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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Werner Finck und Görlitz

Gör­litz ist eine gera­de­zu irri­tie­rend schö­ne Stadt. Sie liegt am öst­li­chen Rand der Repu­blik, an der Lau­sit­zer Nei­ße, die seit 1945 die Gren­ze zu Polen bil­det. Im zwei­ten Welt­krieg blieb sie von Zer­stö­run­gen fast völ­lig ver­schont. Ein­hei­mi­sche wie Besu­cher lie­ben die vor allem die Alt­stadt, deren Gebäu­de aus ver­schie­de­nen Epo­chen stam­men und eine Viel­falt an Archi­tek­tur­sti­len auf­wei­sen. Die spät­go­ti­sche Peters­kir­che zeich­net sich durch ihre zwei Tür­me und die Son­nen­or­gel aus dem frü­hen 18. Jahr­hun­dert aus, der aus der Früh­re­nais­sance stam­men­de Schön­hof und die angren­zen­den Gebäu­de beher­ber­gen das Schle­si­sche Muse­um mit sehens­wer­ten Aus­stel­lun­gen zur deut­schen, pol­ni­schen und tsche­chi­schen Geschich­te. Umge­ben ist die Alt­stadt von aus­ge­dehn­ten Grün­der­zeit­vier­teln. Es gibt also viel zu ent­decken in Gör­litz, das für sich in Anspruch neh­men darf, als flä­chen­größ­tes zusam­men­hän­gen­des Denk­mal­ge­biet Deutsch­lands zu gel­ten. Die­sem Stadt­bild ver­dankt Gör­litz auch sei­nen Sta­tus als belieb­te und häu­fig genutz­te Film­ku­lis­se. Inter­na­tio­na­le Film­pro­du­zen­ten schwär­men von »Gör­li­wood« in Germany.

Mehr als 55 000 Men­schen füh­len sich in Gör­litz zuhau­se. Beson­ders vie­le Senio­ren. Es lässt sich hier gut leben: Die Innen­stadt lädt mit vie­len Plät­zen eben­so zum Spa­zie­ren ein wie die Parks der Stadt. Der Nah­ver­kehr mit Bus und Stra­ßen­bahn funk­tio­niert, gün­sti­ge Woh­nun­gen sind zu haben, als Kauf oder zur Mie­te. Für eine gro­ße 110 Qua­drat­me­ter-Woh­nung in einem sanier­ten Grün­der­zeit­haus zahlt man rund 700 Euro monat­li­che Kalt­mie­te. Woh­nen zu gün­sti­gen Prei­sen inmit­ten der vie­len histo­ri­schen Gebäu­den, man fühlt sich bis­wei­len wie in der »guten alten Zeit«.

Aber nicht nur Senio­ren lockt die Stadt an: Für einen spür­ba­ren Zuzug sor­gen vor allem neue, attrak­tiv Arbeits­plät­ze. In den letz­ten Jah­ren hat sich die Stadt zu einem aner­kann­ten inter­dis­zi­pli­nä­ren For­schungs­stand­ort ent­wickelt. Neben Hoch­schu­le und Uni­ver­si­tät sind nam­haf­te wis­sen­schaft­li­che Insti­tu­te wie Fraun­ho­fer, Helm­holtz, Leib­niz, Sen­cken­berg oder CASUS ver­tre­ten. Mit dem Deut­schen Zen­trum für Astro­phy­sik (DZA) ent­steht ein natio­na­les Groß­for­schungs­zen­trum mit inter­na­tio­na­ler Strahl­kraft und rund 1000 Arbeits­plät­zen. Und weil die Poli­tik das Land »wehr­tüch­tig« machen möch­te, plant der deutsch-fran­zö­si­sche Rüstungs­kon­zern KNDS, vor der Stadt Pan­zer zu bau­en, und über­nimmt dafür ein dor­ti­ges Werk des fran­zö­si­schen Zug­her­stel­lers Alstom. Kurz­um, es gibt viel Zukunft in Görlitz.

Und auch das soll Erwäh­nung fin­den: Mit Zgor­zel­ec, dem auf der öst­li­chen Sei­te der Nei­ße gele­ge­nen pol­ni­schen Stadt­teil, hat sich Gör­litz 1998 zur Euro­pa­stadt erklärt und lie­fert so ein ermu­ti­gen­des Bei­spiel dafür, wie die Men­schen zwei­er Natio­nen Gren­zen über­win­den kön­nen Die bei­den Städ­te ste­hen wie nur weni­ge Städ­te in Euro­pa auch unmit­tel­bar für die euro­päi­sche Geschich­te: Tren­nung nach dem zwei­ten Welt­krieg, zag­haf­te Annä­he­rung, geschlos­se­ne Gren­zen und inten­si­ve gemein­sa­me Ent­wick­lun­gen seit der poli­ti­schen Wen­de in der dama­li­gen DDR im Jahr 1989.

