Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert in Artikel 4,3: »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« Diese Formulierung lässt leicht übersehen, dass auch derjenige eine Gewissensentscheidung zu treffen hat, der sich für den Dienst mit der Waffe entscheidet, denn Kants Kritik der praktischen Vernunft, seine Frage nach dem: Was soll ich tun? läuft darauf hinaus, dass für jegliches menschliche Handeln das je eigene Gewissen den Maßstab bildet und setzt, also auch für das soldatische Handeln.
Wer seine Gewissensentscheidung gegen den Dienst im Militär trifft, bringt damit zum Ausdruck, dass er der Bewahrung des menschlichen Lebens oberste Priorität beimisst. Das Gebot: »Du sollst nicht töten« besitzt für den Fundamentalpazifisten absolute Gültigkeit, deshalb verweigert er sich dem militärischen Dienst mit der Waffe. Doch inwiefern vermag eine solche Position den Anforderungen logischer Konsistenz und praktischer Verbindlichkeit zu genügen?
Gegen die Hypostasierung des Lebensrechtes lässt sich zunächst unter dem Aspekt logischer Konsistenz argumentieren. Zu diesem Zweck ist von folgender Situation auszugehen: Eine Person, Ego, wird von einer anderen Person, Alter, mit der Absicht, Ego zu töten, angegriffen. Ego steht vor der Alternative:
- den Angriff von Alter wehrlos hinzunehmen und getötet zu werden;
- sich zu wehren und dabei in Kauf zu nehmen, Alter durch seine Gegenwehr zu verletzen oder gar zu töten.
Sein Gewissen, das den absoluten Schutz des menschlichen Lebens postuliert, sagt dem Fundamentalpazifisten: Handelt Ego nach Alternative 2, so begeht er ein Unrecht, da er Alters Recht auf Leben missachtet. Daraufhin zieht der Fundamentalpazifist folgenden disjunktiven Schluss: Wenn Egos Handeln nach der Alternative 2 ein Unrecht begehen heißt, so bedeutet sein Handeln nach Alternative 1 Recht tun. Seine gesinnungsethische Position gebietet also dem Fundamentalpazifisten, das Recht Alters auf Leben zu wahren und sich gegen den Angriff nicht zur Wehr zu setzen.
Der logische Fehler, den er dabei jedoch begeht, liegt in der Tatsache begründet, dass Ego mit der Handlungsalternative 1 ebenfalls das Recht auf Leben missachtet, in diesem Fall jedoch sein eigenes – denn wenn das Recht auf Leben absoluten Schutz genießt, dann muss darin zwingend der Schutz des Lebens Egos eingeschlossen sein. Mit dieser Begründung stellt Handeln gemäß der Handlungsalternative 1 ein Unrecht dar.
Daraus resultiert die logische Unhaltbarkeit der Position des Fundamentalpazifisten, der für die Alternative 1 optiert, da seine Begründung gegen das principium contradictionis, den Satz des Widerspruchs, verstößt: Ein und dieselbe Handlung kann nicht zugleich Recht und Unrecht sein. Die implizite Prämisse in der Argumentation des Fundamentalpazifisten lautet nämlich: Das Leben Alters ist wertvoller als das Leben Egos. Diese Entscheidung ist jedoch zum einen dezisionistisch und deshalb nicht begründbar und zum anderen gefährlich, weil damit ein differentes Recht auf Leben postuliert und menschliches Leben nach lebenswert und lebensunwert eingestuft wird. Als Zwischenergebnis der logischen Analyse der Position des Fundamentalpazifisten lässt sich festhalten, dass diese rationalen Kriterien nicht standhält.
Andererseits gilt es jedoch zu zeigen, inwiefern sich anhand derselben rationalen Kriterien die Position desjenigen begründen lässt, der sich zur Wahl der Handlungsalternative 2 entscheidet, also zur Verteidigung gegen einen Angriff unter Inkaufnahme der eventuellen Tötung des Angreifers. Eine Betrachtung unter der Perspektive des Rechts auf Leben allein kann die Legitimität dieser Handlungsalternative nicht begründen, denn warum sollte Ego wiederum Alters Leben zum Schutze seines eigenen opfern dürfen? Um die Legitimität der Handlungsalternative 2 zu begründen, muss man auf den Kategorischen Imperativ Kants rekurrieren. Demgemäß sind Handlungen, die sich in Übereinstimmung mit jenem befinden, also dem Prinzip nach universalisierbar sind, rechtmäßig, während Handlungen, die gegen das Prinzip der Universalisierbarkeit verstoßen, Unrecht darstellen. Mit Hilfe dieses Instrumentariums lässt sich für die zuvor beschriebene Situation die legitime Handlungsalternative deduzieren: Alters Handeln, nämlich der Angriff auf Ego mit dem Ziel, diesen zu töten, folgt der Maxime: Jeder beliebige darf jeden beliebigen anderen jederzeit töten, wenn dies zur Realisation seiner beliebigen Handlungszwecke notwendig ist. Diese Maxime zum allgemeinen Gesetz erhoben, verstieße jedoch gegen die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit, da die Möglichkeit, jederzeit jeden beliebigen aus jedem beliebigen Grunde zu töten, auch die Möglichkeit impliziert, jederzeit durch jeden beliebigen aus jedem beliebigen Grunde getötet zu werden, also einer derartigen Maxime ein Wille zugrunde liegt, der sich selbst aufhebt und somit widersprüchlich ist.
