Lange gab es eine Fehlstelle in der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Das hatte den Literaturkritiker Heinz Ludwig Arnold dazu veranlasst, ironisch zu fragen, ob denn in der Bundesrepublik überhaupt nicht gearbeitet werde. Am 7. März 1970, also vor 50 Jahren, wurde in Köln der »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« gegründet. Bis etwa Mitte der achtziger Jahre war die Autorengruppe ein beachtenswerter Faktor in der Literaturszene der damaligen Bundesrepublik mit teilweise hohen Auflagen ihrer Bücher. Vorausgegangen war ein heftiger Streit in der bekannten »Dortmunder Gruppe 61«, die das Thema Arbeitswelt in der noch jungen Bundesrepublik überhaupt salonfähig gemacht hatte. Deren Mitstreiter waren schnell bekannt geworden. Aber die Gruppe wollte das Thema nur darstellen; mittels Literatur Veränderungen im Interesse der Arbeiter zu erreichen, war nicht ihr erklärtes Ziel. Das aber wollte eine Minderheit in der Gruppe, die sich um den Kölner Autor Erasmus Schöfer scharte, und als es keine Einigung gab, kam es zur Spaltung. Der Werkkreis begriff sich von Anfang an als eine Gruppe, die die Kämpfe der Arbeiter literarisch begleiten wollte, anfangs mit eher hölzernen Agitproptexten, dann aber sehr schnell mit literarisch anspruchsvollen Romanen, Erzählungen und Gedichten. Als politische Orientierung galt ihr dabei das Gewerkschaftsprogramm, auf das sich die unterschiedlichen Strömungen, die sich im Werkkreis zusammenfanden, einigen konnten: Parteilose, SPD- und DKP-Mitglieder.
Der Werkkreis bestand zu besten Zeiten aus einem guten Dutzend Werkstätten in nahezu allen Großstädten, in denen sich Arbeiter, Studenten, Angestellte und Schriftsteller trafen, um gemeinsam Texte zu besprechen und zu verbessern. In Dortmund wurde die Gruppe von dem Lyriker Paul Polte geleitet, einem proletarischen Erich Kästner, der mit dem Maler Hans Tombrock befreundet war und der wiederum mit Brecht. »Wer hat heute was zu lesen mit?«, fragte Polte zu Beginn jeder Sitzung, dann wurde gelesen und hart, manchmal knallhart kritisiert. Keinem der Mitglieder ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was abhärtete für die Zukunft, als aus den Werkkreisautoren langst Einzelkämpfer geworden waren. Im zweiten Teil der Sitzungen wurden Buchprojekte geplant, etwa für die Fischer-Taschenbuch-Reihe des Werkkreises, in der über 50 Erzählbände, Romane und Reportagen erschienen mit einer Gesamtauflage von über einer Million. Die Werkstatt Dortmund gab drei dieser Bände heraus, unter anderem zum Thema Sport und zum Altern in einer kapitalistischen Gesellschaft. Das geschah in einer späteren Phase, als der Werkkreis den engen Begriff der Arbeitswelt als Ort der Produktion schon hinter sich gelassen hatte und die gesamte Gesellschaft in den Blick nahm, aber eben aus der Perspektive der Arbeiter.
Da es schwer war, die Arbeitenden für Lesungen zu gewinnen, probte der Werkkreis immer neue Möglichkeiten der Verbreitung seiner Literatur. Alles folgte dem Motto: Wenn die Arbeiter nicht zu uns kommen, dann gehen wir zu ihnen. In Fußgängerzonen wurde gelesen, vor Fabriktoren wurden Flugblätter mit Gedichten verteilt, wobei den Werkkreisautoren durchaus bewusst war, hier den Spuren von Büchner zu folgen. Die Dortmunder Werkstatt veranstaltete auch Kneipenlesungen. Für freitags wurden sie mit einem großen Plakat in den Kneipen angekündigt, dann lasen die Autoren an der Theke, und meistens wurden auch noch Arbeiterlieder gesungen, weil ein Musiker mitkam. Es wurden Stempel mit Kurzgedichten hergestellt, mit denen sich die Zuhörer bei Lesungen ihr Lieblingsgedicht auf einem Bierdeckel selber drucken konnten Es war eine anregende Zeit, in der sich viele literarische Talente entwickelten, die heute in der Literaturszene ihre Frau beziehungsweise ihren Mann stehen.
