Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

»Wer nicht hören will, wird bestreikt«

… so der Titel eines Erin­ne­rungs­buchs vol­ler leben­di­ger Geschich­ten aus vie­len Arbeits­kämp­fen seit 1979, die Jür­gen Hin­zer, der muti­ge, streit­ba­re Gewerk­schafts­se­kre­tär der NGG in Frank­furt, vier­zig Jah­re lang und noch bis heu­te uner­müd­lich geführt hat. Die schon 140 Jah­re alte, aber rela­tiv klei­ne Gewerk­schaft der Nah­rungs-, Genuss- und Gast­stät­ten­bran­che ope­rier­te deutsch­land­weit in einst über­wie­gend klei­nen und mit­tel­stän­di­schen Betrie­ben, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten zuneh­mend unter den Druck der mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­ne gerie­ten: von Braue­rei­en und Mol­ke­rei­en, Back­wa­ren­be­trie­ben, Hotel­le­rie, Cate­ring-Fir­men und Auto­bahn-Rast­stät­ten bis zu Coca-Cola-Fabri­ken. Heu­te agiert sie auch in den neu­en Berei­chen der Rider und Dri­ver von Lie­fer­dien­sten oder bei den Beschäf­tig­ten der Schlachthäuser.

Der 1948 in einem Flücht­lings­la­ger gebo­re­ne Hin­zer wuchs im Aache­ner Koh­le­re­vier auf und mach­te schon als 14-Jäh­ri­ger eine Mau­rer­leh­re, lern­te dann in der Bun­des­ju­gend­schu­le des DGB, von den 68ern um Wolf­gang Abend­roth und von Jakob Mone­ta. 1976 schloss er ein Stu­di­um an der Hoch­schu­le für Wirt­schaft und Poli­tik in Ham­burg erfolg­reich ab. Er ver­fügt also über vie­le Fähig­kei­ten und Talen­te – vor allem ver­steht er es, mit Empa­thie auf ande­re Men­schen zuzu­ge­hen. Und so wur­de er als Streik­be­auf­trag­ter an vie­le Orte geru­fen und orga­ni­sier­te ins­ge­samt 153 Arbeits­kämp­fe – ein Rekord!

Nicht sel­ten muss­te er vor Ort erst für die Ein­rich­tung gewerk­schaft­li­cher Ver­tre­tun­gen sor­gen, um dann zusam­men mit den Beschäf­tig­ten Tarif­ver­hand­lun­gen für kür­ze­re Arbeits­zei­ten und bes­se­re Löh­ne unter­stüt­zen zu kön­nen. Nicht immer mit lang­fri­sti­gem Erfolg, aber meist mit der Schaf­fung eines Bewusst­seins bei den­je­ni­gen, die für ihre Rech­te gekämpft und mit­ein­an­der Soli­da­ri­tät prak­ti­ziert hatten.

Berich­te aus der Welt der Arbeit sind ja abso­lut unter­re­prä­sen­tiert nicht nur in der bun­des­deut­schen Lite­ra­tur – wenn man von den Ansät­zen der 60er und 70er Jah­re absieht –, sie kom­men auch in der All­ge­mein­kul­tur eigent­lich nicht vor. So ist es allein schon inter­es­sant, durch die 224 Sei­ten die­ses mit vie­len Fotos reich doku­men­tier­ten Mate­ri­als zu blät­tern, das Claus-Jür­gen Göp­fert, lang­jäh­ri­ger Redak­teur der Frank­fur­ter Rund­schau, fach­män­nisch zusam­men­ge­tra­gen hat und damit in drei­ßig Kapi­teln kur­ze Ein­blicke gibt in den All­tag von Mil­lio­nen Menschen.