Ob für Neu-Bür­ger, Ein­hei­mi­sche oder Tou­ri­sten: Gör­litz hat aus­ge­zeich­ne­te Refe­ren­zen. Die Stadt ist ein gro­ßes Zukunfts­ver­spre­chen – wären da nicht die Nie­de­run­gen der Poli­tik. Min­de­stens die Hälf­te der Ein­woh­ner­schaft hadert mit der Tat­sa­che, dass bei­na­he die ande­re Hälf­te bei der letz­ten Bun­des­tags­wahl einer popu­li­sti­schen Par­tei ihre Stim­me gege­ben hat, die der Säch­si­sche Ver­fas­sungs­schutz als gesi­chert »zu Tei­len rechts­extre­mi­stisch« ein­stuft. 46,7 Pro­zent der Zwei­stim­men hat die AfD bekom­men. Lan­des­weit ein Spit­zen­wert. Das Direkt­man­dat gewann mit 48.9 Pro­zent deren Par­tei­vor­sit­zen­der, ein Mann, der Deutsch­land »im Nie­der­gang« sieht und dafür ein­tritt, gegen den »Ansturm von Flücht­lin­gen« die Gren­zen »not­falls mit Waf­fen­ge­walt« zu ver­tei­di­gen. In Gör­litz leben gera­de ein­mal 6,7 Pro­zent aus­län­di­sche Mit­bür­ger, über­wie­gend Arbeits­kräf­te aus dem nahen Polen und aus Tschechien.

Was geht da vor, wenn in einer Stadt, die als eine der schön­sten im Land gilt, in der augen­schein­lich Vie­les vor­an geht, die sich als geleb­tes Sym­bol für ein frei­es, offe­nes Euro­pa ver­steht – wenn aus­ge­rech­net hier eine rechts-popu­li­sti­sche Par­tei mit gro­ßem Vor­sprung gewählt wird? Wirk­lich­keits-Ver­wei­ge­rung, Demokratie-Verhöhnung?

Einer, der hier Ant­wor­ten geben könn­te, lebt nicht mehr. Er ist gebür­ti­ger Gör­lit­zer, hat vie­le klu­ge Tex­te, meh­re­re erkennt­nis­rei­che Bücher geschrie­ben und zahl­rei­che Kaba­rett-Pro­gram­me ver­fasst – aber in sei­ner Geburts­stadt will sich nie­mand mehr so recht an ihn erin­nern: Wer­ner Fin­ck. Die Stadt­ge­sell­schaft hat ihn ver­ges­sen und will ihn ver­ges­sen machen.

Am 2. Mai 1902 wird Wer­ner Fin­ck in Gör­litz als Sohn eines Apo­the­kers gebo­ren, besucht in sei­ner Geburts­stadt das Gym­na­si­um. Nach meh­re­ren Jah­ren als wan­dern­der Mär­chen­er­zäh­ler, in Lai­en­spiel­grup­pen und nach Enga­ge­ments als Schau­spie­ler von 1925 bis 1928 am Schle­si­schen Lan­des­thea­ter Bunz­lau und am Hes­si­schen Lan­des­thea­ter Darm­stadt, geht er 1929 nach Ber­lin. Hier erlangt er in dem Kaba­rett »Kata­kom­be« rasch gro­ße Popu­la­ri­tät. Er bespöt­telt die Ver­hält­nis­se sei­ner Zeit und rich­tet sei­nen Wort­witz auch nach 1933 gegen die füh­ren­den Ver­tre­ter des Natio­nal­so­zia­lis­mus. »Ein, Volk, ein Reich, ein Irr­tum« – knap­per und bis­si­ger geht es kaum.

Fin­ck ist ein »über­zeug­ter Indi­vi­dua­list«, was frei­lich für Kon­flik­te mit den Natio­nal­so­zia­li­sten schon aus­reicht. Er agiert nach dem Mot­to »sich den Kopf nicht ver­bie­ten zu las­sen, ihn aber auch nicht zu ver­lie­ren«. Sei­ne rhe­to­ri­sche Metho­de beruht auf nicht zu Ende gespro­che­nen Sät­zen, hin­ter­sin­ni­gen Dop­pel­deu­tig­kei­ten und auf dem ent­lar­ven­den »Wort­wört­lich-Neh­men«, etwa: »Kom­men Sie mit? Oder muss ich mit­kom­men«, fragt er Gesta­po-Beam­te, die sich wäh­rend sei­nes Auf­tritts in der »Kata­kom­be« Noti­zen machen.