Empirisch betrachtet gilt, dass die Ausübung des Rechtes auf Freiheit an menschliche Handlungssubjekte gebunden ist, weshalb jene Freiheit nur garantiert sein kann, wenn auch das Leben der Handlungssubjekte garantiert wird. Ohne das Recht auf Leben bleibt das Recht auf Freiheit eine Fiktion. Auch deshalb stellt ein willkürlicher Angriff auf das Leben eines anderen ein Unrecht dar. Als zweites Zwischenergebnis resultiert aus vorstehenden Überlegungen, dass Alters Angriff auf Ego ein Unrecht impliziert.
Schließlich bleibt noch zu zeigen, weshalb Egos Verteidigung gegen Alters Angriff kein Unrecht darstellt, selbst wenn sie unter Inkaufnahme der eventuellen Tötung Alters erfolgt. Egos Handeln folgt der generellen Maxime: Wenn jemand in illegitimer Weise jemandes anderen Handlungsfreiheit einschränkt, so ist es gerechtfertigt, ihn unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit von intendiertem Ziel und selektierten Mitteln an diesem Unrechtsakt zu hindern. Diese Maxime erfüllt die Kondition der Universalisierbarkeit, ist also als allgemeines Gesetz gemäß den Maßgaben des kategorischen Imperativs denkbar, da nur dessen Freiheit eingeschränkt und dessen Leben gefährdet wird, der selbst auf illegitime Weise die Freiheit eines anderen einschränkt und auf illegitime Weise das Leben eines anderen bedroht. Die Differenz im Handeln Egos und Alters besteht demzufolge darin, dass Alter durch sein Handeln gegen die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit verstößt und damit unrecht handelt, während Ego mit seinem Handeln jene Bedingungen einhält und somit rechtens handelt.
Als Konklusion der Analyse unter rechts- und moralphilosophischen Aspekten lässt sich festhalten, dass die Position desjenigen, der bereit ist, sich gegen illegitime Aggressionsakte notfalls auch unter Einschluss tödlicher Gewaltanwendung zu verteidigen, den Kriterien des Kategorischen Imperativs zu genügen vermag, während eine fundamentalpazifistische Haltung unvermeidbar inkonsistent und in sich widersprüchlich bleibt.
Diese Schlussfolgerung gilt nicht allein für das Problem der Notwehr, sondern mutatis mutandis auch im Hinblick auf den Komplex der Nothilfe. Das bedeutet, dass derjenige, der einem Dritten, welcher Ziel einer illegitimen gewalttätigen Aggression geworden ist, gewaltsam Hilfe leistet, ebenso gemäß dem Kriterium der Universalisierbarkeit handelt, wie der, welcher sich selbst verteidigt. Auf den Umstand, dass nicht nur ein illegitimer Aggressor Schuld auf sich lädt, sondern auch derjenige, der eine solche Aggression geschehen lässt, ohne dagegen einzuschreiten, verwies bereits Ambrosius von Mailand, ein Kirchenvater aus dem 4. Jhd., als er konstatierte: »Wer nicht gegen das Unrecht, das seinem Nächsten droht, soweit er kann, kämpft, ist ebenso schuldig, wie der, der es diesem antut.«
Indessen gilt der im Hinblick auf die moralisch-praktische und zugleich juridische Legitimität des Notwehr- und Nothilferechts vorstehend dargelegte Begründungs-nexus keineswegs bloß für das Individuum als einzelnes Rechtssubjekt, sondern gleichermaßen auf der Ebene der Staaten als kollektiver Rechtssubjekte. Zwar geißelt Kant bereits 1795 in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« angesichts der inhärenten Gefahren den Wahnsinn des permanenten Rüstungswettlaufs und verurteilt überdies die Praxis der Berufsarmeen, durch die ihre jeweiligen Angehörigen zu Objekten resp. Vollzugsorganen der Herrschaftsinteressen der jeweils Mächtigen im Staate verdinglicht werden – dessen ungeachtet bekräftigt er freilich expressis verbis ein Vernunftrecht des Staates und seiner Bürger auf Selbstverteidigung, nämlich dergestalt, mit Hilfe »der freiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der Staatsbürger in Waffen (…), sich und ihr Vaterland (…) gegen Angriffe von außen zu sichern«. Eine militärisch organisierte individuelle und kollektive Verteidigung, beispielsweise in Gestalt einer Milizarmee, ist folglich keineswegs inkompatibel mit jener auf den Kategorien reiner praktischer Vernunft basierenden, kategorisch-imperativen Weltfriedensordnung, wie Immanuel Kant sie bereits vor mehr als 200 Jahren dargelegt hat – und schon gleich gar nicht bedingt letztere einen prinzipiellen, umfassenden Gewaltverzicht oder gar einen fundamentalpazifistischen Habitus.