Da ist z. B. ein Bericht über den ersten Soli­da­ri­täts­streik für die 35-Stun­den-Woche, der Anfang der 80er Jah­re auch bei der Nest­lé-Toch­ter Eurest am Frank­fur­ter Flug­ha­fen von Jür­gen Hin­zer und Man­fred Mara­sek als erster Warn­streik initi­iert wur­de. Bei die­ser zu den größ­ten Cate­rern Euro­pas zäh­len­den Fir­ma gab es bis dahin kei­nen Betriebs­rat, und sie beschäf­tig­te ent­spre­chend vie­le Migran­ten als soge­nann­te Nied­rig­löh­ner. Dort grif­fen die bei­den Gewerk­schaf­ter ein und klär­ten die Aus­län­der über ihre Rech­te auf. Der DGB hat­te bereits bun­des­weit die Losung für die 35-Stun­den-Woche aus­ge­ge­ben, und 1984 gelang mit dem Errei­chen von 38,5 Std. end­lich der Ein­stieg in die Arbeits­zeit­ver­kür­zung, zunächst in der Metall- und Druckindustrie.

Seit­dem sind vier Jahr­zehn­te ver­gan­gen und der Anspruch, die­ses Ziel auch in ande­ren Berei­chen end­lich durch­zu­set­zen, ist wohl nicht ver­früht. Das wird der­zeit von den Ein­zel­ge­werk­schaf­ten der Lok­füh­rer der Deut­schen Bahn, im Luft­ver­kehr und im öffent­li­chen Bereich auch ver­sucht, wo Arbeits­nie­der­le­gun­gen die All­ge­mein­heit stär­ker tan­gie­ren als ein­zel­ne Fabrik­kämp­fe. Doch macht der Blick zurück auch deut­lich, wie stark sich die Arbeits- und Kampf­be­din­gun­gen ver­än­dert haben – Kri­se und Infla­ti­on stel­len die Ideo­lo­gie der Sozi­al­part­ner­schaft zuneh­mend in Fra­ge, und der soge­nann­te Fach­kräf­te­man­gel stärkt den Beleg­schaf­ten den Rücken. Bei vie­len aus­ste­hen­den Tarif­ab­schlüs­sen sind aber neue Arbeits­kämp­fe ange­sagt, vor­her­seh­ba­re Ver­än­de­run­gen in der Pro­duk­ti­on schaf­fen Äng­ste, und oft nimmt die Ver­ein­ze­lung zu.

Gera­de die Gefahr des Abbaus von Pro­duk­ti­ons­stand­or­ten stell­te und stellt zuneh­mend eine Her­aus­for­de­rung für die davon Betrof­fe­nen dar, in einer glo­ba­li­sier­ten Arbeits­welt mit wach­sen­der Ratio­na­li­sie­rung und Pre­ka­ri­sie­rung. In sol­chen Situa­tio­nen waren und sind die Arbeits­kämp­fe durch­aus nicht immer erfolg­reich, aber Hin­zer konn­te die Men­schen moti­vie­ren, ihre Rech­te zu erken­nen und nicht zu resi­gnie­ren, son­dern aktiv zu wer­den. Er hat über Jahr­zehn­te gera­de in der Pro­vinz, wo die Ver­hält­nis­se oft patri­ar­cha­lisch zemen­tiert schie­nen, vie­les ver­än­dert und gilt als ein wirk­li­cher Pio­nier der bun­des­deut­schen Arbeiterbewegung.

Jür­gen Hin­zer ließ es sich auch nicht neh­men, sogar bei Urlaubs­rei­sen ins Aus­land Kon­takt zu dor­ti­gen Arbeits­kämp­fen auf­zu­neh­men und bera­tend ein­zu­grei­fen. Auf die­se Wei­se prak­ti­zier­te er sei­nen »Inter­na­tio­na­lis­mus kon­kret«, so 2005 in Süd­frank­reich, als er mit Düs­sel­dor­fern Gate Gour­met-Strei­ken­den aus der NGG über Nacht anrei­ste, um die fran­zö­si­schen Kol­le­gen in einer von Schlie­ßung bedroh­ten Nest­lé-Toch­ter zu unter­stüt­zen. In Deutsch­land wur­de der Streik der Düs­sel­dor­fer Gate-Gour­met-Beschäf­tig­ten gegen ihren US-ame­ri­ka­ni­schen Arbeit­ge­ber, den Invest­ment­fonds Texas Paci­fic Group, mit sechs Mona­ten Dau­er zum läng­sten der NGG-Geschich­te und fand viel pro­mi­nen­te Unter­stüt­zung, vom DGB-Vor­sit­zen­den Micha­el Som­mer über Oskar Lafon­taine bis zum spä­te­ren Rats­vor­sit­zen­den der Evan­ge­li­schen Kir­che der BRD, Niko­laus Schnei­der. Der warn­te damals vor dem wach­sen­den Ein­fluss mul­ti­na­tio­na­ler Kon­zer­ne und der damit ein­her­ge­hen­den Gefähr­dung demo­kra­ti­scher Strukturen.