Ende 1934 wird das Kaba­rett von den Nazis geschlos­sen, und Fin­ck wird gemein­sam mit dem Zeich­ner Wal­ter Traut­schold und dem Schau­spie­ler Hein­rich Gie­sen fest­ge­nom­men. Nach Ver­hö­ren im Gehei­men Staat­po­li­zei­amt wird er inhaf­tiert und ist anschlie­ßend nach einer Ent­schei­dung von Reichs­mi­ni­ster Joseph Goeb­bels »für die Dau­er von sechs Wochen in ein Lager mit kör­per­li­cher Arbeit zu über­füh­ren«. Fin­ck kommt in das KZ Ester­we­gen. Dort wird er am 1. Juli 1935 ent­las­sen. Eine Ankla­ge wegen eines Ver­sto­ßes gegen das »Heim­tücke­ge­setz« vor dem Ber­li­ner Son­der­ge­richt endet zwar nicht mit einer Ver­ur­tei­lung, Fin­ck darf jedoch nur noch unter Auf­la­gen als Schau­spie­ler arbei­ten, bis er Anfang 1939 frist­los ent­las­sen wird. Bei Kriegs­be­ginn mel­det er sich zur Wehr­macht, kann das Kriegs­en­de, zuletzt als Sol­dat an der ita­lie­ni­schen Front, mit viel Glück über­le­ben. Sein per­sön­li­ches Kriegs­en­de hat er spä­ter so beschrie­ben: »Ich bin also erst­mal auf Schreib­stu­be gegan­gen und habe gefragt, ob noch was wäre. Und erst als man mir sag­te, nein, es hät­te sich erle­digt, gab ich mich dem wohl­ver­dien­ten Zusam­men­bruch hin.«

Nach der Ent­las­sung aus der ame­ri­ka­ni­schen Kriegs­ge­fan­gen­schaft am 3. Okto­ber 1945 arbei­tet er wie­der als Thea­ter- und Film­schau­spie­ler und als Kaba­ret­tist sowie für das Fern­se­hen. Bis 1949 gibt er mit ande­ren Das Wes­pen­nest, die erste deut­sche sati­ri­sche Zeit­schrift nach dem Zwei­ten Welt­krieg, her­aus. In den Fol­ge­jah­ren tourt er durch die jun­ge Bun­des­re­pu­blik. In sei­nem Solo­pro­gramm will er der »Zer­set­zung der Humor­lo­sig­keit im öffent­li­chen Leben« den Weg berei­ten. 1950 erfolgt in der Ber­li­ner »Tabern aca­de­mica« die Grün­dung einer Art von Par­tei, die sich Radi­ka­le Mit­te nennt. »Zum Kum­mer der Grün­der muss­te das Gan­ze, weil es ja kei­ne Par­tei sein will, als Ver­ein ein­ge­tra­gen wer­den. Ziel und Zweck: Ent­gif­tung des poli­ti­schen Lebens.« Auf den Büh­nen tritt er mit schril­len Pro­gramm-Slo­gans wie »Gegen Kom­pro­miss­lo­sig­keit« oder »Für Auf­rü­stung der Tole­ranz« in Erschei­nung und wählt die Sicher­heits­na­del unter dem Revers des Sak­kos als Par­tei­ab­zei­chen und das wei­ße Tisch­tuch als Par­tei­fah­ne, um gegen den »Ernst der Zeit« (Ade­nau­er) der deut­schen Nach­kriegs­po­li­tik anzu­tre­ten. 1962 wird Wer­ner Fin­ck ordent­li­ches Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie der Dar­stel­len­den Kün­ste. 1964 folg­te sein Pro­gramm »Bewäl­tig­te Befan­gen­heit« in der Münch­ner Lach- und Schieß­ge­sell­schaft, zahl­rei­che Fern­seh­auf­trit­te schlie­ßen sich an. Sechs Jah­re vor sei­nem Tod erscheint 1972 sei­ne Auto­bio­gra­fie Alter Narr – was nun? – dar­in fin­det sich ein Satz, der als Mot­to nicht nur für sei­ne Künst­ler-Exi­stenz Beleg ist: »Ich habe in mei­nem Leben sehr viel gehal­ten, aber nicht den Mund.«

Wer­ner Fin­ck stirbt am 31. Juli 1978 in Mün­chen, im Stadt­teil Ramers­dorf ist eine Stra­ße nach ihm benannt. In Mainz ist ihm ein Stern im »Walk of Fame des Kaba­retts« gewid­met. In sei­ner Geburts­stadt aber ist er, einer der größ­ten Söh­ne der Stadt, bei vie­len ver­ges­sen. Das soll sich ändern. Eini­ge Gör­lit­zer – Unter­neh­mer, Künst­ler und Akteu­re der Stadt­ge­sell­schaft – wol­len dafür sor­gen, dass der gro­ße Wort­künst­ler und Tra­gik-Komi­ker nun eine über­fäl­li­ge Wür­di­gung erfährt. Er, der einst sei­ne Hei­mat­stadt mit den Wor­ten ver­schon­te: »Das Tadeln mei­ner klei­nen Stadt über­las­se ich den Söh­nen der Welt­städ­te. Wir aus den klein­bür­ger­li­chen Städ­ten müs­sen zusam­men­hal­ten.« Und wel­cher Ort wäre hier bes­ser geeig­net als der Platz vor dem Thea­ter der Stadt, das den Namen Ger­hard Haupt­manns trägt. Im Volks­mund wird der Bau auf Grund der opu­len­ten Innen­aus­stat­tung »Klei­ne Sem­per­oper« genannt. Ein ein­fa­ches Schild soll dann Ein­hei­mi­sche und Besu­cher dar­auf hin­wei­sen, wer die­ser Wer­ner Fin­ck war: »Ein muti­ger Mann – ein Künst­ler, der die Frei­heit des Wor­tes lieb­te und ver­tei­dig­te. Gebo­ren in Görlitz.«