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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer will unter die Soldaten?

Wes­halb töten Sie mich? – Wes­halb? Woh­nen Sie nicht jen­seits des Was­sers? Mein Lie­ber, wür­den Sie dies­seits woh­nen, wäre ich ein Mör­der, und es wäre ein Ver­bre­chen Sie sol­cher­art zu töten; da Sie aber am ande­ren Ufer woh­nen, bin ich ein Held, und was ich tue, ist recht. (Blai­se Pas­cal, Gedan­ken)

Der deut­sche Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Pisto­ri­us hat im Bun­des­tag eine Rede für sei­nen Etat gehal­ten, die nach Zei­tungs­mel­dun­gen demo­kra­ti­scher Blät­ter »den aller­größ­ten Ein­druck« auf die Par­tei­en gemacht hat. – An die­sem Satz stim­men zwei Din­ge nicht. Statt Bun­des­tag muss es hei­ßen »Reichs­tag«, und statt Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Pisto­ri­us heißt es im 1925 ver­öf­fent­lich­ten Text Ein deut­scher Reichs­wehr­mi­ni­ster von Kurt Tuchol­sky »Kriegs­mi­ni­ster Geß­ler«. Aber auch Pisto­ri­us macht »den aller­größ­ten Ein­druck«, er gilt in allen Ran­king­li­sten aller »demo­kra­ti­schen Blät­ter« als der gegen­wär­tig belieb­te­ste deut­sche Poli­ti­ker. Man­che in der SPD wür­den ihn am lieb­sten sofort zum Kanz­ler machen. Wenn Krieg ist, liebt man nie­man­den aus dem poli­ti­schen Per­so­nal so sehr wie den Kriegs­mi­ni­ster. Der kennt sich aus. Meint man. Und wenn er halb­wegs weiß, wie man auf­tre­ten und vor Mikros und Kame­ras daher­re­den muss, wie man mit »sei­nen Sol­da­ten« umge­hen muss, dann macht das eben »den aller­größ­ten Ein­druck«. Auch Krieg sorgt – gera­de dann, wenn er noch gar nicht erklärt ist, wenn es nur zu ihm kom­men könn­te – für posi­ti­ve Public Rela­ti­ons. Es ist so wahr wie trau­rig, dass Krieg (auch als blo­ße Mög­lich­keit) zu blin­der Popu­la­ri­tät führt. Die histo­ri­schen und aktu­el­len Bei­spie­le sind zahl­los und berüch­tigt. Und das Intel­li­genz-Niveau der Regie­ren­den in aller Welt ist seit August 1914 nicht erkenn­bar bes­ser geworden.

Viel­leicht bleibt des­halb Tuchol­skys Behaup­tung »Sol­da­ten sind Mör­der« (aus dem Text Der bewach­te Kriegs­schau­platz von 1931) ein ewi­ger Sta­chel im Fleisch des Mili­ta­ris­mus, auch wenn sie nicht stimmt. Aber nicht etwa, weil es vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt trotz uner­müd­li­cher Bemü­hun­gen so vie­ler Staats­an­walt­schaf­ten im Lan­de, den Satz unter Stra­fe zu stel­len, er immer wie­der unter den Schutz des Arti­kels 5 im Grund­ge­setz (Mei­nungs­frei­heit) gestellt wur­de. Genau genom­men sind Sol­da­ten schlim­mer als Mörder.