Horst Schmit­t­hen­ner, lang­jäh­ri­ger Vor­sit­zen­der der IG-Metall, erwähn­te in einem Inter­view, das Göp­fert 2023 mit ihm führ­te, wie er Hin­zer in den frü­hen 90er Jah­ren – bei der Kam­pa­gne »Fünf vor zwölf« – ken­nen­ge­lernt hat­te, die gegen den dro­hen­den Sozi­al­ab­bau als Fol­ge der deut­schen Ein­heit pro­te­stier­te. Und er unter­stütz­te Hin­zer immer wie­der vie­ler­orts mit wich­ti­gen Soli­da­ri­täts­adres­sen der IG-Metall, so auch bei dem Streik in der Dorint-Hotel­le­rie in Wies­ba­den wäh­rend der zwei­tä­gi­gen Tagung der Nato-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster der EU (Ende Febru­ar 2007), als Hin­zer medi­en­wirk­sam erklär­te, dann müss­ten »die Kriegs­mi­ni­ster ihre Bet­ten halt selbst machen«. Er ließ die Strei­ken­den mit lau­ten inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­täts­lie­dern durch die Innen­stadt zie­hen. Ob sowas nicht auch Ärger pro­vo­ziert habe inner­halb der IG-Metall? Ja auch, so Schmit­t­hen­ner, aber: »Einer muss auf den Tisch hau­en im Sin­ne einer kla­ren kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Posi­ti­on.« Eine sol­che hat Hin­zer immer wie­der Kraft und mehr­heit­lich Zuspruch ver­lie­hen. Denn in den Zei­ten des inter­na­tio­na­len Tur­bo-Kapi­ta­lis­mus bleibt der Kampf gegen die Ver­hält­nis­se aktu­ell und wich­ti­ger denn je. »Streiks sind kei­ne Folk­lo­re aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, auch kei­ne ein­fa­chen Demon­stra­tio­nen, denn sie zei­gen ganz prak­tisch, wer die eigent­li­che Arbeit macht«, schreibt Fred­dy Adjan im Vor­wort des Buches, ihre Orga­ni­sie­rung erfor­de­re viel Arbeit, denn »Streiks fal­len nicht vom Him­mel«, wie Jür­gen Hin­zer es aus­drückt. Nicht der Erfolg vor den Schran­ken des Arbeits­ge­richts sei ent­schei­dend, son­dern der »wirk­sa­me Streik in den Betrie­ben«, sagt er, »nur der übe wirk­li­chen Druck aus, der am Ende auch zum Erfolg füh­re. Und bei Aktio­nen müs­sen die Gewerk­schaf­ter vor­an­ge­hen und ein posi­ti­ves Bei­spiel geben. Sie müs­sen die ersten sein, die sich vors Tor der Fabrik set­zen, um den Last­wa­gen den Weg zu ver­sper­ren.« Und Hin­zer ist – mit vie­len Mit­strei­tern – noch immer mittendrin.

Claus-Jür­gen Göp­fert, Andrea Wen­zek: »Wer nicht hören will, wird bestreikt!« Jür­gen Hin­zers Arbeits­kampf­ge­schich­ten in der Gewerk­schaft NGG seit 1979, VSA, Ham­burg 2023, 224 S., 16,80 €. Näch­ste Lesun­gen mit Dis­kus­si­on in: Leip­zig, 23. März, Volks­haus, 17 Uhr; Zwickau, 27. März 2024, DGB-Haus, 18 Uhr; Wies­ba­den, 9.April 2024, Georg-Buch-Haus, 18.30 Uhr; Aachen, 25. April, VHS, 19 Uhr.