Die Krise des Werkkreises kam Anfang der achtziger Jahre, nicht allein weil das politische Interesse, gespeist von der Studentenrevolte von 1968, langsam nachließ. Nein, der Werkkreis hatte auch innere Probleme, die sich aus seinem Grundverständnis erklären.
In seiner Broschüre »Realistisch schreiben« hatte der Werkkreis eine Definition von Realismus entwickelt, die aus drei Grundfragen bestand: Was ist? Warum ist es so? Wie könnte es besser sein? Als eine Grundorientierung hätten die Fragen vielleicht nützlich sein können, aber sie wurden von allzu vielen Werkkreisautoren als verbindlich angesehen. In jeder Erzählung, in jedem Gedicht versuchten einige, die drei Fragen zu beantworten, was zu einer schematischen, zwanghaften, nicht zuletzt langweiligen Literatur führte. Ein Lehrer sagte mal nach einer Lesung vor einer Schulklasse: »Eure Texte kann man nicht mit Schülern besprechen. Man kann nur sagen: So ist es, und dann zum nächsten Text übergehen.« Diese Tendenz verstärkte die Meinung mancher Kritiker, dass Werkkreisliteratur zweitklassig sei, was für viele Texte aber nicht stimmte.
Hinzu kam ein zweites Problem. Der Werkkreis war offen für neue Mitglieder, das wollte er auch sein. Die Gründungsmitglieder entwickelten sich, sie wurden literarisch besser, aber die Arbeit mit den Anfängern absorbierte während der Sitzungen Kraft. Ein Qualitätsgefälle tat sich auf, das nicht zu überbrücken war. Die Auflagen der Taschenbücher in der Fischer-Reihe sanken, schließlich kündigte der Verlag den Vertrag, dem Werkkreis wurde dadurch seine Plattform genommen. Kleinere Verlage sprangen gelegentlich in die Bresche, manche Werkstätten brachten Eigendrucke heraus, aber das alles war längst nicht mehr das, was den Werkkreis zehn Jahre lang ausgemacht hatte. Eine Werkstatt nach der anderen löste sich auf, der Zusammenhalt ging verloren, eine Marginalisierung war die Folge.
Aber zuletzt gab es Anzeichen einer Wiederbelebung, kein Wunder, denn die Probleme in der Arbeitswelt sind ja nicht gelöst worden, im Gegenteil, durch Leiharbeit, durch den Niedriglohnsektor hat sich die Lage der Arbeitenden vielfach verschlechtert. Längst wäre so etwas wie eine Werkkreisliteratur wieder wichtig. Als 2017 der PEN seine Jahrestagung in Dortmund abhielt, dort, wo dereinst die Dortmunder Gruppe 61 getagt hatte, zu der PEN-Mitglieder wie von der Grün, Reding, Käufer und Wallraff gehört hatten, wurden in einer großen Podiumsdiskussion, unter anderem mit DGB-Chef Reiner Hoffmann, das alte Thema wieder diskutiert. Zu diesem Zweck erschien im Oberhausener Asso-Verlag eine neue Anthologie zur Arbeitswelt mit dem Titel »Schichtwechsel«, die bei der Veranstaltung erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Inzwischen ist in einem anderen Verlag das brennende Thema der Digitalisierung bearbeitet worden: »Nachdenken über 4.0«, herausgegeben vom Werkkreis.
Es geht also weiter. Und die literarische Qualität der Bücher kann sich sehen lassen.