Im Kant-Gedenk­jahr zitie­ren Poli­ti­ker (z. B. Olaf Scholz als Fest­red­ner in der Ber­lin-Bran­den­bur­ger Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten am 22.04.2024) ger­ne Kants Schrift Zum ewi­gen Frie­den, wobei sie in ihrer intel­lek­tu­el­len Unred­lich­keit eine ent­schei­den­de For­de­rung des Phi­lo­so­phen natur­ge­mäß weg­las­sen: »Ste­hen­de Hee­re sol­len mit der Zeit ganz auf­hö­ren.« Nicht nur die Bun­des­re­gie­rung strebt das genaue Gegen­teil an. Alle Regie­run­gen ver­wei­gern sich Kants Vor­schlag hart­näckig. Der belieb­te Pisto­ri­us will nun die all­ge­mei­ne Wehr­pflicht wie­der ein­füh­ren. Ver­mut­lich ken­nen weder er noch Scholz Kants For­mu­lie­rung des »kate­go­ri­schen Impe­ra­tivs« aus der Grund­le­gung zur Meta­phy­sik der Sit­ten: »Hand­le so, dass du die Mensch­heit sowohl in dei­ner Per­son, als in der Per­son eines jeden andern jeder­zeit zugleich als Zweck, nie­mals bloß als Mit­tel brauchst.« Das ist ein abso­lu­tes Ver­bot der Ver­ding­li­chung von Men­schen, zum Bei­spiel zu Tötungsinstru­men­ten eines Staa­tes. Sol­da­ten sind aber nichts ande­res als staat­li­che Tötungs­in­stru­men­te, deren allei­ni­ger Zweck es ist, gegen die Tötungs­in­stru­men­te eines ande­ren Staa­tes ein­ge­setzt wer­den. Eigent­lich ist das nicht schwer zu begrei­fen. Schon Horaz jedoch tat sich bekannt­lich schwer damit, wes­halb er sein bescheu­er­tes »dul­ce et decorum est pro patria mori« (»süß und ehren­voll ist’s, für’s Vater­land zu ster­ben«) dich­te­te. Gewiss gibt es Men­schen, die blöd genug sind zu glau­ben, dass sie für ein »Vater­land« (was immer das sein mag) ihr Leben auf dem Feld der Ehre las­sen müs­sen. Denen ist nicht zu hel­fen. Aber sich aus lau­ter Dumm­heit erschie­ßen zu las­sen und ande­re zu töten, sind zwei voll­kom­men ver­schie­de­ne Paar Stie­fel. Nimmt man Kants Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­bot ernst, dann ist klar, dass alle Regie­run­gen, die sog. Streit­kräf­te unter­hal­ten, dage­gen ver­sto­ßen. Und das ist abso­lut ver­ab­scheu­ungs­wür­dig und verwerflich.

Alle Regie­run­gen recht­fer­ti­gen sich damit, dass nicht sie, son­dern der böse Feind die bösen Absich­ten hege und der Aggres­sor sei. Alle Regie­run­gen haben das glei­che Nar­ra­tiv. Die Fra­ge steht also im Raum, ob Regie­run­gen ver­trau­ens­wür­dig sind. Demo­kra­ti­sche Regie­run­gen (und auch die mei­sten Medi­en in sog. demo­kra­ti­schen Staa­ten) behaup­ten, dass es dies­be­züg­lich einen Unter­schied zwi­schen ihnen und dik­ta­to­ri­schen Regie­run­gen gebe. Sie wür­den schließ­lich von der Oppo­si­ti­on kon­trol­liert. Nun hat aber die Oppo­si­ti­on erstens nicht immer die Mög­lich­keit, als geheim dekla­rier­te Vor­gän­ge effek­tiv zu kon­trol­lie­ren (wenn über­haupt, dann erst vie­le Jah­re spä­ter z.B. in einem Unter­su­chungs­aus­schuss, wenn die Sache längst über die Büh­ne ist und die Akten trotz­dem geschwärzt sind), und zwei­tens gibt es in Sachen »Lan­des­ver­tei­di­gung« sel­ten eine Oppo­si­ti­on, denn dann kennt man wie Wil­helm II. »kei­ne Par­tei­en mehr« man kennt »nur Deut­sche« (bzw. nur Ame­ri­ka­ner, Rus­sen, Ukrai­ner, Chi­ne­sen usw.). Dass demo­kra­ti­sche Staa­ten kei­nes­wegs ver­trau­ens­wür­di­ger sind als ande­re, hat Han­nah Are­ndt in ihrem Essay »Die Lüge in der Poli­tik« von 1971 (wie­der abge­druckt im Buch Wahr­heit und Lüge in der Poli­tik, 1987) gezeigt. In des­sen Anfang geht es um die Pen­ta­gon-Papie­re, das sind 7000 Sei­ten gehei­me Doku­men­te, die von Dani­el Ellsberg ille­gal kopiert und der New York Times zuge­spielt wur­den, die deren Inhalt 1971 ver­öf­fent­lich­te. Aus ihnen erfuh­ren die Ame­ri­ka­ner, dass sie über Jah­re hin von ihrer Regie­rung über deren Kriegs­zie­le in Viet­nam knall­hart belo­gen wur­den. Beim Irak­krieg 2003 war es nicht anders. Er beruh­te auf einer Lüge, und die am Krieg betei­lig­ten bri­ti­schen und ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten haben sich damals in unver­ant­wort­li­cher Wei­se von Blair und Bush zu Tötungs­in­stru­men­ten ihrer Regie­run­gen machen las­sen, von denen sie schlicht betro­gen wur­den. 2003 war sogar der US-Außen­mi­ni­ster Colin Powell, der im UN-Sicher­heits­rat »Bewei­se« dafür prä­sen­tier­te, dass Irak über Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen ver­fü­ge, von sei­nen eige­nen Geheim­dien­sten belo­gen wor­den. (Für sei­nen UN-Auf­tritt ent­schul­dig­te er sich Jah­re spä­ter, was bemer­kens­wert ist, weil man sol­che Grö­ße von Polit­kern sonst nicht kennt.)