Exakt diese Erkenntnis spiegelt sich in den kodifizierten Normen des Völkerrechts wider, das schon von Beginn seiner Entstehung an das Recht eines Staates auf Verteidigung seiner territorialen Integrität, seiner Souveränität und seines Staatsvolkes stipuliert. Dementsprechend heißt es in der Satzung der Vereinten Nationen (SVN), die, seit sie 1945 in San Francisco von der Staatengemeinschaft verabschiedet wurde, den grundlegenden, universal gültigen völkerrechtlichen Normenkodex definiert: »Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.«
Auf der Ebene des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ist vorgenannte Völkerrechtsnorm wiederum maßgeblich für die Exegese des im Grundgesetz zugrunde gelegten Verteidigungsbegriffs, wonach, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Bundeswehreinsatz vom 12. Juli 1994 darlegte, gemäß Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG der Bund »Streitkräfte zur Verteidigung« aufstellt. Die eindeutige, umfassende und zugleich erschöpfende Klarstellung, wie denn der Verteidigungsbegriff des Grundgesetzes nach Art. 87a zu interpretieren ist, nahm das Bundesverwaltungsgericht in einem epochalen Urteil zur Gewissensfreiheit von Soldaten der Bundeswehr im Jahre 2005 vor. Damals konstatierten die Richter unmissverständlich: »Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von ›Verteidigung‹, jedoch – anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung – nicht von ›Landesverteidigung‹ spricht und da zudem der verfassungsändernde Gesetzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im Rahmen eines Nato-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist davon auszugehen, dass ›Verteidigung‹ alles das umfassen soll, was nach dem geltenden Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (…) zu rechnen ist.« Damit haben die Bundesverwaltungsrichter klargestellt, dass der Einsatz deutscher Streitkräfte zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung – also zur Notwehr ebenso wie zur Nothilfe – völkerrechts- und verfassungskonform ist.
Obgleich das Grundprinzip staatlich organisierter militärischer Verteidigung in der Bundesrepublik Deutschland seine letztinstanzliche Bestätigung erst mit jenen beiden höchstrichterlichen Urteilen gefunden hat, normierte es doch bereits in der Gründungsphase den Auftrag der neuen Bundeswehr. So firmierte schon das im Oktober 1950 im Eifelkloster Himmerod entstandene Gründungsdokument der neu zu schaffenden deutschen Streitkräfte unter dem programmatischen Rubrum »Denkschrift des militärischen Expertenausschusses über die Aufstellung eines deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas«. Als in der Folgezeit dann der General, Friedensforscher und Militärphilosoph Wolf Graf von Baudissin seine Konzeption von der »Inneren Führung« entwickelte, sah er die Existenzberechtigung von Militär schlechthin untrennbar verknüpft mit dessen strikt defensiver Ausrichtung, als er postulierte: »Welches sind nun die Aufgaben der Streitkräfte? Wir haben ernsthaft und redlich umzudenken und uns bewusst zu machen, dass der Soldat in allererster Linie für die Erhaltung des Friedens eintreten soll; denn im Zeitalter des absoluten Krieges mit seinen eigengesetzlichen, alles vernichtenden Kräften gibt es kein politisches Ziel, welches mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf und kann – außer der Verteidigung gegen einen das Leben und die Freiheit zerstörenden Angriff.« Ein offensiver Gebrauch von Streitkräften oder gar ihre Verwendung in aggressiver Manier schied für Baudissin im Rahmen seiner Konzeption der »Inneren Führung« daher kategorisch aus.