»Geigentöne statt Kriegsgedröhne«, »A-Moll statt A-Müll« oder »Aufspielen statt Abschieben«. Mit diesen und anderen phantasievollen Wortspielen als Motto agiert die Gruppe »Lebenslaute« inzwischen länger als 30 Jahre. Sie lässt überall dort klassische Musik erklingen, wo sich politischer Protest formiert. Jahr für Jahr musizieren und singen die locker vernetzten Lebenslauten in großer und kleiner Besetzung gegen lebensfeindliche Politik und Gefahren an. Dafür sind die Hobby- und ProfimusikerInnen 2014 mit dem Aachener Friedenspreis geehrt worden.
Bei ihren Auftritten setzen sie bewusst auch auf Aktionen gewaltfreien zivilen Ungehorsams, die sie basisdemokratisch im Konsens planen und neben ihren Orchester- und Chorproben akribisch vorbereiten. Spektakulär war ihre »musikalische Inspektion« im August 2009, als nach einem Konzert in der Dannenberger Johanniskirche 120 MusikerInnen mit ihren Instrumenten die vier Meter hohe Mauer um das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben überstiegen. Unter den Augen und Ohren der überraschten Polizei gaben sie auf dem Gelände ein ungenehmigtes Open-Air-Konzert: »A-Moll statt A-Müll«. Der Beifall vieler ZuhörerInnen feierte sie von der anderen Seite der Mauer, die im Rahmen der Energiewende inzwischen abgerissen worden ist.
»Lebenslaute« hat ihre Interventionen jetzt in einem großformatigen Buch dokumentiert mit dem Titel: »Widerständige Musik an unmöglichen Orten«. Mehr als 30 AktivistInnen erinnern sich in kürzeren und längeren Texten an ihre Konzerte und Begegnungen, ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste. Die Texte sind subjektiv und vielfach so anrührend geschrieben, dass sie dem Leser ein Lächeln ins Gesicht zaubern. So entfaltet sich die besondere Wirkung der lebenslauten Musikanten auch beim Stöbern in den liebevoll gestalteten und reich bebilderten 250 Seiten ihres Buches. Eine beiliegende DVD erweckt einige Aktionen in Kurzfilmen zum Leben und macht sie hörbar.
Abgedruckt sind auch Faksimiles historischer Dokumente. 1994 schreibt zum Beispiel eine Aktivistin an die Polizei: »Da diese Aktion, die nicht auf Eskalation angelegt ist, viele Menschen anziehen wird, besonders auch Kinder, möchten wir Sie bitten, Ihre Einsatzkräfte so zurückhaltend wie möglich einzusetzen. Darüber hinaus möchten wir vermeiden, dass es zu unschönen Szenen im Umgang mit den Instrumenten kommt. Viele der TeilnehmerInnen sind ProfimusikerInnen und leben von ihrem Instrument.«
Das »Lebenslaute«-Herausgeberteam – Gerd Büntzly, Hedwig Sauer-Gürth, Katja Tempel, Andreas und Sabine Will – hat ein faszinierendes Kaleidoskop komponiert, ihm ist eine ganz besondere Chronik des außerparlamentarischen Protestes in Deutschland seit 1986 gelungen. Damals hat »Lebenslaute« die Sitzblockaden der Friedensbewegung erstmals mit einer »Konzertblockade« in Mutlangen unterstützt, um vor der Militärbasis ein Zeichen gegen die Pershing-II-Atomraketen zu setzen, die dann im Rahmen des zwischen der UdSSR und den USA abgeschlossenen INF-Abrüstungsvertrages verschrottet wurden.
Und falls immer noch jemand zweifeln sollte, dass lebenslaute Musik Wirkung entfalten kann, der lese »Die Schneeflocke«. Katinka Poensgen hat diese ihre »Lieblingsgeschichte« an das Ende ihrer Erinnerungen an ein Konzert 2011 im Leipziger Flughafen (»Piano und Forte statt Kriegstransporte«) gestellt: ›Da fragt die Meise die Taube, wie viel eine Schneeflocke wiegt. Nicht mehr als ein Nichts, antwortet die Taube. Da erzählt ihr die Meise, wie sie einmal die Schneeflocken zählte, die auf einen Tannenzweig fielen – und als die dreimillionensiebenhundertundvierzigtausendneunhundertdreiundfünzigste Flocke niederfiel, nicht mehr als ein Nichts, brach der Ast ab.‹ Damit flog die Meise davon – und die Taube, seit Noahs Zeiten Spezialistin in dieser Frage, sagte sich nach kurzem Nachdenken: Vielleicht fehlt nur die Stimme eines einzigen Menschen zum Frieden in der Welt.«
Lebenslaute (Hg.): »Widerständige Musik an unmöglichen Orten. 33 Jahre Lebenslaute«, Verlag Graswurzelrevolution, 249 Seiten und DVD, 25 €