Der nai­ve Glau­be, dass demo­kra­tisch gewähl­te Regie­run­gen weni­ger zur Lüge nei­gen oder auch nur weni­ger erfolg­reich dabei sei­en als auto­kra­ti­sche oder dik­ta­to­ri­sche Herr­scher, ist lächer­lich und eine gro­be Fahr­läs­sig­keit. Ver­trau­en ist sel­ten unpro­ble­ma­tisch. Kin­der haben not­wen­di­ger­wei­se ein nicht hin­ter­frag­tes Ver­trau­en zu ihren Eltern. Nicht weni­ge Regie­run­gen aber glau­ben, die Bür­ger müss­ten ihnen so ver­trau­en, wie Kin­der ihren Eltern. Sie glau­ben, die Bür­ger »an die Hand neh­men«, bei irgend­et­was (Geset­zes­vor­ha­ben, Pro­jek­ten usw.) »mit­neh­men« zu müs­sen. Die­se pater­na­li­sti­sche Ein­stel­lung von Regie­ren­den ent­hält impli­zit und unaus­ge­spro­chen eine Ent­mün­di­gung der Bür­ger, die manch­mal den letz­te­ren so wenig bewusst wird wie den Erste­ren, und spricht eher dafür, Regie­run­gen kei­nes­falls zu ver­trau­en. Gewiss kann man nicht in per­ma­nen­tem Miss­trau­en leben, auch nicht in per­ma­nen­tem Miss­trau­en gegen die Regie­rung. Aber das Ver­trau­en gegen jede Regie­rung hat eine abso­lu­te Gren­ze und endet defi­ni­tiv dort, wo die­se bean­sprucht, Men­schen das Töten befeh­len und sie zu Tötungs­in­stru­men­ten machen zu dürfen.

Der ein­zel­ne Sol­dat kann nie­mals über­prü­fen, ob er von sei­ner Regie­rung belo­gen wird. Und oft genug sind Sol­da­ten auch, wie gezeigt, von demo­kra­ti­schen Regie­run­gen belo­gen wor­den. In Deutsch­land wird ger­ne als Argu­ment ins Feld geführt, dass die Bun­des­wehr eine »Par­la­ments­ar­mee« sei, dass also nicht ein König, ein Füh­rer, ein Prä­si­dent, ein ein­zel­ner Herr­scher den »Schieß­be­fehl« ertei­le, son­dern – als Reprä­sen­tant des Sou­ve­räns – das vom Volk gewähl­te Par­la­ment, das durch die Ver­fas­sung über die »Fest­stel­lung des Ver­tei­di­gungs­falls« zu die­sem Befehl legi­ti­miert sei. Das Argu­ment taugt nichts. Zwar scheint das Grund­ge­setz im mit »Fest­stel­lung des Ver­tei­di­gungs­falls« über­schrie­be­nen Arti­kel 115a um aller­lei Vor­keh­run­gen bemüht, den Miss­brauch die­ses Falls aus­zu­schlie­ßen. Dass Deutsch­land ange­grif­fen ist, muss der Bun­des­tag mit Zwei­drit­tel­mehr­heit und Zustim­mung des Bun­des­rats fest­stel­len; wenn kei­ne Zeit dazu ist, dann der gemein­sa­me Aus­schuss. Im äußer­sten Not­fall (Absatz 4) gilt: »Wird das Bun­des­ge­biet mit Waf­fen­ge­walt ange­grif­fen und sind die zustän­di­gen Bun­des­or­ga­ne außer­stan­de, sofort die Fest­stel­lung nach Absatz 1 Satz 1 zu tref­fen, so gilt die­se Fest­stel­lung als getrof­fen und als zu dem Zeit­punkt ver­kün­det, in dem der Angriff begon­nen hat.« Die Fra­gen, wer die Ent­schei­dung trifft, dass »die zustän­di­gen Bun­des­or­ga­ne außer­stan­de« sind, den Ver­tei­di­gungs­fall fest­zu­stel­len, und wer damit die Fest­stel­lung »als getrof­fen« gel­tend erklärt, wer den »Zeit­punkt« fest­stellt, »in dem der Angriff begon­nen hat«, blei­ben unbe­ant­wor­tet, weil sie ohne Selbst­wi­der­spruch gar nicht beant­wor­tet wer­den kön­nen. Aber irgend­je­mand (der vom Grund­ge­setz logi­scher­wei­se nicht benannt wer­den kann) muss die­se Ent­schei­dung ja tref­fen. Jemand muss die Sol­da­ten an die Front schicken, sonst fin­det die »Ver­tei­di­gung« nicht statt. Ent­schei­dun­gen wer­den immer – auch im Aus­nah­me­zu­stand – von Per­so­nen getrof­fen. Wer über den Aus­nah­me­zu­stand ent­schei­det, ist – so die berühm­te Defi­ni­ti­on von Carl Schmitt – der Sou­ve­rän. Auch wenn man sei­nen Namen nicht kennt. All die schein­bar beru­hi­gen­den Vor­keh­run­gen in der Ver­fas­sung kön­nen also der Mög­lich­keit des Betrugs der Öffent­lich­keit hin­sicht­lich eines Kriegs­zu­stan­des offen­sicht­lich nicht vor­beu­gen. Denn auch ein Par­la­ment kann belo­gen wer­den. Bei der Ver­ding­li­chung von Men­schen zu Tötungs­zwecken gibt es kei­nen Unter­schied zwi­schen Demo­kra­tien und Diktaturen.

