerade noch rechtzeitig gegen den harmlosen Keir Starmer ausgewechselt, nichts wird sich ändern. Was passiert, wenn das Wahlvolk noch nicht ganz in die Resignation versunken ist, konnte man dieses Jahr in Frankreich beobachten: Mit dem Artikel 49.3 kann das Parlament notfalls umgangen werden, sodass Macron seine Rentenreform wie einst Ludwig XIV. per Dekret durchsetzen konnte. Der engagierte Wahlbürger darf zwar eine Demonstration anmelden und protestieren, aber die Protestzüge werden zunehmend von zahlreichen schwerbewaffneten Polizisten begleitetet, damit jedem klar wird: Mehr als Rituale werden nicht geduldet.
Auch die Debatten in den Parlamenten sind weitgehend zu Ritualen erstarrt, die Abgeordneten und Funktionsträger sind mittelmäßige Darsteller in einem Stück, das sich Demokratie nennt. Wen wundert es, dass man folgerichtig gerne auf Schauspieler zurückgreift, die sich im Rollenspiel auskennen. Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger, Boris Johnson (früher ein Laienschauspieler) und Wolodymyr Selenskyj beherrschen ihr Metier und wissen, wie man die Bürger beeindrucken kann. Inszenierte Politik gab es zwar schon früher, aber heute wirken Heerscharen gut bezahlter Spezialisten daran mit. Politiker werden professionell in Szene gesetzt, rhetorisch geschult und die äußere Erscheinung durch Stylisten perfektioniert. Wie schon im alten Preußen kommen die wenigsten Politiker und Abgeordnete aus der »dritten Klasse«, das Dreiklassenwahlrecht ist klammheimlich wieder auferstanden, dank einer völlig desillusionierten Wählerschaft, die entweder das vermeintlich kleinste Übel wählt, sich mit der Wahl von Rechtsextremen rächt, für Parteien stimmt, die unter die Quote fallen oder aber immer häufiger zuhause bleibt. Der Medienforscher Wolfgang Koschnick schreibt in seinem Buch »Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr: Abschied von einer Illusion« (Frankfurt 2017): »Wahlkämpfe dienen nicht mehr dazu, die Wähler zwischen Alternativen entscheiden zu lassen. Sie sind nichts als professionell inszenierte Spiele, für die Parteiführungen ausgesuchte politische Themen aufbereitet haben, die sie für die Bevölkerung von PR-Experten auf theatralische Weise in Szene setzen lassen. Wahlen dienen nur noch dazu, den demokratischen Schein zu wahren. Entscheidungen fallen andernorts.«
Durch den Ukrainekrieg tobt ein neuer »kalter Krieg« zwischen den Systemen, der demokratische Wertewesten gegen die totalitären Staaten im Osten. Die westlichen Demokratien rüsten auf, nicht nur militärisch. Die politischen Systeme rüsten auch gegen den inneren Feind, Bürgerrechte werden beschnitten, Überwachungssysteme werden ausgebaut. Und so nähert man sich klammheimlich jenen Systemen an, die man so eifrig kritisiert. Aber eigentlich geht es um die Machterhaltung der herrschenden Gruppen, um Privilegien, um viel Geld. Ein neuer Adel hat die Gesellschaften refeudalisiert, die heutige Noblesse ist kaum mehr durch edle Geburt entstanden, sondern durch Anhäufung von Reichtümern, deren Herkunft keine Rolle spielt. Selbst die kommunistische Partei Chinas ist – nüchtern betrachtet – eine Art neuer Adel, die kommunistischen Ideale sind weitgehend zur Liturgie verkommen. Was früher die Religion absicherte, ist heute ein von den herrschenden Klassen definiertes politisches System, zu dem es sich zu bekennen gilt.
Auch in Deutschland wird das politische System entsprechend nachjustiert, wenn Herrschaftsansprüche gefährdet sind. Koschnick spricht von einem »oligarchischen Feudalsystem«, welches de facto von »privilegierten Wirtschaftseliten« kontrolliert wird. Die indische Publizistin Arundhati Roy präzisiert: »In Ländern der ersten Welt wurden die demokratischen Mechanismen wirksam unterwandert. Politiker, Medienzaren, Richter, mächtige Konzern-Lobbys und Regierungsbeamte pflegen untereinander diskrete, clever verzahnte wechselseitige Beziehungen und unterminieren dadurch die laterale Balance der Gewaltenteilung zwischen Verfassung, Gerichten, Parlament, Regierung und den unabhängigen Medien als struktureller Basis der parlamentarischen Demokratie. Zunehmend wird bei dieser Verzahnung auf Subtilität oder sorgfältig erdachte Verschleierung verzichtet.«
Die Parlamentarier in den westlichen Demokratien gehören fast durchweg jener Schicht an, die man Besserverdienende nennt. Besonders krass manifestiert sich das im US-Kongress, dort sind 268 von 534 Abgeordneten Millionäre. Im deutschen Bundestag hält sich die Zahl der Millionäre in Grenzen, aber wer einmal Mitglied des Hohen Hauses geworden ist, kann sich über üppige Zuwendungen und Privilegien freuen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die meisten Abgeordneten strikt an den Leitlinien der entsprechenden Parteigremien orientieren, selbst wenn sie zuvor eine eigene Meinung hatten. Ohne die Partei geht nichts, der Fraktionszwang diszipliniert den Abweichler, der weiß, dass er bei der nächsten Wahl vielleicht nicht mehr aufgestellt wird.
Der wichtigste Ort im Parlament ist ohnehin nicht der Plenarsaal, der bei Berichten im Fernsehen so oft durch die vielen leeren Sitze beeindruckt. Es ist vielmehr jene Wandelhalle, die in angelsächsischen Parlamenten traditionell als »Lobby« bezeichnet wird. Hier treffen sich die wirklich Einflussreichen mit den Volksvertretern, um ihre Interessen durchzusetzen, wobei heutzutage es für die mächtigen Influencer keiner Wandelhalle mehr bedarf.
»Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Das Zitat soll von Walter Ulbricht stammen, aber für die korrumpierten Demokratien gilt der Satz genauso.
Im Grunde hat sich seit dem Ende des preußischen Königreichs und dessen Wahlsystem gar nicht so viel geändert. Die Parlamentarier sind damals wie heute eine Elite, die sich für den Großteil ihres Wahlvolkes nicht interessiert. Noch einmal Wolfgang Koschnick: »Es ist eine politische Kaste mit eigenen Gewohnheiten, Ressourcen, Interessen und klarer Abgrenzung vom Rest der Bevölkerung. Sie dient auch nicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern nur der verschwindend kleinen Minderheit der Reichen und Superreichen. Sie sind die willigen Helfer und Helfershelfer des Kapitals. Und so herrscht allenthalben ein merkwürdiger Gegensatz: Alle Menschen lieben die Demokratie als Prinzip und Ideal. Aber über den demokratischen Alltag sind sie entsetzt, ja angewidert.«