Was folgt aus alle­dem rein logisch zwin­gend – oder, um es mit Haber­mas zu sagen, durch den »zwang­lo­sen Zwang des bes­se­ren Argu­ments«? Man muss als ver­nünf­tig den­ken­der Mensch jeder Regie­rung das Recht abspre­chen, Men­schen zu einem Waf­fen­dienst zu zwin­gen. Man muss jedem Men­schen das Recht abspre­chen, frei­wil­lig für eine Regie­rung Waf­fen­dienst zu lei­sten. Berufs­sol­da­ten sind kein Jota bes­ser als pri­mi­ti­ve Söld­ner, die wie Kil­ler bereit sind, für Geld zu töten. Sie glau­ben nur, sie sei­en bes­ser, weil sie ihre Tötungs­in­ten­ti­on durch eine angeb­li­che Vater­lands­lie­be über­hö­hen. Aber auch Patrio­tis­mus ist (zumal in dis­kurs­ethi­scher Per­spek­ti­ve) eine nie­de­re Gesin­nung. Man ist näm­lich einem Men­schen der glei­chen Natio­na­li­tät nicht mehr schul­dig als irgend­ei­nem ande­ren Men­schen auf der Welt. Wer das nicht ein­se­hen will, dis­qua­li­fi­ziert sich gei­stig selbst. Es gibt nur Men­schen auf die­sem Pla­ne­ten, denen wir allen glei­cher­ma­ßen ver­pflich­tet sind. Die Nati­on ist kein Wert. Der Glau­be an sie ist eine Form von Schwachsinn.

Fazit: Kein Staat hat das Recht, Men­schen zu einem Waf­fen­dienst so zu instru­men­ta­li­sie­ren, dass sie für ihn töten. Kein Mensch hat das Recht, sich sel­ber für Tötungs­zwecke eines Staa­tes (sei es als Söld­ner, sei es als Berufs­sol­dat) zu instru­men­ta­li­sie­ren oder instru­men­ta­li­sie­ren zu las­sen. In Staa­ten mit »Wehr­pflicht« ist es ethisch abso­lut gebo­ten, sich ihr zu ent­zie­hen; dort, wo es mög­lich ist, durch gesetz­lich erlaub­te »Wehr­dienst­ver­wei­ge­rung« oder (wo dies nicht mög­lich ist oder wo die Ver­wei­ge­rung nicht akzep­tiert wird) durch Deser­ti­on, auf gut Deutsch: Fah­nen­flucht. Das heißt: Deser­ti­on ist (ganz im Gegen­satz etwa zum deut­schen Straf­ge­setz­buch) aus ethi­schen Grün­den immer rich­tig. Ein Staat, der – wie die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land – Deser­ti­on bestraft, ist ergo als ethisch ver­werf­lich ein­zu­stu­fen. Quod erat demon­stran­dum. Ob Pisto­ri­us, Scholz und Kon­sor­ten fähig und wil­lens sind, das zu begrei­fen, darf bezwei­felt werden.